Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Wolfgang Baum: Wie kommt Gott ins Denken?

Als Handreichung zu Prüfungszwecken gedacht, legt Wolfgang Baum unter der Perspektive des Verhältnisses zwischen Denken und Glauben ein Kompendium des Gottdenkens von der Antike bis zur Gegenwart vor. Der Autor richtet sich an einen größeren Leserkreis, der sich mit dem philosophischen Hintergrund des christlichen Glaubens beschäftigen möchte. Baums historische Tour d’Horizon hat zudem ein existentielles Motiv. Der Überblick dient einer zeitgemäßen Metaphysik. Diese ist notwendig, wenn man an dem Bekenntnis zum biblischen Gott festhalten will.

Nach kurzen einleitenden Ausführungen zu den Anfängen und zur Bedeutung der Schrift (I) bildet beim Gang durch die Antike der Wechsel zwischen einer idealistischen und einer realistischen Denkweise den roten Faden (II). Danach (III) steht das von der biblischen Überlieferung geprägte Gottesdenken im Vordergrund. Dem Bundesgott Israels vertraut der Charismatiker Jesus wie viele seiner Zeitgenossen in der Hoffnung auf die erlösende Befreiung als geschichtlichem Neuanfang. Diese uns heute fremde Erwartung wird durch die Ostererfahrung der Jünger Jesu, ihr Vertrauen auf die Auferweckung des Gekreuzigten, verändert. Ihr Glaube an die todüberwindende Heilstat Gottes als kognitive Dissonanzerfahrung ist eine innere Gewissheit. Der begleitende Sinn- und Perspektivenwechsel wird zudem im Pfingstereignis als gemeinschaftsbildendes Wirken des Heiligen Geistes erfahren.

Im Folgenden (IV und V) stellt der Autor dar, dass und wie der christliche Glaube vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit philosophisch wird: Die Rezeption antiker Begriffe und Denkmodelle durch die Kirchenväter und herausragende mittelalterliche Theologen führt zu innovativen Einsichten. Das wird dadurch möglich, dass Glauben und Wissen in ihrem Zueinander Gottes Weltbeziehung und sein Handeln zum Heil des Menschen plausibel machen können.

Der Heimatverlust des aus dem Zentrum des Kosmos geratenen Menschen und der ihm ferngerückte Gott stellen in der Neuzeit (VI) Glauben und Wissen vor neue Herausforderungen. Empirismus und Rationalismus versuchen auf verschiedene Weise die im Spätmittelalter verlorene Gewissheit wiederherzustellen (VII). Dabei werden die Freiheit des Menschen und ihre Perversion zum Bösen zu einem wichtigen Thema. Ethische Überlegungen und der Stellenwert Gottes in diesem Zusammenhang kennzeichnen Glauben und Denken im Zeitalter der Aufklärung ebenso wie die Offenbarungsskepsis. Letztere verbindet sich bei den jungen Wilden des „Sturm und Drang“ mit der kulturkritischen Auflehnung gegen verkrustete soziale Strukturen. Mit Friedrich Schillers biografisch grundierter Philosophie der Freiheit (VIII), für die Gott der „Ein und Alles“ in einer Geheimlehre, unabhängig von den einzelnen Religionen weiterlebt, meldet sich der Künstler politisch, gesellschaftlich und philosophisch zu Wort. Dessen Denken veranschaulicht Baum auch durch den originellen Hinweis auf den Wandel der Haarmode von der gekünstelten Allongeperücke zur freien persönlichen Haartracht der jungen Generation.

Diesen kurzen, einprägsamen Abschnitt verknüpft der Autor mit der ausführlichen Darstellung der Bedeutung Gottes im Rückbezug auf Aspekte der Ethik Kants sowie auf das Denken Fichtes und Hegels. Dessen Bedeutung hebt Baum im Kernkapitel des Buches über die Systembildungen des Deutschen Idealismus (IX) sehr klar und zugleich anschaulich hervor. In der Rezeption zentraler Begriffe der christlichen Glaubenslehre erweist sich Hegels Denken als ebenso bedeutsam wie in der Beurteilung der historischen Situation der Gegenwart seit 1989. Hegels geistige Haltung, in der sich theologisches und philosophisches Denken wechselseitig durchdringen, sowie seine prozessphilosophische Grundintention finden in der aktuellen Theologie wachsenden Anklang. Wegweisend bleibt dabei, dass Hegel Gott – anders als der neuscholastische Dogmatismus seiner Zeit – nicht als „esse perfectum“ versteht, sondern als dynamischen Gott, der, sich selbst verändernd, das gesamte Weltgeschehen teleologisch bestimmt. Vor diesem Hintergrund versteht Hegel das Christentum weniger als kirchlich verfassten und dogmatisierten Gottesglauben denn als eine geistige Haltung, die die ganze Bandbreite göttlicher Selbstentfaltung zwischen dem Bewusstsein „an sich“, dem Selbstbewusstsein „für sich“ und der alles umfassenden Wirklichkeit „an und für sich“ zu umfassen vermag. In der Geschichte des Nachdenkens über das Verhältnis von Glauben und Wissen erweist sich Hegel für Baum damit als „einer der letzten großen Visionäre“. Denn in der Krise der Moderne (X) fehlen die umfassenden philosophischen Systementwürfe, die das Zeitalter des Idealismus prägten, ja überhaupt alle allgemeingültigen Antworten auf die Frage nach Herkunft und Bestimmung des Menschen.

Das zeigt sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts (XI), in dem die naturwissenschaftliche Empirie den Prozess der Erkenntnisgewinnung zu dominieren beginnt und Feuerbach, Nietzsche sowie etwas später Freud ihre religionskritischen Entwürfe vorlegen. Auch in diesem Kapitel begnügt sich Baum nicht damit, die drei großen Religionskritiker der Post-Hegel-Zeit vorzustellen, er eilt überdies ein Jahrhundert voraus und setzt sich sowohl mit Yuval Noah Harari, der Religionen als illusorische Sinnfelder begreift, als auch mit der Neurophilosophie auseinander, die menschliche Handlungen als determiniert betrachtet und die Gotteskrise zu einer Sinnkrise des Menschen erweitert.

In den beiden letzten Kapiteln des Buches verlässt Baum das chronologische Prinzip, das seine Ausführungen bisher weitgehend bestimmt hat, und befasst sich zunächst mit der Frage nach dem Leid (XII) und dann mit der Frage nach der Zukunft des Glaubens (XIII). Auch hier sind seine Ausführungen fundiert und stellenweise innovativ: Die drei klassischen Modelle der Theodizee (Ordnungstheorie, Privationstheorie, Erbsündentheologie) werden zwar referiert, aber unter Berücksichtigung von Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ weiterentwickelt. Baum liegt viel daran, die Beziehung von persönlicher Schuld und Unrechtsstrukturen herauszuarbeiten. Die individuellen Verfehlungen sollen nicht zugunsten der Strukturen relativiert werden, da sich das Böse bei einzelnen Menschen „erschreckend banaler“ Motive bediene, bei Eichmann etwa einer grundlegenden Charakterschwäche, zugleich jedoch auch durch systemische Voraussetzungen begünstigt werde. Die größte Herausforderung für heutige Menschen ist deshalb nach Baums Auffassung, durch kontinuierlichen Wissenserwerb in den entscheidenden Lebenssituationen für eine angemessene, den eigenen und systemischen Schwächen widerstehende moralische Urteilsbildung gerüstet zu sein. Die Zukunft des Glaubens hängt aber nicht allein davon ab, ob diese Herausforderung gemeistert wird, sondern mehr noch, ob und inwieweit sich der Glaube als kommunikativ erweist. Denn Baum bestimmt das Christentum unter Rückgriff auf Markus Gabriel als Sinnfeldontologie, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit prägt und verändert. Von dieser Verwandlung der Wahrnehmung auf die Welt und die Menschen gelte es immer wieder neu zu erzählen, nicht zuletzt unter Bezug auf jene Wahrnehmungstradition, die sich in den biblischen Texten und der religiösen und philosophischen Überlieferung zeige. Dadurch werde die Kirche zunehmend ihren institutionellen Charakter verlieren und zu einem „zwischenmenschlichen Ereignis“ werden.

Die klar strukturierten, anschaulichen, ausgesprochen lehrreichen philosophischen und theologischen Ausführungen mit vielfältigen aktuellen Bezügen ermöglichen einen spannenden Überblick. Baum zeichnet den Weg des philosophisch-theologischen Nachdenkens über Gott von den Ursprüngen in der griechischen Antike bis zur Gegenwart eingehend und kenntnisreich nach. Die Chronologie ist vom Wechsel gegensätzlicher Denkhaltungen und Richtungen bestimmt, die sich gegenseitig ergänzen. Dadurch wird die Kontinuität der Denkbemühungen über Gott deutlich, die aufeinander verwiesen sind. Das Buch ist ebenso als Nachschlagewerk wie als Einführung zu verwenden. Zur Unterrichtsvorbereitung bietet Baums Darstellung eine gute Unterstützung, auch hinsichtlich der Frage nach dem Zusammenhang und dem Wandel des Verhältnisses von Glauben und Denken. Der belesene Autor führt zudem kurz und klar kommentierte Hinweise auf aktuelle Fachliteratur zur Vertiefung an. Seine Auswahl ist subjektiv gefiltert und gerade deshalb anregend. Sie berücksichtigt gängige (fundamental-)theologische Standardwerke, geht allerdings über das Erwartbare hinaus und führt auch erkenntnisreiche Arbeiten aus Philosophie, Kunst- und Geschichtswissenschaft auf. Im Gegensatz zu einem klassischen deskriptiven Lehrbuch gibt das lesenswerte Buch, ob komplett oder in ausgewählten Abschnitten, für theologische Gespräche zahlreiche Anstöße. So fordern beispielsweise Baums Ausführungen zu den unterschiedlichen Verstehensmodellen beim Thema „Gott und das Leid“ sowie zur Frage nach dem Bösen zur kontroversen Auseinandersetzung geradezu heraus. Seinem eigenen Plädoyer für einen kommunikativen Glauben, der Kirche zum zwischenmenschlichen Ereignis werden lasse, wird Baum mit seinen Erkundigungen zwischen Glauben und Wissen auf überzeugende Weise gerecht.

Erkundungen zwischen Glauben und Wissen
Freiburg: Herder Verlag. 2022
588 Seiten mit s-w Abb.
38,00 €
ISBN 978-3-451-39246-7

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