Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion

„Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ gilt als ein bedeutendes Spätwerk Sigmund Freuds, in dem er – nach mehreren Ansätzen in früheren Schriften – erneut die Grenzen der Anwendung der Psychoanalyse als klinische Behandlungsmethode überschreitet und auf ein gesellschaftliches Phänomen anwendet. Dabei trägt das Werk deutliche selbstanalytische Züge: Freud untersucht etwas, mit dem er sich selbst in differenzierter Weise identifiziert, nämlich dem Jüdischsein. Der Text gilt als sperrig und vielgestaltig. Er enthält Elemente einer fiktiven Erzählung, klinische Theorien über Traumatisierung und ethnologische Thesen.

Das 2023 erschienene, vorliegende Kommentarwerk ist der sechste Band der „Wiener Interdisziplinären Kommentare“ zu Sigmund Freuds Werken. Im Geleitwort der Reihenherausgeber nennen diese den Anspruch, aus „den unterschiedlichen Perspektiven von Einzeldisziplinen und vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Fragestellungen, Diskurse und Debatten […] die aktuelle Bedeutung von Freuds Werken“ (7) hervorzuheben. Zweifelsohne stellen die Beiträge in ihrer Zusammenstellung eine bereichernde Lektüre dar. Angesichts des oben genannten Anspruchs melde ich jedoch deutliche Zweifel an, ob die Konzeption und Zusammenstellung des vorliegenden sechsten Bandes diesem Anspruch gerecht werden kann.

Zunächst handelt es sich bei den „Kommentaren“, wie im Untertitel genannt, um einleitende Aufsätze: Es werden eher der Text als Ganzes, seine Entstehungsgeschichte und seine zentralen Thesen in den Blick genommen – es geschieht weniger eine Annäherung an einzelne, vielleicht missverständliche Passagen. Die Beitragenden verbleiben in ihrer Fachdisziplin und kommentieren aus der jeweiligen Perspektive. Problematisch ist dabei, dass die fachliche Heimat der Kommentierenden zumindest nicht explizit genannt wird: Eine in Sammelbänden übliche biografische und fachliche Einordnung der Beitragenden fehlt dem Band. Die Beiträge ordnen Freuds Text vorwiegend historisch-kritisch und fachlich-kritisch aus den jeweiligen Disziplinen ein: Sie zeigen auf, welche Umweltbedingungen und Kontroversen zu Freuds Thesen geführt haben und wie er die Diskurse seiner Zeit im Text verarbeitet hat. Dadurch kommt etwas zu kurz, sich dem Text als Text zu nähern – dies wird vielleicht darin am deutlichsten, dass eine genuin psychoanalytische Perspektive in der Interdisziplinarität des Bandes keinen Platz gefunden hat. Dass die Kommentare im Buch vor dem Text stehen, vermittelt den Eindruck, Freuds Originaltext müsste von Anfang an entschärft und relativiert werden. Dies gilt sicher, wenn man den Text ausschließlich als ethnologische Abhandlung sieht. Immerhin wird im Band immer wieder explizit deutlich, dass das nicht Freuds ausschließliche Absicht war.

Dennoch: Die Texte sind bereichernd und lesenswert und geben eine Menge an Hintergrundinformationen, die eine vertiefte eigene kritische Auseinandersetzung mit „Freuds Moses“ ermöglichen.

Kommentiert von Jan Assmann, Marie-France Chevron, Astrid Schweighofer und Herman Westerink
Herausgegeben von Friedrich Schipper und Herman Westerink
SFW. WIK 6
Göttingen: Vienna University Press, Vandenhoeck & Ruprecht. 2023
197 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-8471-1528-8

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