Auch Frauen lehr(t)en Theologie
Kirchenlehrerinnen in geschlechtssensibler Perspektive
Hildegard von Bingen wurde 2012 zur jüngsten Kirchenlehrerin
erhoben. Kritik an der Überhöhung der wissenschaftlichen
Theologie und das Ringen um die Wahrheit des Glaubens sind
Kennzeichen aller vier Kirchenlehrerinnen. Es ist an der Zeit,
ihre Stimmen hörbar zu machen.
„Die Zeit ist gekommen, in der sich die Berufung
der Frau in vollem Umfang verwirklicht.“ Zukunftsweisende
Worte waren es, die Papst Paul VI. 1970 bei
der Erhebung der ersten beiden Kirchenlehrerinnen in
der Geschichte – Teresa von Ávila und Katharina von
Siena – formulierte. Die Würdigung von Frauen als herausragende
Theologinnen und Lehrerinnen des Glaubens
bleibt jedoch auch heute noch zukunftsweisend –
selbstverständlich ist dies nicht. Bis zuletzt fanden die
vier Kirchenlehrerinnen der katholischen Kirche eher
wegen ihrer Mystik oder ihres außergewöhnlichen
Engagements Berücksichtigung. Ihre Bedeutung wurde
kaum in ihrer Funktion als Lehrerinnen des Christentums
erkannt. Doch gerade ihr reflektiert-theologisches
Denken in ihrer mystisch-metaphorischen und
daher umso ausdrucksstärkeren Sprache sollte heute
verstärkt wahrgenommen werden. Nicht die Schultheologie
berührt den Christen von heute, es ist die spirituelle
Erfahrungstheologie, die sich nicht bloß einer
theologischen Elite öffnet und die Kirchenlehrerinnen
zu theologischen Autoritäten werden lässt.
„Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein,
oder er wird nicht mehr sein“, formulierte einst Karl
Rahner. Aus dem Geist der Mystik schöpften alle vier
Kirchenlehrerinnen ihre Kraft, nutzten sie als Quelle
ihres Handelns und ihres Gespürs für die Zeichen der
Zeit. Alle reagierten sie auf Krisen – innere wie äußere
– und wurden durch ihr Glaubenszeugnis Ankerpunkt
in einer zersplitterten Welt. Im Streben nach christlicher
Vollkommenheit wagten sie es trotz kontemplativ-
mystischen Anspruchs ihrer Orden, mehr Marta
als Maria zu sein und eine „Mystik der offenen Augen“
– wie es Johann Baptist Metz formulierte – zu leben.
Gerade im alltäglichen Leben könne Gott entdeckt werden, inmitten all der Töpfe (Teresa von Ávila, Buch
meines Lebens).
Die Kirchenlehrerinnen rüttelten die Menschen
auf, wagten emanzipierte Worte, provozierten Widerspruch.
Sie waren unbequem und sind es noch. Mit
ihnen gibt es keinen Glauben als „Schönwetterspaziergang“.
Dabei waren sie alles andere als vorzeitige Feministinnen,
wie es ihnen heute gerne attestiert wird.
Eingebunden in die Denkweise ihrer jeweiligen Epoche
wagten sie es, fortschrittliche Gedanken zu formulieren
bei gleichzeitig strikt konservativer Grundhaltung.
Zurück zu den urchristlichen Wurzeln lautete die Devise,
nicht etwa Umwälzung gesellschaftlich-religiöser
Wertvorstellungen und Sichtweisen.
»Den Christen von heute berührt die spirituelle Erfahrungstheologie.«
Anhand ihres Beispiels lohnt es sich, eine bisher
stiefmütterlich behandelte Frauentheologiegeschichte
zu etablieren. Zu lange wurde nämlich davon ausgegangen,
Frauen hätten keine Theologie betrieben.
Bisher wurden andere Schwerpunkte gesetzt, und so
nahm man die Bedeutung weiblicher Zeuginnen des
christlichen Glaubens kaum wahr. Die Rezeption dieser
Frauen als Theologinnen setzt jedoch eine Klärung
des Theologiebegriffs voraus.
Frauen der Christentumsgeschichte betrieben
schlicht und einfach keine Schultheologie. Ihre Rede
von Gott in meist metaphorischer Sprache ist jedoch
nicht weniger aussagekräftig als systematisch-theologische
Abhandlungen. Ihre Theologie war nicht methodisch, sondern implizit-reflexiv. Sie war meditativ-
kerygmatisch, denn im Vordergrund stand das
menschliche Hören und Verstehenwollen einer spirituellen
Erfahrung. Wir entdecken die Theologie dieser
Frauen in ihrer religiösen Dichtung, in der Gebetssprache,
in Erzählungen, mystischen, prophetischen oder
visionären Sprachformen, mitunter sogar in ihrer ethischen,
juristischen oder katechetischen Rede sowie in
ihren Briefen. Schon die in der Bibel enthaltene Theologie
ist nichts anderes als Verkündigung des Wortes
Gottes in Rede und Gesang, das heißt Theologie im
vollen Sinne des Begriffs.
Wenden wir uns also den einzelnen Lehrerinnen in
ihrer historischen wie aktuellen Bedeutung zu. Ihrem
bisherigen Dasein als Projektionsfläche insbesondere
feministischer und esoterischer Interessen soll hier
ihre historische Würde als Theologinnen ihrer jeweiligen
Epoche entgegengesetzt werden.
Hildegard von Bingen (1098-1179) – Theologin der Weiblichkeit?
„Durch die Blume“ vermitteln uns alle vier Kirchenlehrerinnen,
dass auch Frauen Wichtiges zu sagen hätten,
ohne dabei traditionelle Rollenzuschreibungen zu
durchbrechen. Und doch hören wir von der bereits im
Mittelalter Aufsehen erregenden Hildegard von Bingen
über Eva und Maria und deren Bedeutung für die Frau:
Der Tod, den uns das Weib gebracht,
den überwand die lichte Magd:
So ruht nun auf der Gestalt der Frau
des Himmels Segen,
und Segen vor aller Welt
kommt aus dem Wesen der Frau.
(Symphonia)
Nur in diesem Selbstverständnis, als Frau ein „Segen
für die Welt“ zu sein, erklärt sich ihr damals unerhörtes Wirken als Papstberaterin und prophetische
Mahnerin. Doch obige Verse dürfen nicht darüber hinwegtäuschen,
dass aus ihren Schriften in erster Linie
eine Haltung demütiger Zurückhaltung als Frau spricht.
Meist beschreibt sie sich als indocta, Ungelehrte, und
stilisiert sich als Überbringerin göttlichen Wortes. Es
wäre unsinnig, sie dementsprechend als frühe Feministin
zu bezeichnen, denn sie kämpfte nicht etwa für die
Rechte der Frauen, was genuin mit dem Feminismusbegriff
verbunden ist, sondern für die Wiederentdeckung
des Glaubens im Kirchenvolk und die Beseitigung von
Missständen in der Amtskirche. Natürlich war sie sich
der Problematik ihres „Frauseins“ bewusst – und sie
begriff, dass sie sich bei allem Selbstbewusstsein und
aller außergewöhnlichen Autorität, die sie verströmte,
nur auf ihre göttlichen Eingebungen stützen konnte
und sich der zeittypischen Geringschätzung der Frau
zu unterwerfen hatte. Um dennoch Gehör zu finden
und nicht dem Vorwurf der „weiblichen“ Verwirrung
zu unterliegen, betonte sie stets, ihre intellektuellen
Offenbarungen bei vollem Bewusstsein erhalten zu
haben. Und diese Offenbarungen tragen ein reiches
Blütenmeer einer theologischen Gesamtkonzeption am
Vorabend der Scholastik.
Ihre Theologie ist in erster Linie Schöpfungstheologie.
Sie warnt vor dem Missbrauch der Natur, da der
Mensch als Geschöpf inmitten der Schöpfung in der
Verantwortung stehe. Hier überraschen ihre Ausführungen
in ihrer Aktualität. Auch ihr Gespür für die tatsächlich
erst mit der Aufklärung aufkommende Polarität
von Glaube und Wissenschaft bei gleichzeitiger
Emporhebung der Wissenschaft zum Non-plus-ultra
modernen Denkens, verdeutlicht ihre prophetische
Gabe. Sie hält der alleinigen Orientierung an der Vernunft
das Risiko des Glaubens an die Mysterien im
Dunkel des Verstandes entgegen. „Prophetinnen wie
Hildegard retten das Mysterium vor den Verstandesfanatikern.“
»Gott werden weibliche Charakteristika zugesprochen.«
Mit ihrem Hauptwerk Scivias („Wisse die Wege“)
liegt uns heute eine Art theologische Summe in anschaulichen
Bildern vor. Ihr Gottesbild ist gegen ihren
Zeitgeist nicht der ausschließlich gerechte Gott im
Sinne des richtenden Gottes, sondern der leidenschaftlich
den Menschen liebende Gott. Aufgrund der „weiblich“
gefärbten symbolischen Sprache, derer sie sich
bedient, um diesen Gott der Liebe zu beschreiben, wird
ihr heute eine „Theologie der Weiblichkeit“ attestiert.
Gott werden „weibliche“ Charakteristika zugesprochen.
Hier ist zu beachten, dass die strikte Dualität
von „männlich“ und „weiblich“ im Mittelalter gerade nicht der Vorstellungswelt entsprach. Weiblichkeit
verband Hildegard in ihren Beschreibungen nicht nur
mit Frauen. Es gab kein Zwei-Geschlecht-Modell, wie
wir es heute kennen. Vielmehr entsprach dem Weltbild
des Mittelalters das von der platonischen Säftelehre
beeinflusste Ein-Geschlecht-Modell, das besagte,
dass keine Frau ausschließlich „weiblich“, kein Mann
ausschließlich „männlich“ sei. Erst heute wird dieses
Geschlechtsmodell in Genderdiskursen wieder neu
entdeckt. Hildegards Schriften stellen hierin Schätze
eines nicht bipolaren Verständnisses des Menschen
dar, das in heutiger Lesart der Gleichberechtigung von
Mann und Frau zuträglich ist.
Katharina von Siena (1347-1380) – „Welt-geistliche“ Theologie der Nächstenliebe
Katharina von Siena war Dominikanertertiarin, was
ihr ein aktives Wirken zwischen Kloster und Welt ermöglichte
und Voraussetzung ihres enormen Handlungsspielraums
war. Durch die fehlende Klausur bei
gleichzeitiger Lebensweise als Religiosa eröffneten
sich ihr Grenzbereiche geistlichen Lebens, die zeitgenössisch
eigentlich nur Klerikern oder Mönchen zustanden,
beispielsweise die öffentliche Predigt. Eine
ihrem Selbstverständnis ähnliche Lebensweise der
mittelalterlichen Beginen war 1311 auf dem Konzil von
Vienne verboten worden. Sie predigte die Nächstenliebe
als in die Praxis umgesetzte Gottesliebe in Form der
ihr als Frau einzig möglichen Gottesrede. So lässt sie
Gott in ihrem mystischen Werk Gespräch von Gottes
Vorsehung sagen: „Doch wenn er [= der Mensch] Mich
wirklich liebt, ist er auch dem Nächsten von Nutzen;
das kann gar nicht anders sein, weil die Liebe zu Mir
und zum Nächsten ein und dieselbe Liebe ist.“ Ihre in
Gottesworte gehüllte Kritik an der mangelnden Karitas
des Klerus und Missständen innerhalb der geistlichen
Hierarchie könnte kaum harscher und direkter sein:
„Ich verbiete, dass sie sich vom Schmutz der Unkeuschheit
nähren und sich darin wälzen, noch dass sie sich
blähen im Stolz und auf angesehene Stellungen erpicht
sind, grausam wider sich selbst und den Nächsten.“
(Gespräch von Gottes Vorsehung) Katharina griff in
ihrer Theologie der Nächstenliebe dem Renaissance-
Humanismus des 15. Jahrhunderts voraus.
»Sie predigte die Nächstenliebe als in die Praxis umgesetzte
Gottesliebe.«
Auch sie wird nach wie vor von der feministischen
Kirchengeschichtsforschung verzweckt. In ihrer Bescheidenheitsrhetorik
widmete sie sich nicht der Sache
der Frau, sondern den großen Themen der Tradition,
so beispielsweise der Entfaltung von Christologie und Trinitätslehre. Ihre Theologie lieferte darüber hinaus
Impulse einer ausgewogenen Kombination aus
Geisterfahrung und (gnaden)theologischer Reflexion
und bewahrte sie – wie viele andere Mystiker und Mystikerinnen
– vor formal-spekulativer Einseitigkeit.
Dessen war sie sich über alle Maßen bewusst und
warnte sogar dezidiert vor dieser Einseitigkeit mit
einem versteckten Hinweis, dass die der ‚Schriftkenntnis
Unerfahrenen‘ – also auch Frauen – Einsicht in die
theologischen Wahrheiten haben könnten, ja sogar
über den Gelehrten stünden: „Die unwissenden und
stolzen Gelehrten aber sind mitten im Licht blind, weil
der Hochmut und die Wolke der Eigensucht es ihnen
verhüllt und weggenommen hat; deshalb verstehen sie
die Schrift bloß ihrem Wortsinn und nicht dem inneren
Geist nach; […] Sie wundern sich deshalb und murren,
wenn sie sehen, dass viele in der Schriftkenntnis Unerfahrene
und Ungebildete dennoch an Einsicht der
Wahrheit so erleuchtet sind, als hätten sie sie lange
Zeit studiert. Das ist durchaus kein Wunder, weil sie
den eigentlichen Quell jenes Lichtes besitzen, woraus
die Wissenschaft stammt.“ (Gespräch von Gottes
Vorsehung) Großes theologisches Selbstbewusstsein
spricht hier aus den Worten einer Frau, die selbst des
Schreibens unkundig war und ihre Visionen diktieren
musste. Und tatsächlich, was bringt das theoretische
Wissen um theologische Konstrukte, während die tiefe
innere Durchdringung der Lehre fehlt, die den Menschen
zum Handeln an Mitmensch und Welt antreibt.
Es ging Katharina um eine irdisch glaubhafte Kirche
durch die Zuwendung zum Mitmenschen. Heute sollte
ihr Ruf erneut laut erschallen. Weniger Bürokratie,
mehr Seelsorge ist der Wunsch vieler Christen.
Teresa von Ávila (1515-1582) – Theologie des mystischen Betens mitten im Alltag
Die Kunst verzerrte bisweilen das Bild Teresas von Ávila.
Die von Gott verwundete Mystikerin mit verklärtem
Blick, wie sie Gianlorenzo Bernini um 1650 in seiner
berühmten Skulptur darstellte, verstellt den Blick auf
die Tatkraft und Intelligenz dieser Frau. Gotteserfahrungen,
so betonte sie immer wieder, seien ohne paramystische
Begleiterscheinungen wie Visionen oder
Auditionen möglich. Zu ihrer Lebenszeit waren solche
Phänomene bei Frauen zunehmend in die Kritik geraten.
Dennoch ließ es sich Teresa von Ávila nicht nehmen
zu betonen: „Und es gibt viel mehr Frauen als
Männer, denen der Herr diese Gnaden erweist.“ (Buch
meines Lebens)
Als Ordensreformerin ging sie in die Geschichte ein,
als große Frau Spaniens, als Mystikerin. Zeitgenössisch
brach sie Tabus, denn sie wagte es, als Frau in
der Muttersprache Theologie zu betreiben, indem sie
unter anderem das Hohelied exegetisch auslegte. Dies
rechtfertigte sie mit der Inspiration Gottes und merkte ironisch-kritisch über das theologische Verstehen
der Heiligen Schrift an, es sei „nichts für Frauen und
vieles noch nicht einmal für Männer“ (Gedanken zum
Hohenlied). Darüber hinaus entwarf sie eine Theologie
des Betens, des inneren Gebets als Ergänzung des gesprochenen,
und wurde deshalb von zahlreichen Kirchenmännern
und der Inquisition argwöhnisch in den
Blick genommen. Dies empörte sie außerordentlich:
„Ich würde am liebsten laut aufschreien und – obwohl
ich nur die bin, die ich bin – mit denen disputieren, die
behaupten, dass inneres Beten nicht erforderlich sei.“
(Weg der Vollkommenheit)
Ganz anders, als es ihre Mystik erwarten lässt, war
Teresa eine bodenständige und couragierte Frau. Bereits
zu Lebzeiten wurde sie deshalb als kämpferisch Handelnde
gehasst und bewundert. Sie war all das nicht,
was klischeehaft von einer Katholikin erwartet wurde:
still, bescheiden, wenig intelligent und gehorsam.
»Teresa war eine bodenständige und couragierte Frau.«
Theologisch zeichnet sich Teresa dadurch aus, dass
sie ihr mystisches Gebet als Quelle ihres inneren Gesprächs
mit dem menschenliebenden Jesus als „Verweilen
bei einem Freund“ (Buch meines Lebens) und
der daraus resultierenden Liebe zur Welt verstand. Gebet
ist Leben in Beziehung als Gespräch mit Gott und
daraus hervorgehender apostolischer Zuwendung zum
Menschen. Gott sei immer gegenwärtig, auch im Alltag.
Teresa ist die große Meisterin nicht nur mystischer
und asketischer Theologie, sondern Lehrmeisterin der
Verwirklichung wahren Christseins mitten im menschlichen
Alltag. In ihr manifestiert sich eine erfrischende
Mischung aus glühender Mystikerin und kühler Geschäftsfrau.
Verbindet sich beides, auch im heutigen
Zeitalter, ist Großes möglich und verleiht kühlem Kalkül
in Beruf und Berufung eine humane Seite. Somit
wird Teresa von Ávila zur großen Zeugin authentischen
Christseins. Das Gott- und Menschenbild würde humaner,
wenn folgende ihrer Worte überdacht würden:
„Denn ich erkenne, dass Gott nicht ist wie die, die wir
hier als Herren haben, die ihr ganzes Herrsein auf ‚Autoritätsprothesen‘
gründen.“ (Buch meines Lebens) Damit
stemmt sie sich gegen jegliche Art von Rigorismus,
der nicht zuletzt religiöse Menschen aller Zeiten bedroht
und nicht selten in Fundamentalismus mündet.
Therese von Lisieux (1873-1897) – Theologie der Demut und Zerrissenheit
Therese ist die dem Fragen und Getriebensein des modernen
Menschen am nächsten kommende Kirchenlehrerin.
Sie war als Unbeschuhte Karmelitin ganz Schülerin
Teresas von Ávila und zeichnet sich doch durch
eine eigenständige Lehre aus. Ihre moderne Skepsis und innere Zerrissenheit in einer ursprünglich recht
konventionellen Religiosität greifen verschiedenen Aspekten
des 2. Vatikanischen Konzils voraus, denn nur
durch ihre „Glaubensnacht“ wurde ihr ihre geschwisterliche
Verbundenheit mit Andersgläubigen und sogar
Atheisten möglich. In ihren von einer qualvollen
Krankheit hervorgerufenen Glaubenszweifeln fühlte
sie eine tiefempfundene Solidarität mit Suchenden,
statt sich von Sündern abzuwenden. Sich selbst erkannte
sie als „ganz klein“ vor Gott. Daher wird ihre
Theologie als Lehre des „kleinen Weges“ bezeichnet, es
ist die Theologie der „geistlichen Kindschaft“, über die
Therese selbst aussagte: „Sie besteht in einer Verfassung
des Herzens, die uns demütig macht und klein in
den Armen Gottes, unserer Schwachheit bewusst und
bis zur Kühnheit vertrauend auf seine Vatergüte.“ (Dernier
entretiens) Die Einfachheit der Sprache, die Tiefe
der Spiritualität und der kindliche Blick auf den leidenden
Jesus machen sie zu einer Theologin für den
gemeinen Christen.
Was uns heute inspiriert, ist Thereses unumstößliche
Hoffnung im Kampf um den Glauben. Sie ist Beispiel
moderner Sinn- und Glaubenskrise, befähigt jedoch
zum reifen Nachdenken über sich selbst als (Un)
Gläubigen. Ihr Kampf ist derjenige vieler Christen:
„Wenn ich das Glück des Himmels, den ewigen Besitz
Gottes besinge, so empfinde ich dabei keinerlei Freude,
denn ich besinge einfach, was ICH GLAUBEN WILL.“
(Selbstbiogr. Schriften) Davon sind Glaubende wie
Nichtglaubende betroffen. Joseph Ratzinger bemerkte
einmal: „Wie es dem Glaubenden geschieht, dass er
vom Salzwasser des Zweifels gewürgt wird, […] so gibt
es auch Zweifel des Ungläubigen an seiner Ungläubigkeit,
an der wirklichen Totalität der Welt, die zum Totum
zu erklären er sich entschlossen hat.“ Die säkularisierte
Gesellschaft bringt es heute zwangsläufig mit
sich, dass jeder Mensch eine Glaubensprüfung durchmacht.
Statt die Unerschütterlichkeit des Glaubens zu
betonen, hebt Therese bei diesem sensiblen Thema des
Zweifelns dessen berechtigten Platz in religiösen und
auch theologischen Fragen in den Vordergrund. Zweifel
sind zulässig, da sie biblisch begründet sind (vgl.
Hiob oder Jakobs Kampf mit dem Engel). Therese lebte
keinen radikalen Atheismus. Sie fasziniert vielmehr
durch ihren Mut, diese Gefühle zuzulassen, laut auszusprechen
und trotzdem am Glauben festzuhalten. Der
Mensch – so ihre Schlussfolgerung gegen den Rat ihres
Beichtvaters, sich nicht bei den Glaubenszweifeln aufgrund
ihrer Gefährlichkeit aufzuhalten – müsse aus
freiem Entschluss glauben wollen. Sie stand als Frau des 19. Jahrhunderts zu ihren Glaubenszweifeln, gegen
Erwartungen von außen. „Wer nicht versucht wurde,
was weiß der?“ (Briefe) Dies macht sie zu einer wahren
Größe, denn in ihren Lehren spiegeln sich entscheidende
Phasen des Menschseins. Trotz des Bewusstseins
um die Ambivalenz von Glauben und Vernunft
in einer Zeit, in der sich alle anderen Wissenschaften
in unaufhaltsamem Tempo weiterentwickelten und
selbstbewusster wurden, erkennt sie trotz aller Zweifel
im Glauben eine „leuchtende Fackel“ (Selbstbiogr.
Schriften).
»Thereses unumstößliche Hoffnung im Kampf um den
Glauben inspiriert uns heute.«
Die Kritik an der Überhöhung der Wissenschaft als
Letztdeutungsinstanz der Welt in der Konfrontation
von Glauben und Vernunft wie das stete Ringen um
die Wahrheit des Glaubens sind Kennzeichen aller vier
Kirchenlehrerinnen. Somit sind sie aktueller denn je. Es
ist an der Zeit, die Stimmen der Frauen hörbar zu machen.
Die Betonung des intuitiven Wissens gegenüber
dem Verstandeswissen, aktuell von der Psychologie als
„emotionale Intelligenz“ bezeichnet, steht bei den Kirchenlehrerinnen
im Zentrum ihres Glaubenszeugnisses.
In ihrer Tradition obliegt es uns, ihr theologisches Profil
wiederzuentdecken und ihr Selbstbewusstsein in
den innerkirchlichen Diskussionen zwischen Männern
und Frauen wiederaufleben zu lassen.
Zur Person
Michaela Bill-Mrziglod
ist seit 2011 wissenschaftliche
Mitarbeiterin für Kirchengeschichte an der Universität
Koblenz-Landau, Campus Koblenz.