Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Rüdiger Safranski: Einzeln Sein. Eine philosophische Herausforderung

In den letzten zwei Jahrzehnten hat der Begriff Influencer eine erstaunliche Karriere gemacht. Als solche werden – tendenziell jüngere – Menschen bezeichnet, die sich durch eine starke Präsenz in den sozialen Medien und ihren dort vermittelten Lebensstil ein Ansehen und vor allem eine große Zahl an Followern erworben haben. Die Influencer versuchen, Trends zu setzen und etwas Einzigartiges zu verkörpern, zugleich beruht ihr Geschäftsmodell darauf, dass sie von einer möglichst großen Schar von Fans geklickt und bejubelt werden. Das Phänomen veranschaulicht in den Farben des digitalen Umbruchs ein altes philosophisches, wohl auch anthropologisches Rätsel. Der Aufrechtgeher Mensch ist gerne „besonders“ und individuell, kann in der Regel jedoch nicht auf die Anerkennung durch die Gesellschaft verzichten. „Jeder ist ein Einzelner“, so beginnt der Philosoph und erfolgreiche Schriftsteller Rüdiger Safranski das erste Kapitel seines neuen Werkes. „Aber nicht jeder ist damit einverstanden und bereit, etwas daraus zu machen.“ Das Problem dabei ist die Einsamkeit. Wer nur besonders sein möchte, bekommt Schwierigkeiten mit seiner angestammten Gemeinschaft, muss unter Umständen auf ihre Wärme verzichten. Deshalb entscheiden sich die meisten „für irgendetwas dazwischen“.

In „Einzeln Sein“ stellt Safranski gut zwei Dutzend Denker und Autoren vor, die sich mit dem mediokren „Dazwischen“ nicht begnügten, die sich theoretisch oder auch ganz praktisch dem Individuellen widmeten, sich an den Spannungen rieben. Er setzt in der Renaissance an, erwähnt dabei, dass bereits im spätmittelalterlichen Nominalismus ein entscheidender Gedanke fruchtbar wurde: „Was existiert, ist individuell. Es gibt nur Einzelheiten. In ihnen ist die ganze Fülle des Wirklichen enthalten (…).“ In der italienischen Renaissance, mit Leonardo da Vinci, Michelangelo, Pico della Mirandola oder Machiavelli, betritt der selbstbewusste, eigensinnige Künstler die öffentliche Bühne. „Es gibt Menschen, die man nicht anders als Durchgang von Speisen, Vermehrer von Kot und Füller von Abtritten nennen muss (…)“, notiert da Vinci in seinen „Philosophischen Tagebüchern“. Zu diesen Menschen wollten die „göttlichen“ Genies nicht gehören. Sie profitierten dabei von der partikularen Macht der Städte, von der neuen Geldaristokratie, von dem frischen Blick auf die „Würde des Menschen“ (Pico della Mirandola) und auf die Strategien der Macht (Machiavelli).

Mit dem Kapitel über Martin Luther verlässt der Autor die Szenerie der neuen Selbstbewussten und schildert die Nöte eines Haderers und Gottsuchers im ausgehenden Mittelalter. Und dennoch: Es ist der Auftritt dieses Einzelnen, eines Mönches zudem, der zu einem epochalen Bruch in der abendländischen Historie führt; nach Luther ist nicht nur die Glaubenswelt eine andere. Montaigne hingegen, eine Generation nach dem Reformator, sucht kaum das Erbarmen des Himmels, eher ein „Hinterstübchen“, in dem er ganz für sich und in sich ist, in dem er sich dem Einfluss des gesellschaftlichen Rollenspiels entziehen kann. Die Lokalität fand er im Bibliotheksraum seines Turmes. Ob er aber auch das ruhige, unabhängige Ich fand? Eher schon „atemberaubende Irrgänge in sich selbst“, laute Einzelheiten, die sich nicht zu einer Ganzheit fügen. Die Wachheit freilich und die gute Gewohnheit lassen sich einüben. „Übung ist alles, darauf kommt es an.“

Die nun folgenden Kapitel erstrecken sich von der Aufklärung (Rousseau, Diderot) über die hohe Kunst des Außenseitertums (Kierkegaard, Stirner) bis zur Existenzphilosophie (Jaspers, Heidegger) und einem Ausklang mit dem „Stoßtruppführer und Waldgänger“ Ernst Jünger. Mit Ricarda Huch und Hannah Arendt sind – lediglich – zwei Frauen dabei, die sich gegenüber der Männerriege bestens behaupten. Die Schriftstellerin und Historikerin Huch (1864-1947) wollte sich von einem eitlen Individualismus à la Stefan George unbedingt fernhalten. Die Feierlichkeit seines Auftretens schrieb sie einem „Mangel an Humor“ zu. Bei aller Ernsthaftigkeit, mit der Kunst zu betreiben sei, dürfe nicht vergessen werden, „dass sie ein schönes Spiel ist, nichts Heiliges“. Auch Hannah Arendt versuchte, das gedankenschwere und nicht selten verschwurbelte Konzept von einem ihrer Meister zu entzerren. Arbeitete sich Martin Heidegger an der „Geworfenheit“ und dem „Vorlaufen in den Tod“ ab, antwortete Arendt mit einer Philosophie der Geburtlichkeit, mit dem Wunder des Anfangens: „Dass ich angefangen worden bin, ist erträglich, wenn ich lerne, selbst anzufangen. Das ist die zweite Geburt.“

Auch mit dieser Studie gelingt Rüdiger Safranski eine so unaufgeregte wie lehrreiche Verknüpfung von biographischer Darstellung und inhaltlicher Präzision. Dass die Darstellung bereits mit Ernst Jüngers „Waldgang“ (1951) endet, ist zu verschmerzen. Vor allem dann, wenn der Leser sich auf die Suche nach Montaignes „Essais“, Thoreaus „Walden“ oder Hannah Arendts „Vita activa“ macht.

München: Carl Hanser Verlag 2021
285 Seiten
26,00 €
ISBN 978-3-446-25671-2

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