Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Tomáš Halík: Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage

„Eine Wahrheit, die aufhört ein Weg zu sein, ist tot.“ (49) – Mit klaren, verständlichen und im Kontext konkreten Sätzen zur Revision des zeitgenössischen Christentums fesselt der tschechische Priester, Soziologe und ReligionsphilosophTomás Halík von der ersten bis zur letzten Seite seines jüngsten Buches. „Der Nachmittag des Christentums“ erschien auf Tschechisch bereits 2021 und wird in diesen Tagen bei University of Notre Dame Press auf Englisch publiziert, hier jedoch mit der wörtlichen Übersetzung des originalen Untertitels „The Courage to Change“. Der Mut zur Veränderung, das heißt zur Offenheit für andere Konfessionen, Religionen, säkulare Weltanschauungen, sowie der Aufruf zur metanoia, einer inneren Umkehr auch der kirchlichen Institutionen, durchwirkt als Leitmotiv alle 16 Kapitel des Buches. Es ist daher nur schwer zu verstehen, warum die deutsche Ausgabe den Appellcharakter des Untertitels zurückgenommen hat in „Eine Zeitansage“.

Das ist nicht nur nichtssagend, sondern genau getrachtet nahezu sinnverkehrend. Denn Halík gelingt eine inspirierende Betrachtung der Wandlungen und geistesgeschichtlichen Bewegungen von der Entstehung des Christentums, dessen Anhänger zuerst „Menschen des neuen Weges“ genannt wurden, über die Mystik des Mittelalters bis zur herausfordernden Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, atheistischen Bestrebungen und weltanschaulichen Gleichgültigkeit der Gegenwart. Sie nimmt den transformierenden Charakter der Geschichte in den Blick und ist gleichermaßen entfernt von Untergangsbefürchtungen, Durchhalteparolen oder reinen Zeitanalysen. Vielmehr ermutigt Halík dazu, die Zeichen der Zeit unerschrocken zu lesen, auch wo sie herkömmlichen christlichen Vorstellungen zuwiderlaufen. In den antireligiösen, aber humanistischen Reflexen der verschiedenen Aufklärungsphasen der Neuzeit und Moderne oder in der mitunter suchenden Orientierungslosigkeit der „Nones“, den weltanschaulich Ungebundenen der Gegenwart, sieht der Autor bedeutende Wegmarken. Sie können die Codes der Wirksamkeit eines Glaubens sein, der noch als „faith“, wenn auch immer seltener als „believe“ übersetzt werden will. Der Sinnsuche spricht Halík eine größere Gottesnähe zu als einem versteinerten dogmatischen ‚Wahrheitsbesitz‘ – er respektiert den Zweifel ausdrücklich als einen Bruder des Glaubens. Das Kapitel 14 „Der Glaube der Nichtgläubigen und das Fenster der Hoffnung“ spiegelt etwa einen sehr persönlichen inneren Dialog v.a. mit dem geschätzten Atheisten André Comte-Sponville. Zu solcher Offenheit gelangt der päpstliche Prälat Halík (Ehrentitel durch Benedikt XVI.) in der konsequenten Anwendung und Fortführung des schon alttestamentarischen Topos vom Wirken Gottes in der Geschichte der Menschen, hier Israels: Wenn diese Emanation, gesteigert noch im Ursakrament der Menschwerdung in Jesus Christus, tatsächlich wirkmächtig ist, wie kann dann theologisch gleichsam ‚aussortiert‘ werden nach menschlichen Kriterien, anstatt „Gott in allen Dingen“ (Ignatius von Loyola) zu suchen?

Auf den Gründer des Jesuitenordens bezieht sich Halík immer wieder und erschließt damit nicht zuletzt einen Aspekt der jesuitischen Spiritualität von Papst Franziskus – ihm ist das Buch gewidmet, der in einem Interview sagt: „Unser Leben ist Gehen, Wandern, Tun, Suchen, Schauen.“ Die Prozesstheologie Halíks sucht geschichtliche Dynamik auf ihre göttlichen Zeichen, ihre Sinnhaftigkeit hin zu lesen, sie kontemplierend in einer weit über das Rationale hinausgehenden Weise behutsam in der Perspektive der Hoffnung zu deuten. Sie strebt damit bewusst einen Gegensatz zur Beharrung scholastischer Lehrgebäude, fundamentalistischer Behauptungen oder zu einem rein analytischen Nihilismus an. Es geht also weder um eine belehrende ‚Ansage‘ an die heutige Zeit noch um eine wertende Aussage über unsere Zeit; vielmehr geht es um eine selbst demütige und zugleich zur Demut motivierende Versöhnung mit der eigenen Zeit, in der sich der liebende, nie ganz zu fassende Gott (im Gegensatz zu allen verdinglichten, berechenbaren Götzen) zeigt.

Halík ist ein dem christlich-katholischen Glauben tief loyales und zugleich hochgradig kritisches, bewegendes, ja umwälzendes Buch gelungen. Möglicherweise konnte es so nur von einem Geistlichen geschrieben werden, der aus dem Untergrund des ehemaligen Ostblocks kommt und ein echter ‚Überzeugungstäter‘ ist. Der 1948 geborene Halík wurde mit 30 Jahren heimlich zum Priester geweiht und war enger Mitarbeiter von Václav Havel und Kardinal Tomásek. „Der Nachmittag des Christentums“ lässt spüren, dass der Autor nicht nur soziologisch den Puls der Zeit fühlt, sondern intimste und breiteste seelsorgerische Erfahrung hat. Er lässt den Leser – ohne Details zu nennen – wissen, was er in der Arbeit mit sexuell missbrauchten, homosexuellen und geschiedenen Menschen erlebt hat, wenn er bekennt, ihn hätten die Lehrbücher der katholischen Moral zu lange den Blick auf die individuellen Probleme verstellt: „Heute schäme ich mich dafür“ (273). Es seien die Wunden der Menschen, in denen sich Jesus offenbart.

Im Haupttitel des Buches wird die derzeitige Lage des Christentums (und seine Potentiale) parallelisiert mit einer Entwicklungsphase des Individuums, die C.G. Jung als eine Phase nach dem mittäglichen Tief beim Erreichen der wesentlichen Lebensziele beschrieben hat. Der Mensch – und nach Halík die Bewegung des Christentums als Ganze – musste im Mittagstief vieles hinter sich lassen und herbe Verluste erleiden, um sich jetzt zu einem reiferen Zustand zu transformieren. Es gilt diese Transformation nicht als Untergang zu begreifen, sondern als metanoia. Dies ist, keine Beschreibung, sondern ein Aufruf!

Aus dem Tschechischen von Markéta Barth unter Mitarbeit von Udo Richter
Freiburg: Herder Verlag. 2022
317 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-451-03355-1

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