Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Sandra Huebenthal: Gedächtnistheorie und Neues Testament

Überraschenderweise gab es vor dieser „methodisch-hermeneutischen Einführung“ kein Lehrbuch, das die neutestamentlichen Texte mit Blick auf eine Gedächtnistheorie auslegt. Sandra Huebenthal schließt diese Lücke.

Die Verfasserin gliedert ihr Lehrbuch in drei Teile. Im ersten Teil (13–135) geht es um die hermeneutischen Grundlagen für einen kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischen Zugang, der es ermöglicht, neutestamentliche Texte als Artefakte kollektiver Gedächtnisse, ähnlich wie Momentaufnahmen frühchristlicher Identitätsbildungsprozesse, zu lesen (25). Huebenthal stellt drei Formen kollektiver Gedächtnisse heraus: 1. Das „soziale Gedächtnis“, das von dem Tod der Träger ausgelöst wird und zeitlich begrenzt zwei Generationen dauert, von unterschiedlichen Perspektiven gekennzeichnet ist und von bestimmten Gruppen übernommen wird (58). 2. Das „kollektive Gedächtnis“, das hingegen entfristet ist (57). Hier wird die Vergangenheit wegen einer Krise bewusst nach etwa 30 bis 50 Jahren – die Huebenthal den „Generational Gap“ nennt – aufgerufen und geformt, wobei sich eine leitende Perspektive durchsetzt (61). 3. Die letzte Form ist das „kulturelle Gedächtnis“, das wieder wegen einer Krise nach etwa 80 bis 100 Jahren entsteht; Huebenthal nennt diese Zeit den „Floating Gap“. Für das kulturelle Gedächtnis wird die Vergangenheit als eine Tradition im Kanon erlebt (61).

Mit diesen Erkenntnissen über das soziale, kollektive und kulturelle Gedächtnis versucht die Verfasserin, die 27 Schriften im Neuen Testament zu klassifizieren sowie die Jahre zu nennen, wann der „Generational“ und der „Floating Gap“ sich ereignet haben (vgl. z.B. 71, 97). Sie vergleicht in Kap. I.6 neutestamentliche Texte mit einem Familienalbum: Beide können als Momentaufnahmen verstanden werden.

Im zweiten Teil (138–250) werden sechs exemplarische Lektüren neutestamentlicher Texte dargeboten, die zeigen, wie die Lektüre neutestamentlicher Texte als Gedächtnistexte in der Praxis aussehen kann. Im dritten Teil (vgl. 251–334) erklärt Huebenthal die Anwendungsmöglichkeiten kulturwissenschaftlicher Exegese für Bibelwissenschaft und Theologie.

Dieses Lehrbuch ist aus unterschiedlichen Gründen hilfreich für Professoren wie für Studierende, die wissen wollen, welche Einsichten sich durch Gedächtnistheorie für ein Verständnis neutestamentlicher Texte gewinnen lassen: Nicht nur, weil es das erste Lehrbuch zu diesem Thema ist, sondern besonders wegen der vielen hilfreichen Tabellen und Diagramme sowie des Glossars (337–353), das die Fachbegriffe genauer erklärt. Aus diesen Gründen lohnt eine gründliche Lektüre.

Eine methodisch-hermeneutische Einführung
utb 5904
Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag. 2022
371 Seiten
26,90 €
ISBN 978-3-8252-5904-4

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