Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Richard Schaeffler: Transzendentale Theologie

Das vorliegende Werk ist eine posthume Veröffentlichung, mit der Richard Schaeffler selbst noch sein religionsphilosophisches Lebenswerk zusammengefasst hat. Es setzt an als Auseinandersetzung mit Immanuel Kant, der in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ zeigt, dass unser Bewusstsein die gegebene Wirklichkeit nicht passiv aufnimmt, sondern empirische Sinneseindrücke so organisiert, dass sie sich zu Erscheinungen und diese sich letztlich zur Einheit einer Welt zusammenfügen. Die Formen unserer Urteilsbildung werden dabei einstweilen als unveränderlich vorausgesetzt. Kants Ideal ist hier noch „das universal vertretbare Forschersubjekt“, als das ein Individuum die Stelle eines anderen übernehmen kann.

Ohne dass er dies im Einzelnen ausgeführt hätte, hält Kant jedoch prinzipiell auch einen geschichtlichen Wandel unserer Bewusstseinsgestalten für möglich. Seine „Kritik der reinen Vernunft“ endet nämlich mit einem Kapitel über „die Geschichte der reinen Vernunft“, das seinerseits mit dem vielsagenden Satz beginnt: „Dieser Titel steht hier nur, um eine Stelle zu bezeichnen, die im System übrig bleibt, und künftig ausgefüllet werden muß.“ Indem Schaeffler diesen Impuls nun aufgreift, versucht er Kants Theorie von den subjektiven Formen unseres Anschauens und Urteilens über diejenige Gestalt hinaus weiterzuentwickeln, die dieser ihr gegeben hat.

Einen Anstoß dazu entdeckt er zunächst in der von Kant festgestellten „Antinomie der praktischen Vernunft“. Zwar unterwirft sich die Vernunft in ihrem moralisch-praktischen Gebrauch der Idee einer sittlichen Weltordnung. Aber da dieser Vernunftgebrauch sich innerhalb derjenigen empirischen Welt vorfindet, deren Unrecht er doch überwinden will, ist er in der Wahl seiner Mittel doch dieser Welt verhaftet und kann darum das Gute nur so verwirklichen, dass er dabei dem eigentlich doch zu überwindenden Bösen eine neue Gestalt gibt. Damit findet sich die praktische Vernunft in einen selbstzerstörerischen Widerspruch gestellt. Diesen kann sie nur dadurch auflösen, dass sie die Existenz eines Gottes postuliert, der sowohl die gegebene Welt erschaffen als auch uns das moralische Gesetz gegeben hat, so dass er dasjenige Gute zu vollenden vermag, das wir nur gebrochen durch sein Gegenteil verwirklichen.

In einer über Kant hinausgehenden Weise zeigt Schaefffler nun, dass die Einheit des Ich nicht nur durch die genannte Antinomie der praktischen Vernunft gefährdet ist, sondern auch durch die unbezweifelbare geschichtliche Prägung menschlicher Erfahrung. Denn es gibt kontextsprengende Widerfahrnisse, in denen wir zum Beispiel „sehen, dass es mehr zu sehen gibt“, ohne dass dieses „Mehr“ uns vor Augen tritt. Dies kann sich steigern bis hin zu Paradoxieerfahrungen, in denen uns „Hören und Sehen vergeht“ (Hegel).

Indem Schaeffler solche „Erfahrungen mit unseren Erfahrungen“ thematisiert, räumt er mit der Vorstellung monadisch abgeschlossener Partikularwelten auf, die einander zu respektieren hätten und deren wechselseitige Durchdringung ein Akt kultureller Aneignung wäre. Dass ein und dasselbe Objekt auf unterschiedliche Weise zum Gegenstand einer Erfahrung werden kann, macht vielmehr eine Neustrukturierung unserer jeweiligen Welt nötig. Allerdings ist dabei durch nichts garantiert, dass sich in veränderter Gestalt die Dinge erneut zur Einheit eines Weltzusammenhangs fügen und auf diese Weise „Welt-Kohärenz“ und „Ich-Identität“ wiederhergestellt werden. Dies bleibt stets ein nicht erzwingbares Ereignis. Derjenige Gott, dessen Existenz Kant schon im praktischen Vernunftgebrauch erhofft hat, wird dabei nun bestimmbar als diejenige unsichtbare Wirklichkeit, die auf unerzwingbare Weise wirksam ist, wenn solche Wiederherstellung geschieht.

Gegenüber dem klassischen Entwurf einer transzendentalen Theologie, wie sie etwa Karl Rahner vorgelegt hat, ist Schaefflers Konzept vor dem Vorwurf einer Vergleichgültigung der geschichtlich fassbaren Wirklichkeit geschützt, denn es wird ausdrücklich als „Dialog mit der Wirklichkeit“ entwickelt. Ein fundamentalistischer Wahrheitsbesitz ist dabei ausgeschlossen, weil es Wahrheit nur im Modus der Annäherung kennt. Andererseits prallt auch der Relativismusvorwurf an ihm ab, weil die Annäherungsgestalt an die Wahrheit sich daran bemisst, inwieweit die in unserer Erfahrung gegebene Weltgestalt andere Gestalten der Erfahrung in sich aufgenommen hat und neue aufzunehmen befähigt ist.

Der gut 100 Seiten umfassende Text ist von einer Dichte, die ein Verständnis nicht immer leicht macht. Denn Schaeffler hat das hier vorgelegte Konzept ausführlich bereits im Jahr 1995 in seinem Klassiker „Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit“ auf 700 Seiten entwickelt. Es ist für den Leser darum sehr hilfreich, dass Markus Enders in seiner Funktion als Herausgeber Schaefflers Konzept ausführlich erläutert und überdies an manchen Stellen mit kritischen Fragezeichen versieht.

Gott als Möglichkeitsgrund der Erfahrung
Baden-Baden: Karl Alber Verlag. 2022
207 Seiten
39,00 €
ISBN 978-3-451-39278-2

Zurück