Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Thomas Söding: Das Evangelium nach Markus

Kommentare zu biblischen Büchern fallen gattungsmäßig in die Sparte der theologischen Nachschlagewerke. Kaum jemand liest einen exegetischen Kommentar von A bis Z, sondern man konsultiert üblicherweise verschiedene Exemplare der Spezies gezielt zu einer bestimmten Perikope oder Fragestellung. Wie schlecht diese Herangehensweise sein kann, zeigt der neue Kommentar zum Markusevangelium vom Thomas Söding, kürzlich emeritierter Professor für Neues Testament an der Universität Bochum, Vizepräsident des Synodalen Weges und theologischer Berater der Weltsynode. Mit seinem Kommentar kehrt Söding fast 40 Jahre nach seiner Dissertation zum Glaubensverständnis des Markusevangeliums, zu seiner „ersten exegetischen Liebe“, zurück und fügt hinzu, die „Arbeit am Kommentar hat sie nicht erkalten lassen, sondern vertieft“ (Vorwort).

Die Liebe zum Markusevangelium und die Verwurzelung in der katholischen Kirche sind dem Kommentar deutlich anzumerken. Wie der Hausherr, der aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt (Mt 13,52), schöpft Söding aus einem reichen Schatz von der patristischen Exegese bis zu erinnerungstheoretischen Ansätzen, die ihm als katholischem Ausleger näher liegen als den Kolleginnen und Kollegen aus der reformierten Tradition. Entsprechend liest er das Markusevangelium als fundierende Geschichte von Jesusnachfolgern für Jesusnachfolger: „Das Markusevangelium ruft durch Erzählen in Erinnerung, dass Jesus als Sohn Gottes das Reich Gottes verkündet hat. Es ist in und für Gemeinden geschrieben worden, die eine Orientierung im Glauben suchen“ (1).

Das ausgiebige Schöpfen aus der Tradition macht den Kommentar aber nicht langatmig. Im Gegenteil ist die Verbindung von exegetischem und theologischem Arbeiten so gut gelungen, dass sich der Text kurzweilig, informativ und glaubensvertiefend liest und man hier unbedingt eine Ausnahme von der sonst üblichen selektiven Kommentarlektüre machen sollte. Da Söding stark mit Erzähltheorie arbeitet und das Markusevangelium als einen zusammenhängenden erzählerischen Entwurf liest, den er plausibel nicht in Rom, sondern eher in der Nähe zum Heiligen Land – Syrien oder Dekapolis – verortet, hilft die fortlaufende Lektüre, Erzählbögen und theologische Linien zu erfassen. Doch Söding ist nicht nur ein exzellenter Exeget, sondern auch ein guter Didaktiker, der so klar strukturiert, dass sich die Gliederung intuitiv erfassen lässt und jenseits der Abschnitts- und Perikopeneinteilung ohne Zwischenüberschriften auskommt. Die graphische Umsetzung mit Petittexten erlaubt zudem eine rasche Orientierung über den Text. Die einzelnen Perikopen werden in den Schritten Struktur, Tradition, Einzelexegese, historische Rückfrage und kurze Auslegung erklärt. Auf exegetischen Fachjargon wird weitgehend verzichtet, was Nichtfachleuten entgegenkommt. Die Auslegungen sind – wie man es von den Texten Södings gewohnt ist – wissenschaftlich präzise, theologisch klar und geistlich inspirierend. Sie regen an, das Buch häufiger sinken zu lassen und über das eben Gelesene und Gelernte nachzusinnen.

Die Feldkompetenz zeigt sich auch an der Verarbeitung einer großen Menge von Sekundärliteratur, die ältere und neuere Ansätze berücksichtigt, ohne zu überfordern, und adressatenorientiert (mit hilfreichen Kurzzusammenfassungen) dargeboten wird. Dass Söding sich nicht auf deutsche und englische Titel beschränkt, sondern auch französische, italienische, spanische und niederländische Literatur einarbeitet, macht den Kommentar im doppelten Sinne katholisch. Dem Anliegen der Kommentarreihe entsprechend ist er im besten Sinne theologisch und positioniert sich erfreulich klar gegen antijudaistische Lese- und Auslegungstendenzen. Die Vielzahl von Verweisen auf die jüdische Tradition zeigt, wie fest das Markusevangelium in dieser Tradition verwurzelt ist. Auch wenn es sich an eine diversere Leserschaft wendet, die Söding treffend nicht „Adressaten“, sondern „Adresse“ nennt, wird die Autorschaft durch einen Jesusnachfolger aus dem Judentum plausibilisiert.

Insgesamt ist der Kommentar außerordentlich erfreulich gut zu lesen und exegetisch auf der Höhe der Zeit. Manches mag sehr katholisch herüberkommen und manch neuerer Trend wie Feminist oder Postcolonial Studies mag fehlen; dafür ist Thomas Söding ein zeitloses Werk gelungen, das in kirchlich schwierigen Zeiten souverän den Bogen zwischen antikem Text und moderner Leserschaft spannt. „Markus“, schließt er, „schreibt nicht in der Pose dessen, der alles weiß, sondern in der Haltung der Aufmerksamkeit sowohl für das Wort Jesu als auch für das Unverständnis und das Unvermögen der Jünger: denn Jesu Worte bleiben in Ewigkeit und die Krise der Jünger ist nicht das Phänomen einer überwundenen Vergangenheit, sondern das Charakteristikum einer fordernden Gegenwart“ (465). Großartig!

Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament
Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. 2022
467 Seiten
38,00€
ISBN 978-374-05347-6

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