Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Ausschnitt des Hildegardisaltars in der Rochuskapelle Bingen © akg-images / Michael Teller

Biographie in Interaktion

Hildegard als Modell biographischen Lernens

Der Politiker im hohen Alter, die Sängerin auf der Höhe ihrer
Karriere und der junge Sportler – sie alle schreiben Biographien. Seit
einigen Jahren boomt der Absatz dieses Genres. Biographien stillen
nicht nur die Neugier, wie eine bekannte Persönlichkeit wirklich
ist und lebt; ebenso wichtig ist vielen, in einer fremden Biographie
einen Spiegel zu finden: zur Bestätigung des eigenen
Lebensentwurfs oder als Perspektive für eigene Wunschvorstellungen.

Biographien bieten Entscheidungshilfen

Die Interaktion zwischen eigener und fremder Geschichte
macht Biographien für heutige Menschen interessant:
Sie erhalten Modelle oder Hilfestellung für
eigene (Lebens-)Entscheidungen und öffnen Zielhorizonte.
Während der „Lebenslauf“ als normierte Phasengliederung
in früheren Zeiten weitgehend vorgezeichnet
war, muss der/die Einzelne heute angesichts
des Bedeutungsverlusts institutioneller Bindungen
und der durch sie tradierten Inhalte (wie Berufslaufbahnen,
Familienmodelle oder Rollenbilder) Entscheidungen
selbst treffen und diese in Auseinandersetzung
mit sich selbst und in Interaktion mit der Umwelt (und
ihrem jeweiligen historischen, regionalen und gesellschaftlichen
Kontext) immer wieder neu plausibilisieren.
Die Herausforderung, ständig Entscheidungen zu
treffen und diese im Kontext der eigenen Lebenswelt
zu verantworten, macht biographisches Lernen heute
unverzichtbar. So ist es nicht verwunderlich, dass sich
Jugendliche noch stärker als Erwachsene an Personen
orientieren, deren Lebensentwurf ihnen attraktiv erscheint.
Biographisches Lernen bezeichnet somit zum
einen Prozesse der Reflexion des eigenen Lebensentwurfs
und zum anderen die Auseinandersetzung mit
Entwürfen anderer Personen.

Lernen an der eigenen Biographie

Eigene Erfahrungen werden erinnert und reflektiert, um
hieraus Konsequenzen für das weitere Leben abzuleiten.
Hans-Georg Ziebertz (Ziebertz 2010, 285) beschreibt
drei Funktionen biographischer Selbstreflexion:
• Die „kognitiv-aufklärerische Funktion“ hilft Klarheit
über Abhängigkeitsverhältnisse zu erhalten.
• Die „aktiv-integrierende Funktion“ kommt zum Tragen,
indem „das Wissen um die Interdependenzen
und die Einsicht in die konkreten Abhängigkeiten
gefühlsmäßig“ verarbeitet wird.
• Die „pragmatisch-handlungsleitende Funktion“
dient zur Erschließung neuer Handlungspotenziale.

Diese Reflexion findet jedoch nicht nur durch individuelles
Nachdenken statt, sondern häufig in Kommunikationsprozessen,
z.B. über biographische Erzählungen,
mit deren Hilfe sich das Subjekt über sich
selbst Klarheit verschafft und die eigene Geschichte
in Beziehung zur Mit- und Umwelt setzt. Das Lernen
folgt der Eigenlogik des Lernenden und seiner Lebensgeschichte.
Das ist der Sinnhorizont, in den diese Lernprozesse
eingeordnet werden, die für die Organisation
und Ausgestaltung der individuellen Biographie unverzichtbar
sind.

Fremde Biographien als Modell

Wie oben angedeutet, lernen wir durch biographische
Selbstreflexion und durch die Auseinandersetzung mit
fremden Biographien. Die Alltagsgeschichtsschreibung
will einer Epoche und ihrem Zeitgeist auf die Spur
kommen, indem sie die Lebensgeschichten der sog.
„kleinen Leute“ eruiert und die (Kirchen)Geschichtsdidaktik
greift Biographien im Dienste eines erfahrungsorientierten
Unterrichts auf.

Fremde Biographien bieten ein Welt- und Selbstverständnis
sowie ein kulturelles Muster zur Gestaltung
des eigenen Lebens an. Sie können Antworten
geben auf die Frage nach der eigenen Identität, Hilfe
leisten bei der Bewältigung von Lebensproblemen und Sinnangebote zur Verfügung stellen. Die christliche
Tradition weiß seit ihren Anfängen um die Bedeutung
biographischer Erzählungen gleichermaßen für den
Einzelnen wie für die Glaubensgemeinschaft. Dies
belegen Heiligenviten, die nicht nur das Leben besonderer
Christen durch die Erzählung ihrer Geschichte
erinnern wollen, sondern gleichermaßen zur Auseinandersetzung
und Nachahmung anregen. Diese Geschichten
unterstreichen die Bedeutung von „signifikanten
Anderen“ für (religiöse) Lehr-/Lernprozesse. Personen
und ihre Geschichte fördern eine Vergemeinschaftung
stärker als Texte. Daher ist es für den Einzelnen und
die Glaubensgemeinschaft unverzichtbar, dass Glaubensinhalte
nicht allein durch Bücher, sondern auch
durch Personen tradiert werden und an deren Lebensgeschichten
abzulesen sind. Wie Familientraditionen
durch Erzählungen weitergegeben werden, so braucht
eine Glaubensgemeinschaft ebenfalls solche persönlichen
Formen der Tradition.

Problematisch ist jedoch, wenn christliche Lebensgeschichten
eher ein Ideal stilisieren als die Realität
abbilden und zwischen den Lebensbedingungen der
fremden Biographie und der heutigen Zeit eine große
historische Differenz liegt. Eine Korrelation zwischen
der eigenen und einer fremden Person ist meist einfacher,
wenn es sich nicht um große Heilige, sondern
um „Helden des Alltags“ (Mendl 2011) handelt. Andererseits
kann die zeitliche und inhaltliche Fremdheit
einer Person dazu motivieren, sich mit einer
unbekannten Welt zu beschäftigen und hieraus Konsequenzen
für das eigene Leben zu ziehen.

Wichtig für eine konstruktive Auseinandersetzung
ist es, zwischen einer fremden Biographie als Vorbild
und als Modell zu unterscheiden: Während das Vorbild
zur Nachahmung anregen soll, ist ein Modell „eine
Orientierungshilfe für das eigene Verhalten, das aber
nicht einfach kopiert wird, sondern auch kritisierbar
oder sogar ablehnbar ist“ (Dietmar und Irene Mieth
1977, zit. n. Lindner 2011, 64).

In diesem Sinn lassen sich die drei Funktionen
biographischer Selbstreflexion auf die Auseinandersetzung
mit einer fremden Biographie als Modell anwenden:
Die kognitiv-aufklärerische Funktion dient
der kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle der
Person in ihrer zeitgeschichtlichen Verortung. Das Einnehmen
der fremden Perspektive kann die aktive Integrierung
und Erweiterung der eigenen Perspektive
fördern. Die Auseinandersetzung mit dem Handeln der
fremden Person kann in einer Reflexion des eigenen
Handelns und möglicherweise im Ausprobieren neuer
Handlungsformen resultieren. Die Beschäftigung mit
konkreten Beispielen gelebten Glaubens unterstützt
die Subjektwerdung und erweitert die Fähigkeit, durch
einen Perspektivwechsel Situationen verantwortungsvoll
zu beurteilen.

»Personen und ihre Geschichte fördern eine Vergemeinschaftung
stärker als Texte.«

Angela Kaupp
Hildegard von Bingen – eine „faszinierend Fremde“

Die Person der Hildegard von Bingen unterstreicht
die oben beschriebenen Schwierigkeiten im Umgang
mit fremden Biographien. Hildegard bleibt über weite
Strecken eine „faszinierend Fremde“ (Riedel 2005,
7). Sie lebte in einer lang vergangenen Zeit und es
bedarf einiger Mühe, um das Vorurteil des „finsteren
Mittelalters“ zu widerlegen. Ihr Lebensentwurf lässt
ihre Epoche kaum greifbarer werden und eine Verbindung
zwischen ihrer Welt und der heutigen ist nicht
so leicht zu erkennen. Das Leben einer adeligen Klosterfrau
unterscheidet sich nicht nur von dem Leben
vieler Ordensfrauen heute, sondern hat noch weniger
Berührungspunkte mit dem Alltag heutiger Jugendlicher.
Hildegards Visionen sind für uns zunächst eher
ein Buch mit sieben Siegeln, als dass sie den Zugang
zu ihrer Theologie erleichtern. Für die meisten Schülerinnen
und Schüler dürften die Orte, an denen Hildegard
lebte, noch das Bekannteste sein. Dagegen sind
ihnen Person, Zeit, Visionsbilder und theologische
Aussagen fremd. Hinzu kommt, dass Hildegards Leben
und Werk so facettenreich ist, dass diese Frau sicher
nicht als nachzuahmendes Vorbild für den eigenen Lebensentwurf
dient.

Aber gerade weil diese Frau so fremd erscheint,
kann die Faszination des Fremden als Zugangsweg
gewählt werden: Die Geschichte Hildegards kann wie
ein unbekannter Kontinent erforscht werden, dessen
Koordinaten nicht auf der Landkarte verzeichnet sind,
sondern die es erst noch zu entdecken gilt. Der Reiz liegt darin, dass das Ergebnis offen ist und nicht, wie
bei vielen bekannten Heiligen, die Handlungsaufforderung
auf der Hand liegt.

Ein erster Angang kann sein, dem Mittelalter im
„Land der Hildegard“ an den verschiedenen Orten auf
die Spur zu kommen und zu erarbeiten, wie Frauen
damals lebten. Schon hier wird deutlich, wie sich Hildegard
kritisch mit den Vorgaben ihrer Zeit auseinandersetzte.
Eine weitere Schneise können Aspekte der
Theologie Hildegards sein, die einen Bezug zu heutigen
Schlüsselthemen andeuten: z.B. der Mensch als
Mitte der Schöpfung und unsere Verantwortung für die
Schöpfung oder Hildegards Überlegungen zur „Grünkraft“
als Gottes schöpferischer Kraft in allem Lebendigen
und unser Schöpfungsverständnis. Schließlich
kann ihr mutiges Eintreten für das, was sie als richtig
erkannt hat, als Ansatzpunkt gewählt werden: Ihre
Briefe an Adel und Päpste sind hier ebenso zu nennen
wie ihr Streit mit dem Mainzer Klerus um die Berechtigung
eines kirchliches Begräbnisses für einen exkommunizierten
Edelmann, das sie durch seine Beichte
vor dem Tod rechtfertigte. Es ist nicht auszuschließen,
dass ihr selbstbewusstes Auftreten ein Grund dafür
ist, dass die offizielle kirchliche Anerkennung als Heilige
und sogar als Kirchenlehrerin bis zum letzten Jahr
brauchte.

»Weil Hildegard so fremd erscheint, kann die Faszination
des Fremden ein Zugangsweg sein.«

Angela Kaupp

Eine Auseinandersetzung mit dieser „faszinierend
Fremden“ wird unzählige weitere Aspekte aufscheinen
lassen, abhängig auch von den (Forschungs-)Interessen
der Schülerinnen und Schüler. Sicher sind die gesellschaftlichen
Herausforderungen heute andere als
zur Zeit Hildegards. Dennoch kann diese Frau für heutige
Jugendliche ein Modell sein als ein Mensch, der
Verantwortung für das Leben übernimmt und (selbst-)
kritisch Position bezieht.