Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Renate Dürr, u.a. (Hg.): Religiöses Wissen im vormodernen Europa

Für Sammelbände gilt das berühmte Diktum „Wer vieles bringt, wird vielen etwas bringen“ nicht. In der Einleitung grenzen sich die Herausgebenden deshalb zu Recht von „locker miteinander verbundenen Aufsätzen“ (1) in Buchform ab. Und sie grenzen sich nicht nur ab, sondern halten ihr Versprechen, es anders zu machen, indem sie einen außerordentlich methodisch reflektierten Band mit einzelnen Untersuchungen vorlegen, die sich nahezu alle (manchmal endet die „Vormoderne“ recht spät) an dem Themenhorizont wirklich orientieren.

Thema ist das religiöse Wissen im vormodernen Europa und dieses religiöse Wissen wird gefasst als: „... die jeweiligen historisch rekonstruierbaren kulturell-gesellschaftlichen Ausgestaltungen einer Kommunikation über Gott und das Göttliche, aber auch mit Gott oder dem Göttlichen, und zwar mit Bezug auf die Formen wie die Inhalte dieser Kommunikation“ (1). Im Folgenden wird in diesem methodisch grundlegenden Einleitungsteil ein präzises begriffliches Instrumentarium exponiert. Am Ende werden drei Themenbereiche vorgestellt, die in dem umfänglichen Sammelband die inhaltlichen Maßstäbe für entsprechende Forschungssektionen bilden: Schöpfung – Welt – Wissen, Gottesmutter – Körper – Heil und Passion – Opfer – Blut.

Das Buch ist eine Fundgrube für Informationen kultur- und religionsgeschichtlicher Natur. Ruth Scoralick interpretiert u.a. die biblische Urgeschichte (Gen 1-9), die eine raumzeitlich unbestimmte, „vorgeschichtliche“ Situation thematisiert, im Zusammenhang der Frage, inwiefern die Septuaginta in der Übersetzung ins Griechische platonistisch geglättete und damit zugleich neue geistige Möglichkeiten eröffnende Dimensionen erbracht hat. Der Adam der Karolingerzeit (Steffen Patzold) wird mithilfe der biblischen Informationen zum Musterbeispiel zeitgenössischer physiologischer Forschung.

Udo Friedrich berichtet aus der Schedelschen Weltchronik (deutsch 1493) – ein schönes Beispiel, wie die verschiedenen Wissenschaften und die biblische Welt miteinander verbunden werden. Die Söhne Lamechs gehören zu denen, die die düstere und durch die Sünde geprägte Verwendungsweise menschlicher Erkenntnisse ausleben. Und zugleich sichert einer dieser Söhne namens Tubalcayn das menschliche Wissen über die Sintflut hinaus. Er schreibt diesen Wissensschatz nämlich auf eine steinerne Säule (126).

Katharina Heyden eröffnet die Sektion II über „Gottesmutter – Körper – Heil“ und gibt uns einen gediegenen Überblick über Maria in der frühen Christenheit bis ins sechste Jahrhundert hinein und weist aufikonografische Bezüge etwa zur Göttermutter Isis oder von Kaisermüttern hin. Conrad Leyser setzt mit einem ungewohnte Perspektiven eröffnenden Zitat von Petrus Damiani ein: „Und wenn es nicht möglich ist zu verstehen, wie Christus von einer Jungfrau geboren wurde, warum sollte es uns überraschen, wenn es zwischen seinen Eltern eine wundersame und erstaunliche Erzeugung gegeben haben sollte, ist doch sein Ursprung einzigartig, seine Empfängnis neu und seine Geburt ungewöhnlich?“ (299) Auch er zeigt auf, wie sich biblische Bilder- bzw. Gedankenwelt und Veränderungen im Erkennen unserer Wirklichkeit bedingt haben. Es geht ihm nämlich in diesem Kapitel um Fragen der Veränderung von Familienvorstellungen. Dies führt er in Anknüpfung an das apokryphe Evangelium des Jakobus und seine Rezeption aus. Elina Gertsmann beschäftigt „Der blutige Umhang. Darstellungen des textilen Leibs der Jungfrau“. Die Fleischwerdung des Logos setzt einen Aufenthalt Jesu Christi im Uterus – seinem ersten Gewand – und einen Geburtsvorgang voraus und beides hängt mit Blut zusammen. Das „produktive() Potenzial“ (412) des – so allgemeine zeitgenössische medizinische Vorstellungen – Menstruationsblutes der Jungfrau, die durch ihr Blut den Leib Christi „bildete“ und „nährte“ (413), ist die wesentliche Basis, auf der das Werk des Heiligen Geistes wachsen konnte. Isidor von Sevilla – so Gertsmann – schreibt im siebten Jahrhundert: „Die Natur <der Milch> ist verwandeltes Blut. Denn wenn nach der Geburt etwas an Blut im Uterus noch nicht zur Ernährung aufgebraucht ist, so fließt es in natürlichem Gang in die Brüste und erhält durch deren Kraft die Beschaffenheit weißer Milch“ (420).

Die (letzte) Sektion III „Passion – Opfer – Blut“ beginnt – wie auch in den anderen Sektionen – sinnvollerweise mit einer Ausführung über die alt- bzw. neutestamentlichen Hintergründe des Themas. In diesem Falle über „Die Sterbeszenen der Evangelien und Jesu letzte Worte“ (Hans-Ulrich Weidemann). Dabei wird zu Recht vom „antiken ‚Erwartungshorizont' der Sterbeszenen“ (532) im Zusammenhang griechisch-römischer Idealbiografien ausgegangen. Für Matthäus wird etwa Golgatha zur „‚Bühne' der ultima verba“ (536). Wesentlich ist – für die neutestamentlichen Autoren – die „Emotionalisierung" (538ff) der Leser. Patrick Brooks schreibt über „Jesus und die Kreuzigung im Koran und den islamischen Prophetenerzählungen“. Dabei stellt sich u.a. heraus, „dass Golgatha im Koran keine Rolle spielt. Ob Jesus am Ende der Tage widerkehrt oder nicht, ob er seine messianischen Qualitäten bereits offenbart hat oder dies erst künftig tun wird: diese Fragen sind allesamt unabhängig vom Kreuz zu beantworten“ (587).

Wegen des Umfangs des Buches konnte nicht auf alle Beiträge hingewiesen werden. Da sich diese Zeitschrift auch an Religionslehrerinnen und Religionslehrer richtet, möchte ich in meiner abschließenden Einschätzung der Qualität dieses Bandes eine didaktische Perspektive einnehmen. Ich empfehle diesen – nicht billigen – Sammelband zur Anschaffung durch die Fachkonferenz der Schule. Seine besondere Leistung im Hinblick auf didaktische Inspiration liegt darin, dass zu wesentlichen Themen des christlichen Glaubens mannigfaltige ungewohnte Belege aus der Kirchen-, Theologie-, Literatur-, Kunst- und Literaturgeschichte vorgestellt werden, die neue Aspekte zu unseren Bildern des Glaubens liefern und den Religionsunterricht befruchten können.

Renate Dürr / Annette Gerok-Reiter/ Andreas Holzem / Steffen Patzold (Hg.)
Religiöses Wissen im vormodernen Europa
Schöpfung – Mutterschaft – Passion

Paderborn: Schöningh-Verlag. 2019
820 Seiten
98,00 €
ISBN
978-3-657-78223-9

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