Die Heiligkeit von nebenan
Verlangt der christliche Glaube „Märtyrer der Corona-Krise“? Der im vergangenen Jahr seliggesprochene Pater Richard Henkes und die vielen Heiligen von heute sind stille Heldinnen und Helden, die erst noch entdeckt werden wollen.
Richard Henkes versah seinen zweimonatigen
Dienst an den Schwerstkranken in der Hoffnung,
dass er diese bedrohliche Situation
überleben und das Lager wieder unversehrt verlassen
wird. Er lebte in dieser Zeit vollständig abgeschlossen
und isoliert von den anderen inhaftierten Priestern
in Quarantäne mit den Typhuskranken. Seine von
der Hingabe an die Menschen geprägte Spiritualität
und sein unerschütterliches Gottvertrauen ließen ihn
seine Krankenpflege als Gottesdienst und als Konsequenz
seiner Berufung zum Priester bis zuletzt begreifen.
75 Jahre später riskieren viele Ärzte und Ärztinnen,
Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger, Seelsorger
und Seelsorgerinnen in Kliniken, Seniorenheimen und
Arztpraxen in aller Welt ihr Leben bei der Pflege und
in der Begleitung von an Corona infizierten Menschen.
Medienberichten zufolge sind allein in Italien inzwischen
rund 120 Ärzte/innen und 30 Krankenpfleger/
innen am Covid-19 Virus verstorben. Einige der
verstorbenen Ärzte/innen hatten sich schon im Ruhestand
befunden und waren dem Aufruf gefolgt, in
der Corona-Krise wieder aktiv zu werden. Auch etwa
100 Priester starben bis heute in Italien an den Folgen
des heimtückischen Virus. Viele von ihnen gingen bis
zuletzt ihrem Dienst nach und folgten der Bitte des
Papstes, den Sterbenden beizustehen und ihnen die
Kommunion zu bringen.
»Wahre Heiligkeit wirkt im
Verborgenen und durchkreuzt die
Logik des Nützlichen«
Hohe Aufmerksamkeit erfuhr die Nachricht, dass
ein an Covid-19 erkrankter 72-jähriger Priester starb,
nachdem er sein Beatmungsgerät aus Nächstenliebe
einem Jüngeren überlassen hatte. Unter dem Eindruck
der globalen Pandemie und in ihrer Folge ungezählter
solidarischer Hilfsaktionen erkennen wir,
dass Heiligkeit viele Gesichter besitzen kann und viele
Menschen zur Heiligkeit berufen sind.
Vielleicht leuchtet in der demütigen, stillen und
hingebungsvollen Pflege der Typhusinfizierten durch
Pater Henkes eine universale Wahrheit auf, die wir besonders
heute im Umgang mit der globalen Pandemie
neu begreifen: Wahre Heiligkeit wirkt im Verborgenen,
sie prahlt nicht mit ihren Verdiensten, sondern sie
dient dem Nächsten in seiner existentiellen Not, sie
steht ihm bei, auch wenn ihr Tun vergeblich zu sein
scheint, sie fragt nicht nach Konfession oder Religion,
sie überschreitet Grenzen des Durchschnittlichen und
durchkreuzt die Logik des Nützlichen.
Wir sind gerade teilnehmende Beobachter und zugleich
Zeugen einer auf vielfältige Weise zu erlebenden
„Heiligkeit von nebenan“ (Papst Franziskus), die
von kleinen Gesten der Solidarität bis hin zum aufopferungsvollen
Dienst in den Intensivstationen reichen
kann. Nicht jeder muss gleich in seinem Einsatz sein
Leben hingeben, aber wie viele von uns gehen über
ihr bislang vorstellbares Limit? Wir sind Zeugen einer
nach wie vor zur Solidarität und Menschlichkeit
in einem ungeahnten Ausmaß fähigen Gesellschaft,
die ihre Alten nicht einfach sterben lässt. Jedes Leben
zählt. Vielleicht ist gerade der Arzt aus Wuhan, der die
Welt vor der tödlichen Wahrheit über das Virus warnen
wollte, dessen Erkenntnisse aber von den chinesischen
Behörden viel zu lange vertuscht wurden und
der dann selbst an Covid-19 starb, ein chinesischer
Richard Henkes unserer Tage: „Und wenn die Wahrheit
mich vernichtet ...“
Diese zur Zeit weltweit erfahrbare horizontale Heiligkeit
zeigt uns dabei zugleich ein Hoffnungs- und Zukunftsbild von Kirche: eine Kirche, die mit viel Fantasie
und auf ungewöhnlichen Wegen an die Ränder
und die Grenzen der menschlichen Existenz geht und
dabei den Weg in die Tiefe ihrer Berufung findet, die
im Wort „Barmherzigkeit“ ihren Ausdruck gefunden
hat. In nur wenigen Wochen hat sich die Welt in ein
Feldlazarett gewandelt, und es wird für jedermann
deutlich, worin die viel beschworene „Systemrelevanz“
der Kirche besteht: Kirche ist für die Menschen
da oder, um mit Johannes Paul II. zu sprechen: „Der
Mensch ist der erste Weg der Kirche“ (Enzyklika Redemptor
Hominis).
Zur Person
Martin W. Ramb
ist Schulamtsdirektor im Bischöflichen
Ordinariat Limburg, in dem er die Abteilung Religionspädagogik
Medien und Kultur leitet.