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Wie kommt der Religionsunterricht zu seinen Inhalten?
Lange Zeit galten Lehrplanfragen im Religionsunterricht als vernachlässigenswert. In der Regel bestimmten Lehrkräfte weitgehend selbst, welche Inhalte mit Blick auf ihre Adressaten zu verhandeln waren. Erst im Gefolge von PISA wurde der regulierende Wert von Fachgruppen und schuleigenen Lehrplänen entdeckt. Allerdings blieb eine inhaltliche Neuorientierung des Faches aus, stand doch nun in erster Linie der Outcome im Fokus. In der Regel begnügten sich deshalb die Lehrplaner damit, den etablierten Mix aus christlichen Kerninhalten, aus lebensweltlichen und gesellschaftlichen Themen mit Operatoren zu versehen, was weder zu einer Konzentration des Fachlichen beitrug noch die Frage klärte, was in einer zunehmend sich entchristlichenden Gesellschaft eigentlich als religionsbezogene Bildung gelten könnte.
Angesichts der Tatsache, dass alle Bundesländer nun auf konfessionell-kooperativen bzw. christlichen Religionsunterricht umstellen, ist das Erscheinen des vorliegenden Sammelbandes mit Tagungsbeiträgen aus dem Jahr 2022 höchst begrüßenswert. Das Buch hebt nicht nur die wichtige Frage nach dem inhaltlichen RU-Profil neu ins Bewusstsein, sondern nimmt zugleich die bedeutsamen Konstruktionsbedingungen der Inhaltlichkeit in den Blick. Nebenbei räumt es mit der Chimäre auf, bei den Landes- und Schul-Curricula sowie den Unterrichtsvorhaben der Lehrkräfte handele es sich um mehr oder wenig sorgfältig designte konfessionelle Produkte gemäß Art. 7,3 GG.
Schon der hinführende Beitrag der Herausgeberinnen (21-46) zeigt auf, welche grundlegenden Fragen im Definitionsprozess von Inhalten und Themen bei der Erstellung von Landes-Curricula eigentlich gestellt werden müssten.Wie ist beispielsweise das Verhältnis von Wissenschafts-, Schüler- Praxis- und Lebensweltorientierung zu denken? Oder: Wie ist die Gewichtung von gesellschaftsöffentlichen Anfragen an Religion einerseits und binnenchristlicher Systematik andererseits zu bestimmen?
Dass die Inhaltsdimension angesichts der veränderten Rahmenbedingungen des Faches deutlicher als bislang mit der Relevanzproblematik zu verknüpfen ist, steht für die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes außer Zweifel. Gerade vor dem Hintergrund einer notwendigen Neuorientierung des Faches – wenn es denn auf dem Markt der Schulfächer noch eine Chance haben möchte – müssen klassische Inhalte in Lehrplänen weichen und Platz machen sowohl für neue Herausforderungen wie Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung (rBNE), Medienbildung im Kontext von Digitalität etc. als auch für eine neue schülerorientierte Bestimmung dessen, was ein junger Mensch als „christliche Grammatik“ benötigt, um einerseits mit sich selbst umgehen, andererseits als soziales Wesen im eigenen Umfeld, in der Gesellschaft und in der Welt orientiert und lebensfähig sein zu können.
In diesem Sinne enthält der Band eine gelungene Zusammenstellung aus empirischen, normativen und konditionalen Zugängen. Adressaten sind neben der religionspädagogischen Zunft in erster Linie Verantwortliche in kirchlichen Ordinariaten und Lehrkräfte mit transschulischen Aufgaben. Das Anliegen der Herausgeberinnen ist nicht, neue Positionen formulieren zu lassen, sondern die bekannte Fachexpertise zu fluchten mit Blick auf die Revision der Lehrpläne. So zum Beispiel der Beitrag von Ulrich Wien (125-140). Er plädiert für einen Paradigmenwechsel in der ohnehin kaum mehr eine Rolle spielenden Kirchengeschichtsdidaktik. Diese gelte es aus ihrer Engführung dadurch zu befreien, dass Paradigmen wie Religionsfreiheit, Transformation, Biographie etc. an globalen Exempla für die Schülerinnen und Schüler fruchtbar gemacht werden sollen.
Andere Aufsätze verdeutlichen das mit der entwickelten Moderne gegebene Spannungsverhältnis zwischen einem auf „Brauchbarkeit“ abzielenden subjektbezogenen RU – Stichworte: Problemorientierung, Anforderungssituationen – und der Eigenlogik der Überlieferung. Dass theologische Wissenschaften, sofern sie überhaupt didaktische Interessen besitzen, nicht nur die vermeintliche Reduktion christlicher Ansprüche im unterrichtlichen Geschehen im Blick haben sollten, sondern auch nach ihrer eigenen Verantwortung für gelingende gesellschaftliche Kommunikation von Fachanliegen zu fragen haben, wird von den Vertreterinnen und Vertretern der einzelnen theologischen Disziplinen zumindest implizit zugestanden.
Der Feststellung, dass in der Inhaltsforschung bislang mehr die geforderte Ebene der Lehrpläne in den Blick genommen wurde und weniger die der tatsächlich stattfindenden Praxis, begegnet Tanja Gojny (191-205) mit ihrem Vorschlag, die vermutete Wirksamkeit des RU anhand von Schülermappen zu erfassen. Die Lektüre eines solchen Beitrags eignet sich auch für Lehrkräfte, die nicht in der Verantwortung stehen, Curricula ausarbeiten zu müssen.
Abschließend sei auf den Beitrag von Georg Bucher verwiesen, der die Perspektive der Konfessionslosen als Grundlage für die Konstitution von Inhalten in Anschlag bringt (311-326). Die beiden Rezensenten schlagen auf dessen Linie vor, Konfessionslosigkeit als Chiffre für Agnostizismus und Indifferentismus mitten im konfessionellen Religionsunterricht zu verstehen und daraus entsprechende Konsequenzen für die Lehrplanung abzuleiten. Wahrscheinlich fehlt dazu aber der Mut. Es setzte nämlich das Eingeständnis voraus, dass ein Neuansatz curricularer religionsbezogener Bildung im öffentlichen Schulwesen nur über die Verabschiedung der Fiktion gelingen kann, dass im Unterricht ausschließlich Christen miteinander kommunizieren. Um wirklich zukunftsfähig zu sein, wäre aber ein christliches Fach zu denken, das sich bindet an die Bildungsbedarfe auch von Nichtchristen.
Tanja Gojny / Susanne Schwarz / Ulrike Witten (Hg.)
Erkundungen zwischen Fridays for Future, Abraham und Sühnetheologie
Religion und Bildung diskursiv Bd. 1
Bielefeld: transcript Verlag. 2024
401 Seiten
44,00 €
ISBN 978-3-8376-6857-5