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Stephanie Höllinger / Stephan Goertz: Sebastian. Märtyrer – Pestheiliger – Queere Ikone
Die beiden in Mainz Moraltheologie lehrenden Stephanie Höllinger und Stephan Goertz erzählen in ihrem Buch die Karriere eines der volkstümlichsten Heiligen, die diesen vom römischen Stadtpatron zum Pestheiligen führt und schließlich zu einem Identifikationsobjekt der außerkirchlichen Schwulen- und Queerenbewegung werden lässt.
Nach der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine aus dem 13. Jahrhundert war Sebastian Offizier in der Prätorianergarde des Kaisers Diocletian. Wegen seines Bekenntnisses zum Christentum wurde er zum Tode verurteilt und durch Pfeile von Bogenschützen hingerichtet. Wie durch ein Wunder überlebte er dieses erste Martyrium, wurde daraufhin mit Knüppeln erschlagen und seine Leiche in die Cloaca Maxima geworfen. Doch die Christin Lucina rettete den Leichnam und bestatte ihn „ad catacumbas“. Über seinem Grab errichtete man einen Altar, später die Kirche San Sebastiano und schließlich stieg er auf zu einem der drei Schutzpatrone der Stadt Rom.
Seine Karriere als Pestheiliger begann im Jahre 680. Als in Italien die Pest wütete, erbat die Stadt Pavia vom Papst Reliquien des Heiligen, errichtete ihm einen Altar und wurde durch seine Fürsprache von der Seuche befreit. Den Höhepunkt seiner Popularität erreichte Sebastian im Zeitalter der Renaissance. Als 1347 wiederum eine Pest ausgebrochen war, fand der Heilige in dem Florentiner Erzbischof Filippo dell´Antella einen leidenschaftlichen Verehrer und Förderer. Es entstand eine Flut von Sebastians-Bildern von weltberühmten wie unbekannten Künstlern, die einen fast nackten schönen jugendlichen Körper zeigen, der, von Pfeilen getroffen, an einem Baum gefesselt ist und Züge des gekreuzigten Christus annehmen kann. Der leidende und zugleich das Leiden überwindende Heilige wurde Hoffnungsbild und Identifikationsfigur für die von der Pest geschlagenen Menschen.
Die außerordentliche künstlerische Qualität vieler Sebastians-Darstellungen und deren erotische Ausstrahlung lassen den Heiligen die neuzeitliche Kritik am Heiligen- und Reliquienkult überleben. Sebastian erfährt ein Revival im außerkirchlichen Raum und weckt das Interesse von homosexuellen Schriftstellern wie August von Platen, Oskar Wilde, Thomas Mann und anderer queerer Künstler im 19. und 20. Jahrhundert. Das Leiden an der Einsamkeit in einer anders fühlenden und urteilenden Mehrheitsgesellschaft und die Einschränkung der eigenen sexuellen Entfaltung sind Erfahrungen, die queere Künstler aus den Sebastians-Bildern der Blütezeit italienischer Kunst herauslesen. Daran knüpft eine weitere Transformation an. In den Bildern des New Yorker Künstlers David Wojnarowicz aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wird Sebastian Ikone der AIDS-Kranken und Symbol der Auflehnung queerer Minderheiten gegen ihre soziale, mediale und religiöse Zurücksetzung. Einen bisher letzten Triumph feiert der scheinbar unsterbliche Heilige auf einem Zeitschriften-Cover in der Gestalt des Boxweltmeisters Muhammad Ali, dessen Protest gegen Rassendiskriminierung und Vietnamkrieg und dessen Kampf mit einem repressiven Establishment zu Sebastian in Beziehung gesetzt werden.
„Sebastian" ist eine außerordentlich anregende Lektüre, weil die beiden Autoren die kirchliche wie außerkirchliche Karriere des Heiligen mit wissenschaftlicher Akribie nachzeichnen, dabei frömmigkeits-, kunst- und sozialgeschichtliche Forschungen zusammenführen und diese in einer theologischen Schlussbetrachtung in die neuzeitliche Gesamtentwicklung von Glauben, Theologie und Kirche einordnen. Sebastian, dem im Laufe seiner Rezeption zahlreiche, auch widersprüchliche Eigenschaften zugesprochen wurden, erweitert sein Image als christlicher Märtyrer ins universal Menschliche: Er wird zum Symbol des verletzten Menschen, der sein Leiden nicht akzeptiert, sondern dagegen aufbegehrt. Die Christen aber erinnert er daran, dass der christliche Gott ein Gott ist, der der Verletzlichkeit des Menschen nicht gleichgültig gegenübersteht.
Freiburg: Herder Verlag. 2023
238 Seiten m. Abb.
30,00 €
ISBN 978-3-451-39882-7