Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biografie

„Hannah ist der einzige Mensch, den ich habe denken sehen," sagte die amerikanische Schriftstellerin Mary McCarthy in ihrer Totenrede auf Hannah Arendt im Dezember 1975 in New York. Sie erinnerte sich an Arendts Augen, als ob Strahlen der Intelligenz aus ihnen hervorgingen, die aber auch gedankliche Tiefe verbargen. In Hannah, so McCarthy, lag etwas Unergründliches, das sich in den spiegelnden Tiefen dieser Augen zu verbergen schien.

Hannah Arendt erscheint als prägende Figur des letzten Jahrhunderts und steht für vieles: Philosophie, Politik, Menschlichkeit, Freiheit und Verantwortung. Doch Arendt war mehr als nur diese großen Begriffe. Thomas Meyer unternimmt auf gut fünfhundert Seiten den Versuch, das Gesamtbild dieser Denkerin zu verfassen. Wer sich auf seine Darstellung einlässt, begibt sich auf eine lange, aber lohnenswerte Reise.

Der Buchmarkt bietet bereits einige Biografien zu Arendt, darunter die bekannten Werke von Elisabeth Young-Bruehl, Alois Prinz und Wolfram Eilenberger. Meyer ergänzt diese Auswahl mit einer umfassenden Darstellung, die Arendt in ihrer Zeit verortet. Er zeigt, dass es Arendts Denken auszeichnete, immer in der Gegenwart zu bleiben. Damit wird die Denkerin aktuell, nicht weil sich ihre Fragen und Antworten mit denen decken, die unsere Welt nach Corona inmitten von Ukraine- und Gaza-Krieg bestimmen. Arendts lebenslanges Schreiben bezeugt, wie Denken gegenwärtig werden kann. Meyer beginnt daher damit, die jeweilige Gegenwart, die Arendt herausforderte, zu rekonstruieren.

Besondere Aufmerksamkeit widmet die Biografie der Familiengeschichte der Arendts, ihrer Kindheit und Schulzeit in Königsberg und ihren Jahren in Paris. Dort arbeitete die aus Deutschland emigrierte Schriftstellerin für die jüdische Organisation Agriculture et Artisanat, die sich um die Ausreise jüdischer Jugendlicher nach Palästina kümmerte. Arendt betreute die Jugendlichen, bereitete sie auf ihr neues Leben vor und half aktiv bei ihrer Rettung vor der Verfolgung.

Meyers Darstellung überzeugt durch eine kombinierte Vorgehensweise: einerseits eine chronologische Erzählung, andererseits verschiedene Blickpunkte wie den jüdischen, amerikanischen, literarischen, medialen und feministischen Kontext sowie Arendts ambivalente Beziehungen zu Martin Heidegger und Karl Jaspers. Die Biografie spart auch Kritik an Arendt nicht aus, zumal diese wohlüberlegt und präzise formuliert ist.

Deutlich zeichnet die Biografie die einzelnen Entwicklungsphasen in Arendts Denken und Themen nach. In den Figuren von Martin Heidegger und Karl Mannheim, Stellvertreter für Philosophie und Soziologie, wird sichtbar, wie Letztere zunehmend zum Schauplatz von Arendts Denken ab den späten 30er Jahren werden. Die Biografie, die auf umfangreichen Archivrecherchen basiert, enthält zahlreiche Originalzitate und Dokumente. Ein mittig eingefügtes Fotoalbum ergänzt die Darstellung mit Bildern und ironischen Bildbeschreibungen.

Meyer schreibt klar und konzentriert, verliert sich nicht in Details, trotz der Fülle an Informationen. Ein umfangreicher Appendix mit Fußnoten und Personenregister ergänzt das Buch, das handlich und ansprechend gestaltet ist. Meyer zeigt, warum es gerade jetzt wichtig ist, sich intensiv mit Hannah Arendt zu beschäftigen, indem er sie als politische Denkerin der „radikalen Mitte" beschreibt – radikal im Sinne des Festhaltens an den Wurzeln von Menschlichkeit und Freiheit.

Damit wird Arendt nicht nur zu einem Vorbild für ein aufmerksames Nachdenken in der Gegenwart, sondern ihr Lebensweg und ihre vielfältigen Einlassungen sowohl thematisch als auch zwischenmenschlich eröffnen unzählige Resonanzräume. Diese Räume laden dazu ein, die Kunst der Gegenwärtigkeit zu entdecken und die Lektionen daraus in das eigene Leben zu integrieren.

München: Piper Verlag. 3. Aufl. 2023
521 Seiten m. s-w Abb.
28,00 €
ISBN 978-3-492-05993-0

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