Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Thomas Weckerle (Hg.): Michael Morgner. Werkverzeichnis Bilder und Plastiken

Bereits im ersten Jahr an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig weiß ein junger, 1942 in Chemnitz geborener Student ganz genau, was er nicht will: keinen sozialistischen Realismus – „es darf nicht“, sagt er 2020 rückblickend, „aussehen wie DDR-Kunst“. Nach dem Studium (1961-1966) kehrt er zurück ins nahe gelegenen Einsiedel, wo er bis heute als freischaffender Künstler lebt und arbeitet.

Der junge Student heißt Michael Morgner und ist als Zeichner, Druckgrafiker, Maler und Stahlplastiker, aber auch als Aktionskünstler hervorgetreten. Nach Jahren des Suchens hat er zu einem eigenständigen und unverwechselbaren Stil gefunden. Er wurde mit etlichen Preisen – wie 2012 dem „Gerhard-Altenbourg-Preis“, dem Kulturpreis des Landes Thüringen, und 2018 dem „Kunstpreis zu Ehren von Karl Schmidt-Rottluff Chemnitz“ – ausgezeichnet. Nachdem im Jahr 2000 unter dem Titel „Figur + Metapher“ ein Werkverzeichnis seiner Druckgrafik erschienen ist, folgte zu seinem 80. Geburtstag 2022 ein Werkverzeichnis seiner Leinwandbilder und Skulpturen; ein Werkverzeichnis der Zeichnungen ist geplant.

Das voluminöse und großformatige „Werkverzeichnis Bilder und Plastiken“ mit ausklappbaren Seiten mehrteiliger Tafeln besteht aus einer konzisen Einführung des Herausgebers Thomas Weckerle in das Werk des Künstlers (6f), sieben knappen, aufschlussreichen Aufsätzen (10-54), den erfassten Bildern (71-332) und Plastiken (333-398) sowie einem Anhang mit Biografie und Ausstellungen (398-407). Die Zusammenstellung so vieler Werke mit Titel, Entstehungszeit, Technik, Größe und Besitzverhältnissen nötigen dem Rezensenten großen Respekt ab.

Das vorliegende Werkverzeichnis umfasst Bilder aus 60 Jahren: die frühesten aus dem Jahr 1961, die letzten von 2021. Dabei ist festzuhalten, dass die Zeichnung und der Tiefdruck die Grundlage für Morgners Malerei bilden. Wie die sich entwickelt hat, kann der Betrachter beim Durchblättern nachvollziehen: Ab Mitte der 1970er Jahre werden die Gestalten abstrakter und ab Mitte der 1980er Jahre wird die Farbpalette auffällig reduziert (s. Brigitta Milde). Insbesondere entwickelt der Künstler ein eigenes Formenvokabular. Es besteht zum einen aus anthropomorphen Figuren wie dem (aufrecht) Schreitenden und der (geduckten) Angstfigur, dem Gekreuzigten oder dem Aufsteigenden; sie können von einem technoiden Kokon, der manchmal aufgesprengt ist, umschlossen sein. Diese Figuren greift Morgner auch in seinen flächigen, bis zu 8,50 Meter hohen Skulpturen auf, die im Außenraum ausgestellt durch den Rost die Patina der Vergänglichkeit hinzugewinnen (s. Jutta Penndorf). Diese menschenähnlichen Gestalten sind Metaphern oder „Sinnbilder existenziell menschlicher Situationen und Empfindungen“ (Thomas Weckerle). Die anthropomorphen Figuren werden zum anderen durch die geometrischen Figuren Dreieck, Kreuz, Pfeil (sowie Buchstaben wie A und Z oder KZ) ergänzt, die je nach Kontext „eine zweite Ebene bildlicher Argumentation“ (Ulrich Krempel) bilden.

Cornelia Nowak charakterisiert Morgners Bildern zu Recht als „Schöpfung mit Narben“, was mit den eingesetzten ästhetischen Mitteln zusammenhängt. Da ist zuallererst die zufällig entdeckte, ab 1977 praktiziert Lavage: Mit Tusche beschriebenes Papier wird mit einem Wasserstrahl abgespritzt, wodurch zufällige graue Strukturen entstehen, die ähnlich einem Palimpsest zum Ausgangspunkt weiterer Gestaltung werden. Eine weitere Technik ist die Decollage: Das Bestreichen von dickem Büttenpapier mit braunem, benzinverdünntem Asphaltlack ermöglicht es, die oberen Schichten partiell zu „häuten“, um so die tieferen und helleren Schichten „freizulegen“; dieses Vorgehen zerstört die glatte Oberfläche und sichtbare „Narben“ bleiben zurück. Deshalb erfordern Morgners großformatige Werke einen doppelten Blick: den auf Abstand, um es als Ganzes erfassen zu können, und den aus der Nähe, um die reliefartige Oberfläche mit den vielen Figuren und Vertiefungen überhaupt erkennen zu können. Die Decollage ist ein „archäologischen“ Verfahren und kann als eine Metapher für individuelle wie gesellschaftliche Prozesse des heilsamen Erinnerns an Verdrängtes (s. Wolfgang Holler) verstanden werden.

Zwei Beiträge widmen sich Hauptwerken Morgners: Ulrich Kafka stellt die vier 4,80 x 3,00 Meter großen Bilder mit den Titeln Urknall, Kreuzigung, Höllensturz und Auferstehung vor, die seit 2014 im Dom zu Meißen hängen. Die im nördlichen Seitenschiff wie Bildteppiche aufgehängten zeitgenössischen Werke bilden geradezu eine Symbiose mit der gotischen Architektur. Noch umfangreicher ist der „Codex Morgner“, ein moderner Kreuzweg, der mit der „Schwarzen Kreuzigung“ beginnt: In vierzehn Stationen, die 3 x 5 bzw. 5 x 3 Meter messen, wird das seit dem Tod Christi durch menschliche Barbarei angehäufte Leid durchschritten – um doch versöhnlich auszuklingen. Diese riesigen Bilder sind in keinem Innenraum, sondern in großen Glasvitrinen in der Natur platziert, so dass Betrachter nicht von ihrer schieren Größe erschlagen werden. Der 2017 in Premnitz eröffnete Kreuzweg wird künftig auf La Gomera zu sehen sein.

Was bisher nur angedeutet wurde, muss zum Schluss ausdrücklich hervorgehoben werden: Ein – eher: das – Lebensthema Morgners ist die Fragilität menschlichen Daseins: unserer je individuellen Existenz, unserer moralischen Verfasstheit, unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnung wie unserer Existenz als Gattung, die ja nicht länger selbstverständlich ist. Der Künstler wurde von schwerer Krankheit getroffen und hat den Verlust geliebter Menschen erlitten. „Der Tod“, sagt Morgner 2012, ist „der Grundton meiner Arbeit geworden“. So hat er dem Tod seiner ersten Frau in berührenden Zeichnungen und Grafiken einen künstlerischen Ausdruck gegeben. Michael Morgners Bilder haben so gar nichts Gefälliges und erschließen sich erst auf den zweiten Blick – und können eben deshalb tröstlich sein.

Berlin: Hatje Crantz Verlag. 2022
408 Seiten m. farb. Abb.
98,00 €
ISBN 978-3-7757-4839-1

Zurück