Fragen nach Gott
In einem Vater-Tochter-Gespräch geht der Schriftsteller Navid Kermani den Fragen eines 12-jährigen Mädchens zum Islam nach
Populäre Bücher zum Thema Weltreligionen gibt
es wie Sand am Meer. Ich selber hüte noch heute
ein altes Exemplar meines Großvaters »Die
großen Religionen der Welt« von 1957 wie einen Augapfel.
Als Kind habe ich stundenlang darin geblättert
und mir die fabelhaften Fotografien und Zeichnungen
angesehen. Besonders faszinierend fand ich eine
mehrseitige Zeichnung des vielgestaltigen hinduistischen
Pantheons, die man ausfalten konnte.
Hans Küngs »Weltethos« hat vor Jahren viel Furore
gemacht und den interreligiösen Dialog über das Verbindende
aller Religionen angeregt. Der Erfolg eines
Jugendbuchs wie »Theos Reise« spricht dafür, wie
groß das Interesse an anderen Religionen ist. Etwas
über andere Religionen, ihre Götter und Rituale, Feste
und Lebensanschauungen zu erfahren, kann ein erster
Schritt sein, sie zu respektieren und neugierig zu
werden, welche spirituelle Substanz es dort zu entdecken
gibt. Zur Resonanz gehören aber auch kritische
Einwände, denn der Autor/die Autorin ist bei allem
theologischen Sachverstand in der Regel kein teilnehmender
Beobachter wie ein Ethnologe, der religiöse
Feldforschung betreibt. Leser und Leserinnen bleiben
quasi auf einer exotischen Besichtigungstour. Navid
Kermani geht in seinem Buch genau den umgekehrten
Weg. Er will davon erzählen, was den innersten Glutkern
von Religion ausmacht: »Aber worum es im Islam
eigentlich geht, und nicht nur dem Islam, sondern
im Grunde allen Religionen, also weshalb wir von uns
sagen, dass wir an Gott glauben, darüber hast du
kaum etwas erfahren. Es war, als würden die Bücher
die Kleidung eines Menschen beschreiben, ohne ein
Wort darüber zu verlieren, wer dieser Mensch überhaupt
ist – sein Gesicht, sein Charakter, nicht einmal
ob er Mann oder Frau ist, jung oder alt, wo er herkommt,
wovon er träumt und warum er uns liebt« (7).
Die Rahmenhandlung des Jugendbuches ist schnell
erzählt: Der Vater des Autors hat seinem Sohn vor dem
Tod aufgetragen, der Enkelin den Islam, so wie er und
seine Vorfahren ihn gelebt haben, nahezubringen. Das
erinnert an Nathan, den Weisen. Das zwölfjährige
Mädchen scheint ziemlich aufgeweckt und kritisch zu
sein. Sie stellt ihrem Vater Fragen, die er sammelt und
zu beantworten versucht, während sie in der Schule ist.
Entlang ihrer Fragen und Einwände spinnt sich von
Kapitel zu Kapitel ein imaginäres religiöses Gespräch.
Kermani versteht Religion als Beziehungsgeschehen
zwischen dem endlichen Menschen und dem Unendlichen,
das Gott genannt werden kann. Alle Religionen
ergänzen sich und ergeben erst zusammen ein
vollständiges Bild. Das schließt Unterschiede nicht
aus. Um das Wirken des Unendlichen in der Welt
aber auch in jedem einzelnen Menschen zu plausibilisieren,
macht er Anleihen in der Teilchenphysik und der Biologie. Atome sind in
immer kleinere Einheiten zu zerlegen,
ohne dass man an ein Ende
kommt. Fingerabdrücke und
Blätter: Keine gleichen sich. Besonders
poetisch sind seine Ausführungen
über das Atmen. Spiritus
(Atem) und spirituell sind ja
auch bei uns ganz verwandt. Und
oft erwähnt Kermani die Musik
Schuberts, die ihm eine Ahnung
davon gibt, was es heißen könnte,
in etwas aufzugehen, das größer
ist als man selbst.
An verschiedenen Stellen flicht
Kermani Koransuren ein. Er gibt
sich als gläubiger Muslim zu erkennen,
der seinen Glauben bezeugt.
Das bedeutet ausdrücklich
nicht Fundamentalismus. Fundamentalist
ist jemand, der die innere
Beziehung zu Gott verloren hat.
So jemand hält das schriftliche
Regelwerk, die Doktrin und Lehrsätze
schon für Religion und will
sie gewaltsam durchsetzen. Diese
unheilvolle Problematik kehrt er
nicht unter den Tisch. Dennoch
muss man einwenden, dass er
viele »toxischen« Suren, in denen es beispielsweise um
den islamischen Vorwurf der Verfälschung der wahren
Offenbarung Gottes durch Juden und Christen oder
den Vorwurf des Trinitarismus geht, weitgehend umgeht.
Weil Kermani vor allem in ästhetischen Kategorien
denkt und fühlt, kommt es mir bei aller Sympathie
ein bisschen wie »Kulturprotestantismus« vor.
In seinem Buch »Gott ist schön« (1999) hat Kermani
die ästhetische Seite von Religion herausgearbeitet.
Die poetische Klangschönheit der arabisch rezitierten
Koransuren, die Kalligrafie, die Architektur der Moscheen
mit ihren wunderbaren Kacheln – alles Belege
dafür, dass Gott schön ist und mit allen Sinnen erfahren
werden kann. Inneres und Äußeres sind keine
getrennten Bereiche. Da Theologie und Religion nicht
dasselbe sind, geht es in diesem Buch um die kultische
Praxis. Religion muss mit allen Sinnen, sozusagen
am eigenen Leib, erfahren werden. Die Gebetshaltung
der Gläubigen soll eine Einheit ausdrücken:
»Nicht nur der Verstand betet, sondern auch das Gemüt,
die Seele, der Leib, wenn ich während des Gebets aufrecht stehe und die Arme
ausbreitend mich beuge, zu Boden
werde, knie, wieder stehe
und mir zum Abschluss mit beiden
Händen von oben nach unten
übers Gesicht streiche, als würde
ich den Bann Gottes wieder ablegen,
um in den Alltag zurückzukehren
« (76).
In der christlichen Religionspädagogik
ist das kultische Exerzitium
manchmal ein blinder
Fleck. Viele Schüler und Schülerinnen
wissen trotz Erstkommunion
nicht mehr, wann und warum
sie sich bekreuzigen oder bei
der Kommunion knien sollen. Sie
fremdeln im Gottesdienst, weil
sie unsicher sind, wie sie sich benehmen
sollen. Das ist frustrierend.
Vielleicht kann Kermanis
Text eine neue Aufmerksamkeit
auf diesen Aspekt religiöser Erziehung
lenken.
Das Buch wurde dem Genre
»Jugendbuch« zugeordnet. Es
gibt aber keine wirkliche Handlung,
die die religiösen Inhalte
mitziehen würde. Hinweise, dass
der Vater nun Spaghetti kochen müsse oder dass die
Tochter endlich ihr Zimmer aufräumen solle, wirkten
auf mich etwas bemüht. Das kommt einem jugendlichen
Leserkreis zwar bekannt vor, aber ob es ihn bei
der Stange hält weiterzulesen, ist zu bezweifeln. Man
könnte sich vorstellen, einzelne Kapitel zuhause oder
im Unterricht gemeinsam zu lesen und zu diskutieren.
Wenn jeder und jede weiß, woher er oder sie kommt,
und einen je eigenen Standpunkt durchdacht hat,
dann mag es leichter fallen, den Titel des Buches als
konkrete Aufforderung zu verstehen: »Jeder soll von
da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.«
Zur Person
Susanne Nordhofen
war Fachleiterin für Philosophie/
Ethik und Deutsch am Studienseminar Offenbach
und leitete als Direktorin die Bischof-Neumann-Schule
in Königstein.