Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Stefan Seidel: Nach der Leere

Wir erfahren in der Kirche die Leere: leere Kirchen, Menschen, denen der Glaube nichts mehr sagt, den Zusammenbruch vertrauter Gewissheiten. Wir stehen im Schatten der Säkularisierung. Glauben wir selbst noch an Gott? An welchen Gott kann man noch glauben? Brauchen wir Religion? Muss man in der Kirche sein oder kann man jenseits institutioneller Bindungen ein religiöses oder spirituelles Leben führen? Vieles ist im Umbruch. Doch was wird kommen – nach der Leere? Was könnte, was sollte kommen? Der Theologe und Journalist Stefan Seidel widmet sich in seinem neuen Buch diesen heute so zentralen Fragen und versucht, Konturen eines Glaubens nach der Leere aufzuzeigen – in einer dichten, oft poetischen und zugleich glasklaren Sprache.

Ohne Scheu diagnostiziert Seidel das Leben unter säkularen Vorzeichen: den Verlust Gottes in der Moderne, aber auch die bleibende Sehnsucht nach etwas, das die engen Horizonte einer gottlosen Welt überschreitet. Seidel zeichnet dieses Verlangen nach „Mehr" in seinen vielen Facetten nach – auch angesichts der Gefahren, die mit den beiden „Religionsgestalten" des Fundamentalismus und der Esoterik verbunden sind, aber auch angesichts der „Religion" in Gestalt eines immer grenzenloseren Kapitalismus. Seidel hat gute Gründe, an der Vorstellung, dass die Logik des Marktes und des Konsums langfristig tiefste menschliche Sehnsüchte stillen kann, zu zweifeln: „Wobei dieser neue kapitalistische Kult des Geldes nicht in Erlösung mündet, wie schon Walter Benjamin bemerkte, sondern in Verschuldung und einem nicht enden wollenden Streben nach mehr." (43). Zu Recht verweist Seidel auf die Gnadenlosigkeit dieses Kultes.

Zeigen sich Auswege? Gibt es Zeichen dafür, dass Gott neu und anders erfahren werden kann? Einen Weg findet Seidel angesichts des Todes. Alle Menschen müssen sterben. Man kann den Tod verdrängen, doch irgendwann meldet sich seine Wahrheit. Irgendwann muss man sich zum Tod verhalten. So kann sich gerade im Tod Transzendenz zeigen, der man sich auf verschiedenen Wegen – Seidel bezieht sich u. a. auf Søren Kierkegaard, Hans Blumenberg und Bernhard Waldenfels – annähern kann. Eine andere Annäherung an das, was die Horizonte der Alltäglichkeit überschreitet, unternimmt Seidel im Gespräch mit der Poesie Christian Lehnerts und Tomas Tranströmers. Ein weiterer Weg führt über die Ehrfurcht vor dem Leben zu einer ökologischen Spiritualität und noch ein Weg zu den Spuren des Heiligen in den Erfahrungen von Würde, Scheu und Skrupel.

Nach der Leere, so zeigt Seidel, eröffnen sich neue, andere, überraschende Wege des Religiösen. Ein sehr lesenswertes, berührendes und veränderndes Buch ist ihm dabei gelungen. Ein Buch der Sehnsucht, das selbst Sehnsucht weckt und das aufmerksam macht – für die andere Seite der Leere, für die „zerspringende Diesseitsrinde", für die die Brüche im Alltäglichen oder für die Möglichkeiten einer mystischeren Religiosität, die nicht aus der Welt hinaus, sondern eigentlich erst in sie hineinführt.

Ergänzt wird dieser wichtige Band durch Seidels „Grenzgänge. Gespräche über das Gottsuchen“ von 2022 (s. Eulenfisch Literatur 1/2023, 30f) mit wichtigen Autorinnen und Autoren der Gegenwart von – um nur einige seiner Gesprächspartner zu nennen – Daniela Krien, Christian Lehnert und Helga Schubert über Patrick Roth, Tomás Halík und David Steindl-Rast bis zu Ingrid Riedl, Jürgen Moltmann und Pierre Stutz. Beeindruckende Zeugnisse, die zeigen, was „nach der Leere" kommen könnte oder, bescheidener, wie es weitergehen könnte, irgendwie, ohne dass „Hoffnung" zu einem gänzlich unverständlichen Fremdwort würde.

Versuch über die Religiosität der Zukunft
München: Claudius Verlag. 2020
160 Seiten
18,00 €
ISBN 978-3-532-62857-7

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