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Wolfgang Beinert: Dem Ursprung Zukunft geben
Nichts ist spannender als das Leben. Wer aber eine Autobiographie von über 600 Seiten publiziert, muss nicht nur das Leben kennen, er muss es auch noch beschreiben können. Vor allem darf er nicht an Minderwertigkeitskomplexen leiden. Er muss schon wissen, wer er ist, was er kann und vor allem: dass er etwas zu sagen hat.
Und in der Tat: Wolfgang Beinert, Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte, der von 1978 bis zu seiner Emeritierung 1998 an der Universität Regensburg lehrte, hat etwas zu sagen und vermag das, was er zu sagen hat, geistreich und spannend, gewürzt mit zahlreichen zeit- und kirchenkritischen Durchblicken, aber auch mit viel Humor und Selbstironie darzubieten.
Dem Autor geht es um die Botschaft Jesu. Diese verweist auf den Ursprung von allem, auf Gott. Er allein gibt Zukunft, weil er Freiheit schenkt, wie der Autor den Titel seines Buches „vorab“ erklärt (11-13). Deswegen ist und bleibt Beinert in der Kirche. Sie ist ihm Zeichen der Einheit der Menschen mit Gott und untereinander (vgl. Vat II, LG 1). Sie ist der Prozess der Weitergabe des Wortes Gottes, das es in Freiheit aufzunehmen, in sich Gestalt werden zu lassen und der Welt weiterzugeben gilt. Doch, so weist Beinert nach, ausgerechnet in diesem Punkt versagt die Kirche in Europa. Er schildert die Endphase dieses Versagens aus seiner persönlichen Sicht: aus der Perspektive „eines ganz gewöhnlichen Lebens“.
Er beginnt mit seiner Kindheit und Jugendzeit in Breslau (1933-1945), schildert die Nachkriegszeit in Bayern (1945-1952) und ausführlich seine Studienzeiten in Rom (1952-1963) mit dem Großereignis der Kirche: dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965).
Promoviert zum Doktor der Theologie berichtet er von seinen ersten pastoralen Anfängen als Kaplan in Ebrach, einer Pfarrei in der Erzdiözese Bamberg. Sie nimmt er „als prominentes Beispiel für wirksame spirituelle Selbstschädigung der Kirche“ mit bester Aussicht, „ins Handbuch für Kirchenzerstörung, herausgegeben von der höllischen Stabsstelle für Desinformation“, aufgenommen zu werden (245).
Seine Habilitation schrieb Beinert bei Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI. Wie es sich für einen zünftigen und künftigen Dogmatikprofessor gehört, sollte das Thema aus der Mediävistik gewählt werden. Probleme der Gegenwart haben ihre Vergangenheit und können nur im Rekurs auf die Glaubensgeschichte gelöst werden. Nachdem Beinert über das dritte Kirchenattribut in ökumenischer Perspektive promoviert hatte, konzentrierte er sich jetzt auf die Ekklesiologie des 12. Jahrhunderts. Das Ergebnis ließ sich sehen. Die Arbeit wurde publiziert in den „Bäumker Beiträgen“, einer der renommiertesten Reihen für mittelalterliche Philosophie und Theologie.
Bereits ein Jahr später, im Jahr 1971, wurde der Autor Professor an der Theologischen Fakultät der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum. Schon hier traf er den richtigen Ton. Seine Vorlesungen und Seminare hatte Zulauf. Die Studierenden, die zumeist aus dem Ruhrpott kamen, merkten rasch: Hier spricht einer, der tickt ähnlich wie wir: Der redet nicht drum herum. Der spricht auch nicht nur gelehrt. Der spricht vor allem Tacheles, d.h. zielorientiert zur Sache. Sein Schriftenverzeichnis weist heute über 1.500 Veröffentlichungen auf, darunter Standardwerke der Dogmatik.
Beinert gelingt es immer wieder, die großen Entwicklungen der Kirche konkret auf den Punkt zu bringen, z.B. wenn er die Aufmerksamkeit auf Sebastian Tromp (1889-1975) lenkt. Er war einer seiner römischen Lehrer und mehr als zwanzig Jahre im Heiligen Offizium als Consultor tätig. An der theologischen Vorbereitung und Durchführung des Konzils war er maßgeblich beteiligt. Beinert schildert Tromp nicht nur als einen knorrigen, arroganten und neuscholastisch fixierten Sarkasten, sondern auch als jemanden, der das Lehramt für verbindlicher und wirkmächtiger als den Heiligen Geist selbst hielt. Glaube hatte für Tromp nichts mit dem Herzen, nichts mit Vertrauen oder gar Liebe zu tun, sondern war reine Verstandessache, beweisbar wie eine mathematische Formel. Wer den Beweis nicht akzeptierte, war in seinen Augen entweder bösartig oder nur blöde (164ff.). Tromps Geist konnte sich auf und unmittelbar nach dem Konzil nicht durchsetzen, ist aber bis heute in der Kirche virulent.
Man muss nicht mit allem einverstanden sein, was und wie Beinert die Entwicklung in Kirche und Welt beurteilt. Doch hat er Recht, wenn er immer wieder auf die Essentials rekurriert, auf den Glauben an den Gott Jesu Christi. Er ist der Ursprung, der Maßstab und das Ziel von allem. Er ist die Liebe, welche die Angst besiegt und die Freiheit der Kinder Gottes bewirkt. Ein Buch von brennender Aktualität.
Autobiographische Skizzen
Regensburg: Friedrich Pustet Verlag. 2022
616 Seiten m. s-w Abb,
38,00 €
ISBN 978-3-7917-3360-9