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Tilmann Haberer: Kirche am Ende
Das Buch reiht sich in eine Fülle von Büchern ein, die sich mit dem Niedergang und möglichen Neuaufbruch der Kirche beschäftigen. „Kirche ohne Mitte“, „Die Kirche ist tot – es lebe die Kirche“, „Die Kirche brennt“, „Reboot – Jetzt mehr Kirche wagen“ etc. und jetzt noch „Kirche am Ende“.
Die Stärke des Buches liegt darin, dass der evangelische Autor viele interessante christliche Projekte jüngerer Zeit vorstellt, die beeindrucken und inspirieren: zum Beispiel das Projekt „Polylux – Mach was Schönes“, bei dem Christen in eine etwas heruntergekommene Plattenbausiedlung gezogen sind, um dort mit Gebet, Gespräch und Sozialarbeit Christsein zu leben, oder die Bauwagenprojekte, bei denen ein Bauwagen als mobile Kirche für Gespräche und Begegnung dient. Die Initiatoren von „Munich Church Refresh“ sind mit zwei Lastenfahrrädern unterwegs, versorgen Passanten in der Münchner Innenstadt mit frischem Kaffee und beginnen Gespräche über den Glauben. Inzwischen haben sich auch etliche christliche Podcasts etabliert, die viele Menschen in ihrem Alltag begleiten. Der Autor hebt solche Projekte zu Recht als Zeichen eines sich wandelnden Christentums hervor. Sie lassen vielleicht etwas davon erahnen, wie Christsein morgen gelebt werden wird. Der Autor ist überzeugt, dass das Christentum von morgen keine klaren institutionellen Formen besitzen und durch das ständige Ausprobieren von neuen Formaten gekennzeichnet sein wird.
Diese Vision wird umso strahlender, wenn ihr vom Autor als Kontrastfolie die alte Steuer- und Beamtenkirche, die Volkskirche mit ihrer Versorgungsmentalität, die immobile Kirche mit ihrem Besitz und ihrer dogmatisch verkrusteten Hauptamtlichen-Theologie gegenübergestellt wird. Das Christsein von morgen hingegen wird mit den Armen der Gesellschaft leben, es wird bunt und glaubwürdig sein, Buße tun, beten und das Gerechte tun. Konfessionsgrenzen spielen keine Rolle mehr.
Das alles hat den Anschein, als wolle der Autor die schöne neue Welt der Start-up-Unternehmen ins Christliche übersetzen. In solchen Unternehmen verfolgen engagierte junge Menschen ihre persönliche Vision. Sie kennen keine Hierarchien, sind unglaublich tolerant, sie mögen sich, sprühen vor Kreativität, sind nebenher noch sozial tätig und meistens erfolgreich. Ja, das mag es geben – aber da ist auch die Schattenseite solcher wunderbaren Start-ups: Selbstausbeutung, geringer Lohn, keine soziale Absicherung, ständiger Druck und dauernde Sichtbarkeit, keine wohltuende Distanz zu den Anderen usw. Da ist es nicht schlecht, wenn es noch veraltete Institutionen wie Gewerkschaften gibt …
So kann ich dem Autor in seiner Vision eines Christseins von morgen nicht folgen, auch wenn der Aufbruchsgeist beeindruckend ist, den er mit seinen Beispielen und Charakterisierungen zukünftigen Christseins verströmt. Zum Schluss kommen ihm allerdings selbst Zweifel, ob denn die Christen auch die Zeit, Kraft und Bereitschaft zum Engagement aufbringen werden. Hier wäre vielleicht eine Theologie gefragt, die nicht die Sühnevorstellung als mittelalterliches Relikt abtut und nicht das Handeln den Worten vorordnet, wie dem Autor vorschwebt.
Das Christsein von morgen wird sicher ein anderes sein, aber ob es ein besseres sein wird, daran habe ich meine Zweifel. Es könnte auch sein – um einen angesichts der etablierten Kirchenkritik unserer Tage beinahe ketzerischen Gedanken zu äußern –, dass die in jeder Hinsicht überalterte Kirche sich angesichts eines säkularisierten Umfeldes im Großen und Ganzen gar nicht so schlecht schlägt. Die heutige Gesellschaft hat schon länger keine religiösen Bedürfnisse mehr und soziale Notlagen können anderweitig gelöst werden. Alle schreien nach Engagement, Selbstverantwortung und Leistung – und daneben steht eine Kirche mit Menschen, die auch keine Zeit haben und unter Druck stehen. Diese Menschen werden getragen von bloßen geistlichen Worten, von einem schwankenden Glauben und geben hier und da etwas von ihrer christlichen Überzeugung weiter. Sie freuen sich an verbliebenen institutionellen Kirchenresten, die etwas Halt in einer auf Dynamik getrimmten Welt geben. Diese Christenmenschen setzen nicht auf die besondere Aktion und sind nicht ständig im Aufbruch. Sie stellen einen etwas belächelten Kontrast zum Ideal ihrer Zeit dar. Aber sie könnten darin einen längeren Atem als unsere neue Projektwelt haben. Sie glauben schließlich noch, dass die Kirche nicht am Ende ist, sondern am Ende die Kirche steht.
16 Anfänge für das Christsein von morgen
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2023
288 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-579-07196-1