KunstKulturKirche Allerheiligen
Forum für Moderne Kunst und Neue Musik – Eine Kulturpastoral für eine innerstädtische Gemeinde
Die Tür zum weiten Raum der KunstKulturKirche Allerheiligen öffnet sich.
Im Inneren herrscht zunächst völlige Dunkelheit, Klänge wabern durch
den Raum, als plötzlich ein Schauer kleiner Lichttropfen sichtbar wird.
Animiert, sich den Lichtpunkten zu nähern, erkundet man den Raum immer weiter
oder bleibt zunächst am Eingang stehen, um das Spektakel einzuordnen und auf
sich wirken zu lassen. Je weiter man sich vorwagt, desto mehr ist man von Licht
umgeben, von sich bewegenden Lichtpunkten, Glühwürmchen wie in einer lauen
Sommernacht, die zu Tausenden umherzuschwirren scheinen.
Die Licht-Klanginstallation »ANALEMMA« des japanischen Künstlers Yasuhiro
Chida, die im Rahmen des »cresc… Festivals – Biennale für aktuelle Musik Frankfurt
Rhein Main« vom 16. bis 25. Februar 2024 in der KunstKulturKirche Allerheiligen
im Frankfurter Ostend zu sehen war, zog die Besucherinnen und Besucher in
ihren Bann und lockte innerhalb weniger Tage mehrere tausend Menschen in die
Kirche. Chida hat für seine raumgreifende Installation knapp 20 Kilometer Faden
quer durch den gesamten Kirchenraum geknüpft. Ab Einbruch der Dämmerung bis
in die späten Abendstunden wurde dieses Geflecht von vier Beamern angestrahlt,
so dass hunderttausende einzelner Lichtpunkte und -linien entstanden, die sich
im Raum zu bewegen schienen. Dazu erklang sphärische, teils atonale Musik in
Endlosschleife. »Was ist in dieser Frankfurter Kirche los?« – titelte die Hessenschau
einen Beitrag, der auch in den sozialen Netzwerken viral ging und täglich
mehr Menschen in die Kirche lockte.
Ist das noch eine Kirche?
»Was ist in dieser Kirche los?« oder »Hier wird auch
noch Gottesdienst gefeiert?«, »Ach, das ist eine katholische
Kirche?«, so oder ähnlich lauten die erstaunten
Kommentare von Besucherinnen und Besuchern unserer
Ausstellungen, Konzerte und Performances. Zeitgenössische
Kunst in der Kirche ist immer noch ungewöhnlich,
löst bei manchen Befremden aus, schafft
aber auch Raum für Begegnungen, die sonst eher nicht
stattgefunden hätten. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert
sind sich zeitgenössische Kunst und Kirche
fremd geworden und haben sich inzwischen so weit
voneinander entfernt, dass auf beiden Seiten Skepsis
und Misstrauen herrschen. Dass es Schnittmengen
auszuloten gäbe, dass Begegnungen auf Augenhöhe
möglich wären, dass beide Systeme voneinander lernen
könnten, scheint kaum vorstellbar. Das gilt auch
für die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher, deren
Gefühlsspektrum von irritiert/abweisend bis fasziniert/
begeistert reicht.
Ausgelöst werden diese Reaktionen auch von der
Neuen Musik. Sie erklingt in der KunstKulturKirche
Allerheiligen nicht nur im Rahmen von Konzerten
und dem Format »shortcuts – Experiment und Begegnung
«, das jeden 1. Dienstag im Monat in Kooperation
mit dem Institut für zeitgenössische Musik (IzM) der
Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt
(HfMDK) stattfindet, sondern auch in der Liturgie
in Form von Improvisation, z. B. auf der eigens dafür
modifizierten (Midi-)Orgel, als elektronische Musik
oder zeitgenössische Literatur, dargeboten von unserem
Kirchenmusiker und/oder von Gastmusikerinnen
und -musikern.
Der Reiz der zeitgenössischen Bildenden Kunst
liegt in der ständigen Aktualisierung des Sehens.
Ebenso liegt der Reiz zeitgenössischer Musik in der
ständigen Aktualisierung des Hörens. Musik soll
überraschen, soll auch mal etwas zumuten. Neue Musik
konfrontiert mit Tonfolgen, die so vorher noch
nicht gehört wurden, und reißt aus liebgewordenen Hörgewohnheiten heraus. Sie kann die Kreativität
der Hörerinnen und Hörer wecken,
herausfordern und neu beleben. Das setzt
die Bereitschaft voraus, sich einzulassen,
sich zu öffnen, also ein hohes Maß an Lernfähigkeit
und Lernbereitschaft. Musik, die
man bereits kennt oder zu kennen glaubt,
nimmt man nicht mehr auf diese Weise
wahr. Sie kann innerlich nicht mehr bewegen.
In der interkulturellen Atmosphäre der
KunstKulturKirche Allerheiligen kann die
Neue Musik zudem Brücken zwischen verschiedenen
Traditionen und Weltanschauungen
schlagen und so zu einem bereichernden
Dialog beitragen. Diesen Dialog suchen
wir gezielt und bieten dazu regelmäßig im
Anschluss an die Liturgie Nachgespräche
zur Neuen Musik für die Gottesdienstbesucherinnen
und -besucher an oder suchen
den Austausch zwischen Musikerinnen und
Musikern und dem Publikum nach unseren
Konzerten und Performances bei einem Glas
Wasser oder Wein.
Neben der Aufführung Neuer Musik hat
sich die KunstKulturKirche Allerheiligen
auch der Förderung junger Künstlerinnen
und Künstler verschrieben und bietet ihnen
einen Raum für kreativen Austausch. Dies
spiegelt sich zum einen in der langjährigen
Kooperation mit der HfMDK Frankfurt und
deren Institut für zeitgenössische Musik
sowie mit Dr. Hoch’s Konservatorium Frankfurt
und zum anderen in der Kooperation
mit dem Masterstudiengang »International
Ensemble Modern Akademie – Contemporary
Music Performance« der HfMDK wider.
Darüber hinaus vergeben wir jährlich zu unserem
Patrozinium einen Kompositionsauftrag
für ein Chor- oder Instrumentalstück,
das im Rahmen der Liturgie uraufgeführt
wird.
Warum zeitgenössische Kunst in einer Kirche?
Warum aber haben wir ein Projekt wie die
KunstKulturKirche Allerheiligen in der
Dompfarrei St. Bartholomäus in Frankfurt
am Main ins Leben gerufen? Über das Verhältnis
von Kirche und Welt wird viel diskutiert.
Aber was heißt das eigentlich? »Kirche« und »Welt«? Wir sind der Überzeugung, dass das
System Kirche stärker mit dem System in Kontakt treten
muss, das kirchlicherseits oft als »Welt« bezeichnet
wird. »Kirche« muss in der »Welt« sein und sich
als Teilsystem der Gesellschaft verstehen. Die kultursoziologische
These von der Ausdifferenzierung der
Gesellschaft in autonome Teilbereiche ist unstrittig
und inzwischen dürfte sich der Prozess der Pluralisierung
und Ausdifferenzierung sogar noch beschleunigt
haben. Die Kirche hat diese Tatsache in großen
Teilen nicht wahrgenommen. Statt sich in den gesellschaftlichen
Diskurs einzumischen, schottet sie sich
in Teilen ab. Dadurch hat sie vielfach den Zugang zur
heutigen Gesellschaft, ihren Lebensäußerungen und
Ausdrucksformen verloren. Das wirkt sich nicht nur
allgemein kirchlich und gesellschaftlich aus, sondern
eben auch direkt vor Ort in den Gemeinden.
Nun sind aber gerade die zeitgenössischen Künste
(Musik, Bildende Kunst, Theater, Performance) Lebensäußerungen
einer Gesellschaft, in der wir uns
heute als Kirche bewegen. Diese Lebensäußerungen
aufzugreifen und zu versuchen, die zunehmende
Fremdheit zumindest zeitweise zu überbrücken, ist
das Ziel der KunstKulturKirche Allerheiligen. Gegenseitige
Toleranz steht dabei im Vordergrund. Zeitgenössischen
Künstlerinnen und Künstlern soll Raum und Zeit gegeben werden, ihre als autonom verstandene
Kunst im Kontext des geprägten Raumes zu präsentieren.
Dabei soll die Autonomie der Kunst ebenso
gewahrt bleiben wie die Autonomie des Raumes, als
eines aus der Alltagswelt herausgehobenen – sakralen
– Raumes.
»Der Kirchraum wird durch die
Kunst ganz neu erfahren«
Das Konzept KunstKulturKirche Allerheiligen ist
daher bewusst in einem liturgisch aktiv genutzten
Raum angesiedelt. Diese temporäre Verschränkung
von zeitgenössischer Bildender Kunst und Neuer Musik
mit der Kirche soll kein akademisches Unterfangen
sein, sondern will Erfahrungen und Begegnungen
ermöglichen und vermitteln und damit neue Sichtweisen
eröffnen. Deshalb bieten wir zu unseren Ausstellungen
stets Führungen und thematische Vorträge in
Kooperation mit der Katholischen Akademie Rabanus
Maurus im Haus am Dom in Frankfurt am Main sowie kunstpädagogische Workshops für Kinder an. Darüber
hinaus besuchen Kindergärten und Kindertagesstätten
der Umgebung regelmäßig vormittags unsere
Ausstellungen, um den Kindern die Möglichkeit zu
bieten, den Kirchenraum durch die Kunst ganz neu
zu erfahren. So ist die KunstKulturKirche Allerheiligen
ein profilierter Teil der Pastoral in der Dompfarrei
St. Bartholomäus. Sie wird nicht zum Museum oder
Konzertsaal, sondern zu einem lebendigen und noch
stärker fokussierten »Arbeitsraum der Seelsorge«. Ein
Raum aber, der sich gerade durch die zeitgenössische
Kunst auch ästhetisch anderen Milieus öffnet.
»Kirche muss in der Welt
sein und sich als Teilsystem der
Gesellschaft verstehen«
Lerneffekte – Kirche als lernendes System
In den Ausstellungen der KunstKulturKirche Allerheiligen
wird die Kunst immer von der Kunst her verstanden.
Sie sind eher als Rauminterventionen zu
sehen. Bei der Auswahl der Kunst steht die Idee, in
einem Kirchenraum ausgestellt zu werden, nie im Vordergrund.
Der sakrale Raum legt jedoch bestimmte
Stimmungen frei, die dem jeweiligen Werk immanent
sind, oder lädt das Werk entsprechend auf. Aus diesem
Grund dauerte die Annäherung einiger Künstlerinnen
und Künstler an den Raum manchmal länger
als ein Jahr. Der starke Raum der Allerheiligenkirche
soll weder die Kunst überdecken noch die Kunst den
Raum. Angestrebt sind Berührungen und Ergänzungen.
Darüber hinaus wird die Kunst, die im Kirchenraum
zu Gast ist, nicht vereinnahmt, funktionalisiert
oder illustrativ ausgenutzt, indem sie z. B. »bepredigt«
wird. Die Kunst spricht ihre eigene Sprache, die auch
im Gottesdienst »hörbar« sein soll. Zeit für Erklärungen
ist nach den Gottesdiensten. Dennoch steht im
Hintergrund das Bemühen, durch die Interventionen
in den Raum der Verkündigung die notwendige Aktualität
zu geben und die Religion anregen zu lassen.
Durch die Interventionen im Raum nehmen die
Gottesdienstbesucherinnen und -besucher ihren »altbekannten
« Raum neu wahr. Diskussionen und Gespräche
entstehen darüber, warum etwas im Raum
so oder so platziert ist und ob dies zwingend so sein
muss. Eine Auseinandersetzung mit dem Raum als Sakralraum hat dadurch begonnen und sich verstetigt.
Aufgrund dieser Sensibilisierung erfolgte beispielsweise
2015 eine Raumklärung. Den Anstoß dazu gab
die Rauminstallation »the light within« der Künstlerin
Angela Glajcar. Mehrere 18 Meter lange, übereinanderliegende,
sich auffächernde weiße Stoffbahnen
spannten sich in einem Bogen von der Lichtkuppel
über dem Altar in das Kirchenschiff hinein. Der Raum
wurde in seiner Dimension und Dynamik neu wahrgenommen.
Das Kunstwerk konnte nur als Ganzes erlebt
werden, wenn es umrundet werden konnte. In der
Folge wurde der Raum vom »Kitsch« befreit und innen
neu strukturiert.
So erhielt er seine ursprüngliche Kraft und Klarheit
aus der Zeit seiner Erbauung in den 1950er Jahren
zurück. Die fest eingebauten Kirchenbänke wurden
entfernt und durch eigens für den Raum gestaltete
Stühle ersetzt, die nun je nach Bedarf angeordnet werden
können. Entstanden ist ein Raum, der durch die
Dynamik seiner Architektur zur Bewegung einlädt.
Ein Meilenstein in der Arbeit der KunstKulturKirche
Allerheiligen, der auch für die Feier der Liturgie an
diesem Ort ganz neue Perspektiven und Möglichkeiten
eröffnet hat.
In der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer
Kunst wagen wir uns aus unserer Komfortzone heraus.
Das Projekt setzt Beweglichkeit und Offenheit im
System Kirche voraus. Kirche als lernendes System –
das ist ungewöhnlich und überraschend. Vor Ort wird
dieser Anspruch eingelöst. Offenheit und Lernfähigkeit
strahlen aus. Rund um die Rauminstallation von
Yasuhiro Chida wurde dies noch einmal erfahrbar. Begeisterte
Menschen verließen den Kirchenraum, während
sich mit den zahlreichen Besucherinnen und Besuchern,
die darauf warteten, den Raum betreten zu
können, interessierte und zum Teil intensive Gespräche
entspannen. Begegnungen und überraschende
Entdeckungen auf beiden Seiten – das gibt es immer
wieder, wenn auch nicht zu Hunderten und Tausenden,
wie bei »ANALEMMA« von Yasuhiro Chida.
Zur Person
Andreas Wörsdörfer
ist Pastoralreferent am Kirchort Allerheiligen,
der zur Dompfarrei St. Bartholomäus gehört.
Er ist Ansprechpartner für künstlerische, musikalische und
liturgische Angebote der KunstKulturKirche Allerheiligen.