Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Robert N. Bellah: Der Ursprung der Religion

Das Buch beginnt mit Hans Joas’ vorzüglicher Einleitung in die Biografie und das Denken im Themenkreis einer „Globalgeschichte der Religion“ (XIX) des bekannten Religionssoziologen Robert Bellah. Dann kommt der Autor selbst zu Wort. Bellah bezieht sich in seiner differenzierten Erarbeitung des begrifflichen Instrumentariums seiner Darstellung der Religiosität der „Achsenzeit“ (1. Jahrtausend vor Christus) immer wieder auf andere Autoren, deren Bedeutung für sein Denken er würdigt. Wenn ich im Folgenden seine grundlegenden Denkfiguren skizziere, dann verzichte ich der Übersichtlichkeit willen außer bei Zitaten auf Namensnennungen.

Bellah geht im ersten Schritt von der Voraussetzung aus, dass am Beginn der Religion die Erzeugung von dauerhaft wirkenden „Stimmungslagen und Motivationen“ (9) steht, die in „Bezug auf die Vorstellung einer allgemeinen Seinsordnung Sinn ergeben“ (9). Die Bezugnahme auf Götter oder einen Gott ist dieser grundlegenden Bestimmung untergeordnet. Entsprechend ist die Religion ein herausragendes Feld für Symbolik, die im Ritual ihre wesentliche Form findet. Im Ritual wird die imaginierte Seinsordnung als direkt wirksam wahrgenommen.

Ein anderer Aspekt in der Betrachtung von Religion bezieht sich auf ihren Gemeinschaftscharakter. Das Heilige verbindet alle Anhänger einer Religion zu einer „moralischen Gemeinschaft“ (24). Innerhalb einer solchen Gemeinschaft gibt es einerseits die von „praktischem beziehungsweise pragmatischem Interesse“ (25) bestimmte selbstverständliche „Alltagswelt“ (25). In ihr geht es – mehr unthematisch als thematisch – um die Bewältigung der radikalen menschlichen Endlichkeit. Und auf der anderen Seite gibt es – „weil niemand es aushält, ohne Unterbrechung in ihr zu leben“ (27) – Kunst und – neuzeitlich gesprochen – moderne Wissenschaft. Sie stellen diese Alltagswelt der Selbstverständlichkeiten in den Bereich der Unselbstverständlichkeit. Die größte Infragestellung geschieht allerdings durch die Religion. Im religiösen Erlebnis verschmelzen Zeit und Raum und Ich und Welt in „Erfahrungen der Partizipation, der Richtigkeit der Dinge und des Wohlergehens“ (31). Im sich selbst vollziehenden Subjekt „überlappen()“ (33) sich Wirklichkeiten und finden ihren Ausdruck im „Symbol“ (33), das sich in den in unterschiedlichsten Gestalten im Subjekt Präsenz verschafft. Kunst, Musik und begriffliche Reflexion können diese Symbole in eine gewisse Allgemeinheit heben.

Ungewohnt für die gängigen ‚Trampelpfade‘ religionsphilosophischen Denkens ist dann die Bezugnahme Bellahs auf eine phylogenetische „Tiefenhistorie der Religion“ (81). Ein wichtiger Aspekt zu den Voraussetzungen einer derartigen Art von ‚Geschichtsschreibung‘, sozusagen das „Metanarrativ“ (82), ist es, ein Bewusstsein von der auch vorhandenen Narrativität in der eigenen Theoriebildung zu haben. Entsprechend leitet Bellah seine Darstellung ‚der‘ Religion(en) der Achsenzeit (Israel, Griechenland, China, Indien) mit einem Blick auf die Ursprünge unseres Universums, also der „Big-bang-Kosmologie“ (89), ein.

Über eine Skizze zu den Bedingungen von frühem Leben auf unserem Planeten („anthropisches Prinzip“, 97) gelangt er dann zum „Zeitalter der Menschheit“ (bzw. „Zeitalter der Säugetiere“, 100). Eine wichtige Rolle für den Übergang vom Tier zum Menschen spielt die beiden gegebene Fähigkeit zu spielen. Zu den wesentlichen Elementen, die ein Verhalten zu einem Spiel machen, gehören nach Bellah eine „Einschränkung der unmittelbaren Funktionalität“, eine „Endogene Komponente“, eine „Strukturelle oder zeitliche Differenz“, ein „Wiederholter Vollzug“ und ein „Zwangloses Umfeld“ (124). Aus dieser dem Tierreich entstammenden Anlage erwächst die menschliche Möglichkeit, Spielregeln aufzustellen bzw. zu befolgen, die keine unmittelbaren innerweltlichen Zwecke verfolgen – so entstehen religiöse Rituale. Die „archaische Gemeinschaft“ (Huizinga, 149), die ihren Anfang in einer „mimetischen“ (188) Kultur hat, tradiert seit ungefähr 2 Millionen Jahren elementare Fertigkeiten (etwa die Herstellung elementarer Steinwerkzeuge) durch elementarsprachliche „Ganzkörperbewegungen“ (189). Im Laufe der Jahrtausende können größere Stammesformen entstehen und mit ihnen das Grundmuster einer „mythische(n) Kultur“ (206), in der das rituelle Spiel mit Ganzkörperbewegungen zu einer verbindlichen Ausgestaltung eines Zuganges zu den „mächtigen Wesen“ (208) und den Ahnen wird. Der Schamanismus entsteht. Ein „Schamane (ist) eine Einzelperson, die ein mächtiges Wesen aufsucht oder von ihm aufgesucht wird und durch diese direkte Erfahrung normalerweise zu Heilungszwecken Zugang zu einem Teil der Kräfte dieses Wesens erlangt“ (240). Schrittweise bildet sich eine immer differenziertere Sprache. Die mythische Kultur und damit auch die Stammeskultur endet mit dem Auftreten der archaischen Religion, in der ein zwischen den Göttern und den Menschen vermittelndes, beiden ‚Reichen‘ zugehöriges Gottkönigtum wesentlich wird.

Im Folgenden expliziert Bellah dann den Grundgedanken, dass in der „Achsenzeit“ des ersten Jahrtausends vor Christus das Gottkönigtum relativiert wird. Universalistische Tendenzen der Ethik, Entmythologisierung der Religion und Relativierung der Bedeutung von Ritualen, die ja ihren Ursprung im vorsprachlichen Spiel haben, sind die Folgen. Bellah stellt dies anhand von Israel, Griechenland, China und Indien dar.

Am Ende seines Buches macht Bellah auf einen Gedanken aufmerksam, der in dunklen Phasen unserer Zeitgeschichte tröstlich sein kann. „So groß die Hauptfiguren der Achsenzeit auch gewesen sind und so universalistisch ihre Ethik der Tendenz nach war, dürfen wir nicht vergessen, dass sie alle ihre eigene Lehre als einzige oder höchste Wahrheit betrachtet haben …“ (829) Im zwanzigsten Jahrhundert sei erstmals eine Perspektive aufgetreten, gemäß der „alle Religionen aus sich selbst heraus zu verstehen und wertzuschätzen“ (830) seien – doch von einer allgemeinen Akzeptanz dieser Voraussetzung seien wir natürlich noch weit entfernt. Das umfängliche Werk ist der aktuell wesentliche Beitrag zu einem Gesamtblick auf das Phänomen der Religion einerseits (der erste Teil) und andererseits ein wohlinformierter Zugang zu den Religionen der Achsenzeit (zweiter Teil). Ich habe lange nicht mehr so viel von einem Buch gelernt.

Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit
Herausgegeben und mit einer Einführung von Hans Joas

Aus dem Englischen von Christine Pries
Freiburg: Herder Verlag. Neuausgabe 2021
878 Seiten
50,00 €
ISBN 978-3-451-39072-2

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