Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Thomas Ramge: Wollt ihr ewig leben?

Im Kanon der traditionell-klassischen Literatur kommt das Phänomen (über-)langen Alterns erstaunlich schlecht weg: Die alte Volkssage vom „Fliegenden Holländer“ erzählt von einem Kapitän, der durch einen heillosen Fluch dazu verdammt wurde, bis zum Jüngsten Gericht mit einem Gespensterschiff auf den Weltmeeren herumzuirren, ohne einen rettenden Hafen, ohne Erlösung zu finden. Oscar Wildes Erzählung „Dorian Gray“ präsentiert einen schönen, aber dekadent-lebenssüchtigen Jüngling, der sich weigert zu altern – er besitzt ein Porträt, das an seiner statt altert und in das sich die hässlichen Spuren seines sündhaften Lotterlebens einschreiben; Dorian endet im Selbstmord. Und Mary Shellys Schauerroman „Frankenstein“ schildert den katastrophalen Untergang eines Arztes, der den Tod durch Erschaffen eines künstlichen (monströsen!) Menschen besiegen will, doch nur dem Schöpfer selbstzerstörerisch ins Handwerk pfuscht. Wohl nicht zufällig verlegt der Deutschen größter Dichter die Verabreichung eines Verjüngungstranks an Faust in eine „Hexenküche“.

Wie man sich solch uralte Menschheits-(Alb-)Träume von langem, ja ewigem Leben im Horizont gegenwärtiger Biotechnologie – als Fluch oder Segen – vorzustellen hat, diskutiert der vielfach preisgekrönte Techniksoziologe und Wissenschaftsjournalist Thomas Ramge im vorliegenden Essay. Als Hinführung zum Problemkomplex exponiert der Autor ein Gedankenexperiment: Ein Arzt des Vertrauens bietet drei verschiedene Pillen an: Die erste ermöglicht eine Lebensspanne von ca. 100 Jahren – ohne Demenz, Krebs u.a. typischen Altersleiden; das Leben endet, ohne genau zu wissen wann, mit angstfreiem, sanftem Entschlafen. Die zweite Pille verdoppelt jenen Zeitraum noch einmal auf ca. 200 Jahre (oder mehr), ebenfalls mit friedlichem Ableben. Und schließlich die dritte Tablette, die ewiges physisches Leben verspricht – eine Ära der „longevity escape velocity“, der rapide/überproportional ansteigenden Lebenserwartung ad infinitum bricht an. Bei Modell 1 und 2 gibt es eine Suizid-Option für den Fall, dass man sich – warum auch immer – von seinem eigentlich unsterblichen Körper befreien will. Seriöse Forscher halten die Szenarien 1 und 2, weil man die Baupläne des Lebens immer besser kennenlernt, eventuell noch in unserer Lebenszeit für erreichbar. Allein in den letzten 150 Jahren hat sich die Lebenserwartung in der westlichen Welt mehr als verdoppelt; Antibiotika, verbesserte Therapien gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs, gesunder Lebensstil u.a.m. sorgten dafür. Doch damit nicht genug: Die Biomedizin schaltet z.Zt. um vom Defensivmodus (Altern bremsen) in den Offensivmodus: Es geht hierbei nicht nur um Altersverlangsamung, sondern darum, die todbringende Krankheit namens Tod zu heilen – letztlich soll das Rad der Lebenszeit Richtung Unsterblichkeit weitergedreht werden!

Der Autor stellt ausführlich die Ansätze sowie Methoden der Biomedizin hierzu dar, z.B. Frischzellen-/Frischblut-Kuren, Stammzellen-/Organzüchtung u.v.a. dar. Erfreulicherweise diskutiert der Autor danach die anthropologische Dimension von extremer Langlebigkeit: Welche individuellen Herausforderungen stellen sich angesichts von „longevity“ und: Was bedeutet dies für die (Welt-)Gesellschaft? Im Blick auf den ersten Komplex ist nüchtern zu prognostizieren, dass es eine eminent persönliche und gesellschaftliche Herausforderung sein wird, die verlängerte Lebenszeit (etwa 80 bis 100 Jahre) sinnvoll und bereichernd – jenseits von Müßiggang und oberflächlicher Betriebsamkeit einer Spaßgesellschaft – zu gestalten. Werden wir staatlich organisierte Institutionen zur Bespaßung der physisch gesunden Hochbetagten brauchen? Und: Führt nicht eine unendliche Lebenszeitperspektive zur öden, unproduktiven Langeweile, weil ja alles (über-)morgen erledigt werden könnte? Als Gegenstrategie ist denkbar, sich ständig selbst so stark zu verändern, dass eine neue Persönlichkeitsstruktur neue Erfahrungsmöglichkeiten eröffnen würde. Aber: Ist unsere Plastizität so groß, dass wir uns immer wieder biografisch neu erfinden sollten? Was wäre der individuelle rote Leitfaden durch all diese verschiedenen Bewusstseinszustände hindurch? Und schließlich die soziale Dimension: Extrem teure „longevity“-Medikamente- und Methoden würden in den reichen Ländern des globalen Nordens einen Zusammenbruch des Renten- und Gesundheits-Systems provozieren. Ethisch höchstproblematisch wäre zudem die Langlebigkeitsperspektive im Blick auf die armen, bevölkerungsreichen Dritte-Welt-Länder – sie wären mit sündhaft teurer Anti-Aging-Medizin kaum zu versorgen. Es käme zu einer Art weltweiter Triage: Welches Leben (wo?) ist verlängerungswert(er) und welches weniger? Dieses Dilemma ließe sich nur in dystopischen Gesundheitsdiktaturen „regeln“. Ebenso schier aporetisch: das Problem der zunehmenden Überbevölkerung bei globaler Langlebigkeit! Am Ende des Essays tendiert der Autor zu der Hoffnung, dass die Forschungsaktivitäten in Sachen „longevity“ zu „erwünschten Nebenwirkungen des menschlichen Ehrgeizes, den Tod zu besiegen“(69), derart führen, dass wir zumindest sorgenfreier und gesünder alt werden. Dann wäre die einschlägige Biotechnologie eher Segen als Fluch.

Begrüßenswert ist einerseits die gelungene Darstellung der neueren „longevity“-Perspektive in den biologischen und medizinischen Fachwissenschaften und dass der Autor individuelle und gesamtgesellschaftliche Konsequenzen diskutiert. Andererseits ist der Essay im Schwerpunkt auf naturwissenschaftlich-medizinische Themenkreise orientiert. Die inhärenten anthropologischen Probleme des Todesphänomens hätten stärker ausgefaltet werden müssen. So ist der Tod nicht der nur ferne Schlusspunkt der Biografie und stets außerhalb des Lebensvollzugs, vielmehr durchwirkt der Tod vielfältig zwischenmenschliches Geschehen schon in der Gegenwart: etwa die bitteren Erfahrungen von Lassen-Müssen, Erfolglosigkeit und Scheitern, von Abschiednehmen. Der Extremfall ist wohl der Tod dessen, den wir lieben. Insofern das Ego durch das Gegenüber (mit-)konstituiert war, erleidet es eine schwere Verletzung. Der Tod umfängt das Leben bereits im Jetzt und nicht erst morgen oder übermorgen. In diesem Sinne formuliert der gregorianische Gesang: „Media vita in morte sumus.“

Vom Fluch der Unsterblichkeit und Segen der Biotechnologie
Was bedeutet das alles?
Stuttgart: Reclam Verlag. 2023
75 Seiten
7,00 €
ISBN 978-3-15-014352-0

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