Unter den Himmeln der Unendlichkeit
Heimat ist kein einfaches Wort, das sich bloß auf einen Ort bezieht. Die Bedeutung lässt sich aus der Biographie des Menschen erschließen. Die Bibel erzählt, wie Menschen ihre Heimat verlassen, aufbrechen und in die Fremde ziehen.
In Leib und Geist lebendig sind wir Menschen.
Dem Leib nach hat unsere Lebendigkeit eine Bindung
an Zeit und Raum; leiblich leben wir nicht
beliebig, sondern zu dieser Stunde, an diesem Ort.
Zwar ändern wir uns in unserer leiblichen Identität,
allein schon weil wir altern; auch willentlich in Gang
gesetzte Änderungen der leiblichen Identität sind
möglich, bis hin zur aufwendigen und durchaus leidbelasteten
Transformation der Geschlechtsidentität.
Niemals aber können wir unseren Leib einfach austauschen.
Alle Änderungen leiblicher Identität, die möglich
sind, finden nicht um den Preis, sondern zu den
Bedingungen und kraft des einen und einzigen Leibs
statt, den wir haben – der wir sind. Der Leib bringt
ein Moment der Unaustauschbarkeit in menschliche
Lebendigkeit, und dieses Moment ist stofflich: Es ist
auch prinzipiell, also unüberspringbar, hat aber die
Natur konkreter Stofflichkeit: das Erleben körperlicher
Gesundheit, die Erfahrung körperlichen, seelischen
Leidens, die Erinnerung, die Sehnsucht, die
Lust, die Verzweiflung – dies alles ist in seiner konkreten
Gestalt unaustauschbar und macht unseren je
unverwechselbaren Geschmack von Wirklichkeit aus.
Heimat – die noch ausstehende Utopie
In dieser Leibdimension menschlicher Lebendigkeit
liegt ein starkes, nämlich anthropologisches Argument
für den Wert von Heimat: Diese bezeichnet den
genuinen Ort meiner leibhaften Präsenz, wo sich mein
Hier-Sein von selbst versteht. Doch wo liegt dieser
Ort? Die Topographie der Heimat kann nur biographisch
erschlossen werden und hat deswegen einen
Zeitindex: Heimat liegt in der Kindheit, in der Herkunftsvergangenheit.
Es ist aber die Kindheit mit allen
ihren hoffnungsfrohen Valenzen an die Unzugänglichkeit
verloren. Dies, dass die Erwachsenen auf ihre
Kindheit wie auf immer schon Verlorenes nur sich
beziehen können, hat Ernst Bloch dazu veranlasst, in
den berühmten Schlusssätzen von „Das Prinzip Hoffnung“
den Zeitindex der Heimat umzukehren: Die in
der Kindheit aufgehobenen, aber eben unabgegoltenen
Erfüllungsversprechen unserer Lebendigkeit
lassen Heimat zur immer noch ausstehenden Utopie
werden, zu „etwas, das allen in die Kindheit scheint
und worin noch niemand war: Heimat.“
»Heimat ist kein Zauberwort für
einen einfachen, ursprünglichen,
unanfechtbaren Identitätsgrund.«
Heimat ist demnach kein Zauberwort für
einen einfachen, ursprünglichen, unanfechtbaren
Identitätsgrund, homogen nach innen,
xenophob nach außen. Ein Zauber nämlich,
der uns entsprechen sollte – der menschlich
wäre –, müsste anspruchsvoller gedacht
werden. Mag menschliche Lebendigkeit dem
Leib nach „heimattreu“ sein – doch so, dass
hier schon fraglich ist, wo, wann und worin
Heimat besteht, und nur gewiss ist, dass
wir dem Leib nach der Heimat bedürfen –,
ist dieselbe menschliche Lebendigkeit dem
Geist nach allen Bindungen enthoben. „Der
Geist weht, wo er will“ (Joh 3,8): Das gilt
nicht nur für den Geist Gottes, sondern auch
der Menschen. Dem Geist nach ist menschliche
Lebendigkeit von allen Identitätsrückbindungen
entkoppelt und prinzipiell sowohl
überall wie auch nirgends verortbar.
Die prinzipielle Ubiquität des Geists vergleichgültigt
tatsächlich die Orte seiner jeweils
faktischen, gewissermaßen empirisch
bestätigten Anwesenheit.
Geist und Heimat
Nicht abschätzig, all-wertschätzend ist die
Gleich-Gültigkeit des Geists. Auch die Beliebigkeit
ist morphologisch auf den Bedeutungsanteil
„lieb“ zentriert. So wie die Indolenz,
die Unberührtheit durch ein Einzelnes,
durchaus als Berührbarkeit durch das unabsehbar
Viele aufzufassen ist. L’indolente:
das Gedicht, das Baudelaire zu schreiben
versäumt hat. Dem Geist nach sind die Menschen
in ihrer Lebendigkeit heimatlos – wie
von einem Ballast befreit, aber auch verloren:
Wer Heimat verloren hat, ist in diesem
Verlust selbst verloren. Heimat los sein:
das Vertraute, Bergende, aber auch Bestimmende,
Beäugende, Beengende – los sein: Befreiung
und Entbergung gleichermaßen.
Dem Geist nach haben wir kein ursprüngliches
Verhältnis zur Heimat. Im Wehen
zeigt sich eine Unbestimmtheit im Aufenthalt
des Geists an, ja, dass er sich nirgends
und nie aufhält. Ist das Unrast, Dekonzentration?
Es ist die Bereitschaft,
wenn nicht das Verlangen,
sich von jedem affizieren zu lassen.
„Here, There and Everywhere“: Paul
McCartneys Song, den die Beatles
1966 aufgenommen und auf dem
Album „Revolver“ veröffentlicht haben. Ein
Liebeslied. Liebe ist personal, so wird sie
in diesem Lied verstanden: Ich, Du; me, you.
Und diese Liebe, so konzentriert sie auf die
Eine und Einzige ist, sieht den Grund dieser
Widmung – Du – in jedem einzelnen Anderen
gespiegelt, überall schließlich, in allem: But
to love her is to meet her everywhere / … / I
will be here, there and everywhere. Liebe ist
die Auslegung des Singulären ins Allgemeine,
darin dem Geist in seinem Wehen gleich.
Der Einen überall begegnen: Diese Logik
der Liebe hat eine religiöse Unterströmung.
„Ich sehe dich in tausend Bildern“, beginnt
ein Marienhymnus von Novalis von 1800. Ihre
äußerste Formulierung findet diese Logik im
ignatianischen Prinzip, Gott in allen Dingen
zu suchen, den Absoluten in jedem Einzelnen
zu suchen. Es ist eine Logik der Überfülle.
Das Überviele lässt sich aber in keinem
Maß halten. Fülle hat keine Heimat; sie hat
den Horizont des Unendlichen. Dass der Liebe,
kontraintuitv, eine solche Dynamik der
Entkoppelung von allem liebes-entfachenden
Konkreten zugunsten einer unfassbaren Überfülle
innewohnen kann, und dass sich damit
ein Verlust der Verfügung des Realen, ein Verzicht
auf die Geliebte verbindet, dies hat der
geniale Bill Pritchard in diese Zeilen gebracht:
I‘m in love forever / without being with anybody
(auf dem Album „Jolie“ von 1991).
Heimatlos – die Sehnsucht nach Freiheit
„Ich bin gerne fremd“, sagt die Schweizer Malerin,
Installations- und Performance-Künstlerin Miriam
Cahn. Es gibt das Verlangen nach Heimatlosigkeit.
Dies aber nicht als Verachtung des Konkreten, sondern
als Ausdruck einer Liebe. Sie macht nirgends
Halt, hat im Absoluten ihren Horizont, erwählt sich
nicht dieses eine gegenüber allem anderen, sondern
bejaht dieses, jenes, alles: here, there and everywhere.
An kein Einzelnes sich zu binden, um berührbar von
allem zu sein, ist die Indolenz der Liebe. Das freie Wehen
des Geists – und die ihm entsprechende Liebe –
ist nicht hedonistisch, sondern wohlgebunden: bloß,
dass diese Bindung der absoluten Liebe den Geist
durch jedes Einzelne führt: Indem dich ich liebe, kann
keinen Wurm ich verachten.
Eine Figur dieser Ungebundenheit in Liebe ist der
Flaneur. Walter Benjamin und Franz Hessel haben
den Flaneur in ihren Schriften entworfen und real gelebt.
Sein Milieu ist urban, Paris und Berlin sind seine
bevorzugten Adressen, seine glanzvolle Zeit hat er
um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Er streift
durch die Stadt, ihre Boulevards und Passagen, ihre
Gassen und Höfe. Die Stadt ist ihm verschlungene
Wildnis, unverfügbare Natur. Der Flaneur ist besitzlos;
er nimmt alles wahr, behält nichts, die Liebe ohne
Heimat lässt alles fahren. Nimmt er etwas auf, ist es
etwas Weggeworfenes, Verlorenes, Sichselbstüberlassenes.
Eine messianische Geste: denn nichts, vor
allem das Geringste nicht, darf verloren gehen – vor
dem Angesicht Gottes, wie hinzuzufügen wäre, von
dem der Flaneur vielleicht nicht viel weiß, doch mag
er von ihm etwas im Bewusstsein der Unaufgebbarkeit
all unserer Wirklichkeiten ahnen – noch in ihren
bedeutungslosesten Artikulationen.
Was der Flaneur der urbanen Moderne, ist der die
Weite und Enge des Lands durchziehende Wanderer
der Romantik: Joseph von Eichendorffs Wanderer, die
durch nicht endende Wälder ziehen und als Wegweisung
nur die Lieder haben, die sie unterwegs singen
oder deren Gesang sich ihnen zuweht und an dem entlang
sie fortziehen und die stets vom Echo eines Posthorns
umschallt sind, das in den unendlichen Fernen
der Landschaft ertönt. – Oder Franz Schuberts Winter-
Reisender, der in der abgeschiedenen Enge seiner
Liebesverlorenheit mit den Dorfrändern besser als
mit den warmen Bauernstuben vertraut ist.
Moderner Flaneur, romantischer Streuner – woher
sie nur kommen? Von einer aus den Fugen geratenen
Welt. So sehr ist sie dies, dass ökonomischer
Zwang und romantische Freiheit zur Figur des Hobo
verschmelzen, des in der Great Depression arbeits-,
obdach- und heimatlos gewordenen Proletariers, der
in der Folkmusik zur ikonischen Gestalt der Moderne
wird. Halb ökonomisch genötigt, halb willentlich
provoziert, ist der Hobo on the road – was in seinem
Roman dieses Titels am Vorabend der rebellischen
sechziger Jahre Jack Kerouac zur Haltung eines jugendlichen
Nonkonformismus ausarbeitet. On the
road auf einer Pilgerfahrt ohne gewisses Ziel ist der
Hobo; I’m not in here for second best, ist sein Bewusstsein,
and whatever I find is not enough.
Ist Religion Heimatlosigkeit?
Der „Hobo“, der Bluesman – Billie Holiday –, die
Queerness, das Psychedelische, die libertinäre Frömmigkeit,
die Heroin-Asketik, die karnevaleske Zelebration
des Pastiche, das Verlangen nach dem Realen
– von Anfang an ist Popkultur nie bloß Euphorie und
stets mehr als nur modisch dekorierter Konsumismus
gewesen. Popkultur ist radikale Weltzuwendung, von
solcher Vorbehaltlosigkeit, dass ihr die Welt in ihrem
Status quo nie genug sein kann. Popkultur ist Materialismus
der Sehnsucht, Immanenz-Unzufriedenheit,
die sich als Transzendenz-Offenheit auslegen lässt
und selbst oft so auslegt. Es ist ihr Materialismus der
Sehnsucht, der die Popkultur religionsverwandt sein
lässt. Sie weiß deswegen, dass Religion in Heimat
nie aufgeht, wird diese verstanden als Identität, die
verfügbar gemacht ist. And I walk out on my own /
A thousand miles from home, singt Bob Dylan ausgerechnet
in einem seiner forciert konfessorischen
Songs aus der sogenannten christlichen Phase seines
Werks (I Believe In You, auf dem Album „Slow
Train Coming“ von 1979). Tausendfern von daheim
– seine Disloziertheit lässt der Sänger mit seinem
Glaubensbekenntnis ursächlich zusammenhängen:
‘Cause I believe in you. Religion ist Heimatlosigkeit, das
weiß Popkultur. Dass in Religion Identität nicht gesichert,
sondern aufs Spiel gesetzt wird, führt das Lied
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performativ vor: An keiner Stelle wird das
you eindeutig auf Gott, Jesus, usw. hin identifiziert;
es könnte sich auch um ein in den
Resonanzraum religiöser Bedeutung versetztes
Liebeslied handeln.
»Wer Heimat verloren hat, ist
in diesem Verlust selbst verloren.«
Ungebundenheit in Liebe, aus Glaube: Sie
scheinen hier zu verschwimmen, ineinanderzulaufen
wie Träne und Tropfen, und einen
Indifferenzpunkt von Religion und conditio
humana anzuzeigen. Das Motiv des Unterwegsseins
fernab von Ausgang und Ziel, von
Heimat, ist bei Dylan an keine Phase, wie
etwa die christliche,
gebunden;
seine Epiphanien
fügen sich wie der
Wirbel zum Rückgrat
dieses Werks.
Die Konjunktion von Selbstbewusstsein und
Glaubensgefühl ist älter, ursprünglicher als
ein bestimmtes und ausdrückliches Religionsbekenntnis.
Und der Hobo, diese Gestalt
des bloßen Unterwegsseins, abgeschieden
von allen Heimatbindungen, ist ein Pilger,
der nicht Zweck noch Ziel verfolgt, hat sein
Verlangen nach Liebe und Rettung ihn doch
aus allem Überschaubaren herausgeführt.
Er ist herausgetreten aus dem Schema von
Itinerar und Destination, seine Fortbewegung
ist passivisch grundiert; er lässt sich
treiben. Er streunt, streift, schweift umher:
Hunde und Katzen, so unterwegs, werden erschossen,
auch Menschen. Aus der Ordnung
gefallen, für viele ist Ordnung schon Heimat,
ist der Pilger unmittelbar – zu seiner
Not nicht weniger als zu Gott.
Nun kann die Liebe eine Episode bleiben,
und eine Wallfahrt findet am Heiligtum ihre
Frist. Wenn aber diese nur Ekstasen von
Prinzipiellerem sind? Bill Pritchard hatte
bereits die Liebesverlorenheit – in Liebe
sein, ohne jemanden – zu einer immerwährenden
Grundstimmung erklärt. Und das
Christentum kennt nicht nur seit seiner frühen
Zeit ein Wallfahrtswesen, zu den Stätten
im Heiligen Land, zu den Gräbern der Märtyrer;
christliche Spiritualität hat den Menschen
als wesentlichen Pilger begriffen. Das
Wort vom homo viator rückt das Unterwegssein
ins Zentrum menschlicher Existenz. Sie
PERSPEKTIVEN PERSPEKTIVEN
kann weder im Rückgriff auf Herkunft noch
im Vorgriff auf Hinkunft gesichert werden.
Dies bestimmt die Jetztzeit des Menschen,
so ist er gegenwärtig: unterwegs als Pilger.
Die Sakramente, das Wort der Verkündigung
sind Reiseproviant; in ihnen bestätigt sich
das Viatorische menschlicher Existenz.
Aufbruch als Gegenkonzept zur Heimat
Für Israel ist der konstitutive, alles andere
begründende Präsenzort Gottes der Exodus,
der Auszug aus der Sklaverei in die
Freiheit. Auf jedes
Unterwegssein sei
deswegen Gottes
Segen herabgewünscht.
Durch
alle späteren Verfestigungen
der priesterlichen Kodifizierung,
herrscherlichen Institutionalisierung,
theologischen Dogmatisierung hindurch hat
die biblische Tradition diese frühen Markierungen
des Aufbruchs als des Un-Orts der
Gottesgegenwart so bewahrt, dass die jeweils
gegenwärtige Ordnung als im Exodus
normativ gegründet aufgefasst wird (vgl.
Dtn 6,20–25). Schon Abraham folgt, ohne
dass die Erzählung Raum auch nur für einen
Lidschlag des Zögerns ließe, dem Ruf in den
Aufbruch – aus einer sicheren, ja wohlhabenden
Existenz, die alle Voraussetzungen
für die Einrichtung von Heimat bereithält,
in eine komplett ungewisse, bloß verheißene
Zukunft (vgl. Gen 12,1-11). Es ist dieser Abraham,
den Paulus zur paradigmatischen Gestalt
des Glaubens erklärt (Röm 4); den, der
sich auf ein Gegenprojekt einlässt: wider die
Alltagsvernunft, wider die Intuition, wider
den Augenschein verlässt Abraham, was er
hat, zugunsten einer Verheißung, die er sich
aus der ihm vertrauten Welt nicht herleiten
kann, die bloß in dem Gott rückversichert
ist, der sie ausspricht und der wiederum
Abraham noch ganz und gar unbekannt ist:
Vertrauen auf den Unvertrauten, Vertrauen
aufbringen, wo es nicht zu rechtfertigen ist,
weder durch die Umstände noch vom Adressaten
her – ist das der Glaube Abrahams,
dann geradezu als Gegenkonzept zu allem,
wofür Heimat steht.
Und führt nicht der Sog, in den Jesus
die Menschen zieht, die ihm begegnen, in
denselben Aufbruch? In der Semantik einer
traditionalen Gesellschaft lässt sich kaum
»Wer Heimat verloren hat, ist
in diesem Verlust selbst verloren.«
links: Giovanni Battista Tiepolo, „Die unbefleckte
Empfängnis“ (1767-1768), Öl auf Leinwand, Brado,
Madrid / wikimedia commons
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eine radikalere Aufforderung zur Entwurzelung aus
heimatlichem Grund formulieren als in dem Bescheid,
dass die Nachfolge Jesu den Bruch mit den Gesetzen
der Familie involviert, deren Fortbestand doch mit der
Ehrung der Toten gesichert werden soll. In die Kontinuitätsidentität
der menschlichen Gemeinschaft setzt
Jesus die Fission des Göttlichen: „Folge mir nach; lass
die Toten ihre Toten begraben“ (Mt 8,22). Das Göttliche
ist die Unruhe des Menschlichen, keine Ruhe findet
vor Gott der Mensch bei sich. Ist vor Gott der Mensch
nicht sich selbst fremd?
Die Fremdheit der frühen Christen
Die frühen Christen jedenfalls sahen sich als Fremde
in dieser Welt. Der erste Petrusbrief und der erste Clemensbrief,
beide aus dem 1. Jahrhundert, haben diese
Zuordnung in der Anrede; von den Christen, an die sie
sich wenden (und in 1Clem auch von den Absendern),
sagen sie, dass sie dort, wo sie leben, in der Fremde
sind. Eine der zur Markierung der Fremde verwendeten
Vokabeln bezeichnet den ohne Bürgerrechte in
der Stadt lebenden Fremden. So sahen sich die frühen
Christen, als „paroikoi“. Von diesem Wort leitet sich
der kirchliche Fachterminus für Pfarrgemeinde her:
Parochia. Selbst in ihrer institutionellen Verfassung
befindet sich die Kirche dem eigenen ursprünglichen
Verständnis nach in der Fremde. Ihre Struktur, Verfassung,
ihre Selbstvollzüge – all das, was von Paulus her
mit dem aufgeladenen Begriff „Leib“ bezeichnet wird
– steht unter diesem Vorbehalt, dass sie sich in dieser
Welt nicht allzu heimisch einrichten darf: „Bei euch
aber soll es nicht so sein“ (Mk 10,43). Weil die Kirche
faktisch an allem Üblen dieser Welt kräftig teilhat,
erweist solche Erinnerung an die kirchliche Grundbestimmung
ihrer weltlichen Heimatlosigkeit sich als
kontrafaktisch, als notorisch kritischer Einspruch der
Kirche gegen die Kirche in ihrem jeweiligen Status quo.
Im Fremdheitsmotiv der frühen Christen steckt
viel Vorbehalt gegenüber „der Welt“, teils gespeist aus
Verfolgungserfahrungen, teils herrührend aus einem
Elitebewusstsein, das dem der Gnostiker nicht unähnlich
ist. Weltverachtung mag als hyperbolische,
überpointierende, Bezeichnung für eine Haltung der
Verzichtsaskese durchgehen; als Konzept des Weltverhältnisses
ist sie unchristlich: Christen dürfen
kaum die Welt verachten, die Schöpfung Gottes ist.
Sie bleibt dies, auch wenn sie durch den Gebrauch,
den die Menschen von ihr gemacht haben, inzwischen
sündendurchtränkt ist. Wäre diese sündenversehrte
Welt nicht nach wie vor Schöpfung Gottes, wäre sie
auch nicht erlösbar. Erlösung ist die Wiederholung
des Schöpfungsworts, demgemäß – ursprünglich –
„alles gut“ ist: inmitten der Not, des Leids, des Übels,
der Sünde.
Der Himmel als Heimat
Diese Welt, ob im Lokalen, ob im Globalen, kann dem
Menschen nun nicht einfach Heimat sein. Gibt es
also im Horizont der biblischen Tradition keinen Begriff
von Heimat? – Doch, einen anspruchsvollen sogar.
„Heaven Is My Home“ heißt ein Lied von Randy
Newman. Wieder kommt die klare Formulierung aus
der Popmusik. Newman hat den Song 1996 für einen
Soundtrack beigesteuert, aber nie in sein Hauptwerk
aufgenommen; vielleicht, weil hier die negativistische
Grundhaltung, für die er bekannt ist und die sich mal
ironisch, mal melancholisch artikuliert, in eine vorsichtige
Bejahung gewendet erscheint. Der Himmel als
Heimat wird keineswegs gegen „die Welt“ ausgespielt:
Oh this world is dear to me / But Heaven is my home.
Religiöse Mentalitäten, nicht nur im Christentum,
machen sich des Abwertens der irdischen Welt gegenüber
dem Himmel, des Diesseits gegenüber einem
Jenseits, der Zeit gegenüber der Ewigkeit oft schuldig;
sie missverstehen dann aber die in der Zweiheit
von Himmel und Erde enthaltene Spannung fatal und
zerstören sie. Newman hält sie schlichtestmöglich
präsent, im Zeilenumbruch und dem darauf folgenden
Wort „but“. Sie lässt sich womöglich am besten in der
Rückkehr zu der Anthropologie erschließen, von der
diese Überlegungen ihren Ausgang genommen haben.
»Die frühen Christen sahen sich
als Fremde in dieser Welt.«
Dem Leib nach ist der Mensch raum-zeitlich bestimmt,
dem Geist nach aber „here, there and everywhere“.
Vom Bestimmungspunkt seiner Leiblichkeit
aus greift der Mensch dem Geist nach in die
Weite des Unendlichen. Faktisch wird dieser
Ausgriff immer durch seine Endlichkeit moduliert
sein – durch seine Erinnerungen, seine
erfahrungsgesättigte Einbildungskraft,
seine Denkfähigkeit … Prinzipiell aber ist
ihm keine Grenze gesetzt; nichts ließe sich
angeben, wohin dem Geist nach auszugreifen
dem Menschen nicht möglich wäre. Damit
ist freilich keineswegs ein – noch dazu als
erreichbar gedachtes – Ziel dieses Ausgriffs
gegeben. Das Unendliche ist kein Ziel, nichts
Griffiges. Wenn es aber zugleich dasjenige
ist, in das hinein der Mensch dem Geist nach
mit seiner gesamten Existenz ausgreift, ist
das Unendliche auch kein leerer Raum, nicht
einfach die zwischen den Materieklumpen
sich aufspannende unendliche Leere des
Universums. Als das, wohinein der Mensch
so ausgreift, dass er in diesem Ausgriff seine
gesamte Existenz, sich selbst, hin(ein)gibt,
ist sie vielmehr als Fülle zu bestimmen. Der
Ausgriff ins Unendliche bestimmt dieses
als Fülle, weil er nicht (begrenzte) Tat, sondern
Selbstvollzug des Menschen ist. Fülle
hat aber kein Quantum, ist nicht messbar,
ist unverbrauchbar, unverfügbar. In ihrer
Dimensionalität als Fülle entzieht sie sich
vielmehr dem Menschen, während er nach
ihr ausgreift. Fülle im Entzug. Das Bild dieser
im Ausgriff nach ihr zurückweichenden
und darin ihre Unendlichkeit gegenwärtig
setzenden Fülle sind die Wolken, die Tiepolo
in seiner Darstellung der Purissima um die
Madonna quellen und quellen lässt – als Bild
des sehr präsenten, sehr unendlichen und
darin undurchdringlichen Himmels. Dies ist
das Wort der unendlichen Fülle: Himmel.
Das Zurückweichen der Unendlichkeit
des Himmels erinnert daran, dass an einer
entscheidenden Stelle der biblischen Rede
vom Himmel dieser im Plural steht: „Unser
Vater in den Himmeln“ (Mt 6,9). Tiepolos
aufquellende Wolken lassen ein unendliches
Hervorquellen und Zurückweichen von Himmel
auf Himmel vorstellbar werden, und in
dieser Unendlichkeit, in ihr und von ihr verborgen:
Gott, in der absoluten Transzendenz
des unendlichen Sich-Entziehens von Himmel
auf Himmel.
Die Rede der frühen Christen von ihrer
Fremdheit in dieser Welt sagt also nur in
absprechender Weise aus, dass ihnen der
Himmel Heimat ist. Der Himmel ist aber
kein Ort, er ist im eminenten Sinn Nicht-
Ort: Utopie; oder, in der unendlichen Abfolge
des Entzugs, Ort in Versetzung: Heterotopie.
Ein Bogen spannt sich von Randy Newman
zurück zu Ernst Bloch: Der Himmel ist meine
Heimat, und diese ist utopisch. Was ich
hier habe und was die Leute Heimat nennen,
ist mir fremd, und was meine Heimat
sein könnte, habe ich nicht: Liebe, ohne mit
jemandem zu sein. In die Prägnanz der poetischen
Losung hat das Nora Bossong gebracht:
„Wem die Heimat zu klein ist, / dem
bleibt nur der Himmel“. In dessen Tiefen
verborgen gegenwärtig, unerreichbar nah,
absolut real – Gott ist: Wessen Sehnsucht
verloren ist und wer doch an ihr festhält;
wem nichts Gegenwärtiges genug ist und
wer doch dem Konkreten unwillkürlich treu
ist, dem ist das Wort Gott und seine Bezeichnungskraft
unverzichtbar.
Zur Person
Knut Wenzel
ist Professor für systematische
Theologie / Fundamentaltheologie und
Dogmatik am Fachbereich Katholische Theologie
der Johann Wolfgang Goethe-Universität
Frankfurt am Main. 2019 erschien sein Buch
„Die Wucht des Undarstellbaren – Bildkulturen
des Christentums“ im Verlag Herder.