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Walter Baier: Marxismus. Geschichte und Themen einer politischen Theorie
„Dieses Buch soll kein Lehrbuch sein“ (11), heißt es in der Einleitung. In weiten Teilen ist es dies aber dann doch. Walter Baier präsentiert uns – immerhin zuverlässig und gut lesbar – zunächst die klassischen Lehrstücke eines recht orthodox verstandenen Marxismus. Keine Rede davon, dass dieser „Marxismus“ erst eine Erfindung von Friedrich Engels war, der im Bestreben, die von ihm und Karl Marx entwickelten Theorieelemente für den Zeitgeist seines Jahrhunderts salonfähig zu machen, ein in sich geschlossenes, dogmatisches Lehrgebäude schuf. Mit seinem „Anti-Dühring“ hat Engels aus einer kritischen Gesellschaftstheorie eine recht fragwürdige Weltanschauung gemacht und damit eine m. E. fatale Rezeptionsgeschichte des Marxʼschen Werkes eingeleitet. Und Baier fügt sich im 21. Jahrhundert erstaunlich unbekümmert in diese Rezeptionsgeschichte ein. Erklärtermaßen – und subjektiv durchaus glaubwürdig – sucht Baier den Dialog mit anderen Denkansätzen bis hin zur lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. Aber wie weit trägt dieser Wille zum Dialog, wenn man letztlich doch den avantgardistischen Anspruch erhebt, „den“ Marxismus zur „Universalsprache der sozialen Bewegungen“ (8) zu machen?
Baier reiht sich in ein Marxismusverständnis ein, das die vielen – und zum Teil recht grundsätzlichen – Selbstkorrekturen im Marxʼschen Werk glattbügelt, als ob der Marx der „Pariser Manuskripte“ derselbe gewesen wäre wie der des Spätwerks, als ob die heute naiv anmutende Technikbegeisterung und der Industrialismus des „Kommunistischen Manifests“ nicht in deutlichem Widerspruch stünden zu den ökologischen Einsichten des späten Marx. Natürlich bekennt sich Baier – wie könnte man es vom ehemaligen KPÖ-Vorsitzenden und Herausgeber der „Volksstimme“ anders erwarten – zur Dialektik als Methode. Da spielt es dann keine Rolle mehr, dass Marx selber genau wusste, dass die Anwendung von Hegels Dialektik außerhalb des Rahmens seiner idealistischen Philosophie rechtfertigungsbedürftig ist, dass er selbst diese Methode (nachzulesen im berühmten „Methodenkapitel“ der „Grundrisse“) lediglich auf die Analyse der kapitalistischen Ökonomie beschränkte und dass ihm nie in den Sinn gekommen wäre, aus Hegels „Subjekt-Objekt-Dialektik“ einen Passepartout für das Verständnis der Wirklichkeit insgesamt zu machen. Für einen Menschen des 19. Jahrhunderts durchaus nachvollziehbar, ist ein Beharren auf einer Naturdialektik im Sinne Engels angesichts der heutigen wissenschaftstheoretischen Einsichten schlicht nicht mehr ernst zu nehmen.
Baier stellt auch jene klassischen Lehrstücke nicht infrage, die selbst unter Marxisten umstritten waren und sind, und er tut gerade so, als ob es bestimmte Diskussionen nie gegeben hätte. Gerade wenn es einem darum geht, die kritischen Einsichten von Marx für heute fruchtbar zu machen, dann sollte man ihn auch beherzt von den Schlacken des 19. Jahrhunderts befreien. Davon ist Baier leider weit entfernt.
Das alles soll aber die unbestreitbaren Stärken von Baiers Buch nicht in Abrede stellen: seine glaubwürdige und kundige Abgrenzung vom Marxismus-Leninismus, sein sehr instruktives Übersichtskapitel über marxistische Faschismustheorien, seine Würdigung der Austromarxisten und sein Bemühen um die Integration feministischer Ansätze. Gerade angesichts so gefährlicher aktueller sozialchauvinistischer Tendenzen wird man Baiers Rezeption der Dependenztheorie (v. a. Samir Amin) nicht hoch genug schätzen. Bedauerlich ist, dass Baier den „Ökosozialismus“ anscheinend nur in der Gestalt zur Kenntnis nimmt, die sich mit einem Marxisten des „Kommunistischen Manifests“ verträgt (Michael Löwy), und genau jene ökosozialistischen Strömungen ignoriert, die darum wissen, dass nicht nur der Kapitalismus mit seinem Wachstumszwang, sondern radikaler noch der Industrialismus zur Disposition steht (Saral Sarkar). Sehr anerkennenswert ist es, wie redlich Baier die Theologie der Befreiung rezipiert. Er ist für einen Nicht-Theologen erstaunlich gut informiert, seine Darstellung enthält sich jeder polemischen Verzerrung und bemüht sich um ein echtes Verstehen der Anderen. Hier löst er seine Bereitschaft zum Dialog sehr glaubwürdig ein – ganz im Sinne von Ernst Bloch, der in Marxʼ eigener Charakterisierung der Religion als „Ausdruck des Elends“ und „Protestation“ zugleich einen Gesprächsraum eröffnet sah. Jürgen Habermas hat zum Erstaunen vieler einmal bekannt, dass ausgerechnet Joseph Ratzinger für ihn ein interessanter Gesprächspartner sei, weil er hier die Gewissheit habe, dem Katholizismus authentisch zu begegnen. Vielleicht sollten Theologen genau diesen Standpunkt Baier gegenüber einnehmen. Ein lohnender Gesprächspartner im gemeinsamen Ringen um humane Verhältnisse wäre er allemal.
Berlin: Mandelbaum Verlag. 2023
311 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-85476-912-5