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Rainer Oberthür: Die Gottsucher
Es ist eine der schönsten und einflussreichsten Schriften aus dem Mittelalter: das Buch der 24 Philosophen. Von wem, wo und wann genau dieses anregende Werk geschrieben wurde, wissen wir nicht. Im Mittelalter und weit darüber hinaus wurde es Hermes Trismegistos zugeschrieben, dem Dreimalgrößten. Der soll in grauer Vorzeit gelebt und sowohl von Mose wie von Platon seine Weisheit erhalten haben. Jedenfalls galt er Jahrhunderte lang als Repräsentant jenes uralten Menschheitswissens, das Adam selbst von Gott erhalte habe. Tatsächlich aber ist Hermes Tresmegistos eine literarische Fiktion, die man erfand, um neuplatonisierende Texte der Spätantike in die Ursprungszeit der Menschheit zu verlegen.
Thematisch geht es um nichts Geringeres als um Gott. Was oder wen meinen wir, wenn wir „Gott“ sagen? 24 Philosophen versuchen, diese Frage thesenartig zu beantworten. So wird Gott vierundzwanzigfach umschrieben, um ihn schließlich als den Undefinierbaren zu erkennen. Rainer Oberthür, Dozent für Religionspädagogik am Katechetischen Institut des Bistums Aachen, greift diese 24 Sätze über Gott aus dem Mittelalter auf. Er lässt sich von ihnen ansprechen und anregen, neu über Gott nachzudenken und mit anderen von Gott und über ihre Gottesvorstellungen zu sprechen.
Seine Ergebnisse fasst er im vorliegenden Buch zusammen. Genauer: Er gibt jeweils auf der linken Buchseite der Reihe nach einen der 24 Sätze der mittelalterlichen Denker wieder: meistens in wörtlicher Übersetzung, mitunter auch in leichter Variation, immer aber farblich ansprechend gestaltet. Auf den nächsten Seiten fügt er weitere Umschreibungen Gottes an, die, thesenartig formuliert, in gedanklich weniger engem als vielmehr in locker-assoziativem Zusammenhang mit jenem auf der linken Buchseite stehenden Satz korrespondieren. Insgesamt werden so 144 Umschreibungen Gottes von verschiedenen Personen aufgeführt, die der Autor namentlich nicht benennt, mit denen er, wie er aber beteuert, intensiv über Gott gesprochen habe. Schließlich bringt er noch – und das ist nicht weniger aufregend – 48 Gedanken von Kindern aus der Grundschule ein, mit denen Oberthür, wie er glaubhaft versichert, über die Gottesvorstellungen der 24 Philosophen gesprochen hat.
Auch diese Grundschulkinder werden namentlich nicht genannt. Mit ihnen hat der Autor zuvor, wie es heißt, zahlreiche Gespräche etwa „über die Seele, die Zeit, das Licht und natürlich über Gott“ (112) geführt. Ihre hier wiedergegebenen Bemerkungen zum Gottesverständnis, die Oberthür fiktiven Zwillingskindern, einem Mädchen und einem Jungen, in den Mund legt, gehen, wie es heißt, „in den meisten Fällen“ (111) auf wörtliche Äußerungen der Schülerinnen und Schüler zurück.
Greifen wir exemplarisch einige Sätze heraus. Da ist die berühmte Nummer zwei der mittelalterlichen Schrift. Hier wird Gott mit einer unendlichen Kugel verglichen, deren „Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist“ (2). Diese These hat schon Denker im Mittelalter wie Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, in unseren Tagen auch Peter Sloterdijk herausgefordert. Eins der fiktiven Zwillingskinder von Oberthür erklärt dazu: „So wie der Weg auf einer Kugel immer weiter geht [sic!], so haben auch die Wege Gottes keinen Anfang und kein Ende“, während der andere Zwilling zu ergänzen weiß: „Die Welt ist eine endliche Kugel in Gottes unendlicher Kugel. Darin leben wir eine begrenzte Zeit – Gott ist grenzenlos dabei“ (15).
Weiter: In der achten Deskription, die das Buch der Philosophen bringt, heißt es: „Gott ist die Liebe, die sich desto mehr verbirgt, je mehr wir sie haben.“ Der Autor verändert diese Aussage, zeigt seinen Eingriff aber nicht an, geschweige denn, dass er seine Variation begründet. Bei ihm lautet der Satz: „Gott ist die Liebe und die Quelle für alle Liebe in sich selbst“ (36).
Die ursprüngliche Deskription wird durch diese Veränderung kaum klarer. Meister Eckhart war hier besser. Er las statt „verbirgt“, latet, „gefällt“, placet. In der Tat wird dadurch der Sinn des Satzes einsichtig: Eckhart will diese achte These so verstehen, dass gesagt wird: Die Freude wächst, je mehr Gottes Liebe vom Menschen angenommen wird, im Menschen wirkt und vom Menschen anderen weitergegeben wird. In der Weitergabe der Liebe zum Nächsten geschieht Liebe, die ihrer selbst vergisst. Sie schaut nicht so sehr auf das Woher, nicht auf Ihren Ursprung, auf Gott, sondern auf ihr Wohin, auf den Adressaten der Liebe: den Nächsten.
Die Kinder indes betonen klipp und klar: „Gott selbst ist die Liebe und hat aus Liebe alles entstehen lassen!“ Sie formulieren geradezu poetisch: „Gott füllt die Herzen mit Liebe, damit sie ein Lächeln in sich haben und im Inneren Liebe ertönt, sodass die Liebe ewig schlagen kann“ (39).
Nehmen wir ein letztes Beispiel: Satz 15. Er heißt im Original: „Gott ist das Leben, dessen Weg zur Gestalt die Wahrheit ist und dessen Weg zur Einheit das Gutsein.“ Der Autor übernimmt diesen Satz unverändert. Was erstaunt; denn der Text ist schwierig, hoch philosophisch, von metaphysischem Charakter: Das Leben wird verstanden als ein Weg hin und zurück. Vom verum, unum und bonum, vom Wahren, Einen und Guten ist die Rede. Es sind die transzendentalen Bestimmungen des Seins. Nach Thomas von Aquin gründen sie in der Erkennbarkeit und Erkenntnis des Wirklichen. Sie drücken die ursprüngliche und urtümliche Beziehung von Sein und Denken aus. Da die Dinge der Welt keineswegs von unserem Erkennen abhängig sind, sie aber nur durch den Intellekt zu ihrem ganzen Vermögen gelangen, werden wir auf jenen schöpferischen Intellekt aufmerksam, ohne den es überhaupt kein unum, verum und bonum der Dinge gäbe. Sie gehen vom göttlich-schöpferischen Geist aus und kehren wieder zu ihm zurück. Gott allein ist der Eine, Wahre und Gute. Er ist das dreifach potenzierte Leben.
Wir wissen: Der mittelalterliche Text gibt zu denken. Er zeigt auch heute noch seine Wirkung. Er hilft dabei, nicht nur von Gott zu sprechen, sondern richtig von Gott zu denken und zu sprechen. Die vorliegende Veröffentlichung belegt es. Oberthür versteht es, Gott in den verschiedenen Gesprächskreisen, besetzt mit jungen oder älteren Erwachsenen, ja sogar in der Grundschule zu thematisieren. Die Kinder fangen an, nicht nur nach Gott zu fragen, sondern sogar von Gott zu sprechen.
Einige Korrekturen sind anzubringen: Die früheste Handschrift des liberXXIV philosophorum taucht nicht, wie behauptet, „vor fast über tausend Jahren […] in einer Pariser Bibliothek aus dem Nichts“ auf (2). Vielmehr stammt die älteste Handschrift aus der Bibliotheque municipale von Laon, einer Stadt im Norden Frankreichs.
Das Werk stammt auch nicht, wie betont wird, aus kirchenkritischem Milieu, sondern aus der Mitte der Kirche und der christlichen Tradition selbst. Es wird zum ersten Mal zitiert von einem frommen Zisterziensermönch, von Alanus ab Insulis († 1202). In dieser Zeit war es keineswegs die Kirche, die die Freiheit des Denkens bedrohte. Im Gegenteil: Sie förderte das freie Denken wie keine andere Institution in der damaligen Welt. Sie machte es gesellschaftsfähig und setzte es im Abendland gegen erhebliche Widerstände durch: bis hin zur Gründung von Bildungseinrichtungen, die noch heute weltweit Karriere machen: den Universitäten. Gerade im 12. Jahrhundert waren es Frauen und Männer der Kirche, die antike und patristische Quellen sammelten, sichteten, kopierten, reflektierten und systematisierten. So genannte Sentenzensammlungen entstanden, wurden kommentiert und schließlich mit ihren Quaestionen zu jenen berühmten theologischen Summen komponiert, die in der Scholastik im wahrsten Sinne des Wortes Schule machen sollten. Nein, das mittelalterliche Buch, auf das sich Oberthür hier stützt, stammt aus der Mitte der Kirche und ist ohne jeden antikirchlichen Zungenschlag formuliert worden. Es will genau das, was die meisten Theologen der damaligen Zeit wollten: von Gott handeln.
Oberthürs Opusulum greift diese Tradition auf. Es gibt zu denken und lädt Jung und Alt ein, von Gott zu sprechen. Der Autor wird dabei unterstützt von Barbara Nascimbeni, die es in der Tat versteht, das hier von Gott Gesagte durch ansprechende Illustrationen in Szene zu setzen. Möge das Werk viele Leserinnen und Leser finden. Die Lektüre lohnt sich.
24 Wege auf der Spur des Verborgenen
Illustriert von Barbara Nascimbeni
München: Kösel Verlag. 2024
112 Seiten
16,00 €
ISBN 978-3-466-37318-5