Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
© Nadine Roßa

Warum brauchen wir kulturelle Bildung?

Kulturelle Bildung geht uns alle an. Doch was ist unter kultureller Bildung zu verstehen? Was gehört zu kultureller Bildung? Und warum ist sie für die Gesamtgesellschaft so bedeutsam?

Am 29. Oktober 2018 war in der in Abu Dhabi erscheinenden
Tageszeitung »The National« ein
Meinungsartikel des ehemaligen britischen
Botschafters Tom Fletcher zu lesen, der sich mit der
Zukunft der universitären Bildung auseinandersetzt.
Fletcher argumentiert, universitäre Curricula
müssten zugänglicher werden, zugänglicher nicht nur
für Studierende aus allen gesellschaftlichen Schichten,
sondern auch als Ressource für die Gesellschaft
insgesamt. Die Universität der Zukunft, so Fletcher
weiter, müsse ein Zentrum des freien Wissensaustauschs
sein, kein Refugium, in dem Wissen eifersüchtig
gehütet wird. Außerdem müsse die Universität
der Zukunft kreativ und kollaborativ sein. Fletcher
führt dazu aus: »Die Lehrpläne des 21. Jahrhunderts
werden weit über Arbeitsmarktfähigkeit und die Aneignung
von Wissen um seiner selbst willen hinausgehen.
Sie werden die Lernenden vielmehr auf ihren
Beitrag zur Gesellschaft vorbereiten. Sie werden Bürger
einer globalen Welt heranbilden, die die Fähigkeit
besitzen, Ideen, Umwelt und Orte miteinander zu verknüpfen,
das Scheitern zu überwinden, Probleme zu
lösen und ihren eigenen Charakter zu stärken.«

Der Beitrag Tom Fletchers liest sich geradezu wie
ein Plädoyer für die Implementierung des sogenannten
STEAM-Bildungsansatzes in universitäre Curricula.
STEAM steht als Akronym für Science, Technology,
Engineering, Arts, Mathematics. Es handelt sich
also um die Wissenschaftsbereiche Mathematik, Informatik,
Naturwissenschaften und Technologie – im
Deutschen als MINT abgekürzt –, erweitert um Kunst
und Kultur, im Englischen Arts. Die Protagonisten
des maßgeblich in den USA entwickelten STEAM-Ansatzes
beschreiben den Unterschied zwischen der
herkömmlichen STEM-Bildung einerseits und der
innovativen STEAM-Methode andererseits wie folgt:
STEM vermittelt, was und wie getan wird, während
STEAM darüber hinaus berücksichtigt, warum und
von wem etwas getan wird. Das niedersächsische Institut
für frühkindliche Bildung stellt dazu fest:

»Der Antrieb zum Entdecken, zur Interaktion und
Beobachtung beginnt in der frühen Kindheit. Gleichzeitig
besteht heute ein wachsender Bedarf an naturwissenschaftlich
qualifizierten Arbeitnehmern. Kompetenzen
im Bereich STEM, die englische Abkürzung
für »Science, Technology, Engineering, Mathematics«, im Deutschen MINT genannt, werden gebraucht.
Die Frage ist, wie eine Generation
von Erwachsenen ausgebildet werden kann,
die in der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts
erfolgreich ist. Die Antwort lautet: früh in
der Bildungskette zu beginnen und Naturwissenschaften
und Kunst zu verbinden. …
Als »MINKT«, oder Englisch »STEAM«, wird
die Integration der bildenden Künste in die
MINT-Förderung bezeichnet. Die Abkürzung
steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften,
Künste und Technologie.
Die begrenzte Anzahl nationaler und internationaler
Studien dazu – insgesamt 22 Studien
zwischen 2006 und 2016 – zeigt, dass
es sich um ein recht neues Forschungsfeld
handelt.«

Ungeachtet des bestehenden Forschungsbedarfs
in diesem Bereich zeichnet sich allerdings
schon heute ab, dass STEAM-Bildung
das Potential besitzt, durch die Einübung
transdisziplinären Denkens und transsektoraler
Kooperation junge Menschen dazu zu
befähigen, mit komplexen Fragestellungen
kreativ umzugehen und Lösungsansätze zu
erarbeiten, die alle jeweils erforderlichen
Kompetenzen gerade auch über herkömmliche
Disziplingrenzen hinweg berücksichtigen.
STEAM könnte somit eine wesentliche
Voraussetzung dafür schaffen, dass gesamtgesellschaftliche
Herausforderungen wie
etwa eine nachhaltige Entwicklung, der Klimawandel
und die digitale Transformation
angemessen bewältigt werden.

Aktive Teilhabe der Gesellschaft

Kulturelle Bildung bereits in der Kindheit
sollte jedoch nicht nur eine dienende, »methodische
« Funktion haben, indem sie lediglich
zu einem kreativen Umgang mit
Problemstellungen in den MINT-Fächern
anleitet. Tatsächlich sprechen aus kulturpolitischer
Sicht gewichtige »inhaltliche« Argumente
für eine Stärkung der STEAM-Bildung
und damit auch der intensivierten
Kulturvermittlung in Kultureinrichtungen
und Schulen. So setzt sich etwa in der wissenschaftlichen
und politischen Auseinandersetzung
mit den Themen kulturelles
Erbe und Kulturgutschutz in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend die Erkenntnis
durch, dass ein reiner Diskurs von Expertinnen
und Experten ohne Einbeziehung
der Zivilgesellschaft keine praktikablen
und nachhaltigen Modelle für den Erhalt,
die Pflege und den langfristigen Schutz von
unbeweglichem wie beweglichem Kulturgut
liefert. Ein strategischer Meilenstein ist in
diesem Zusammenhang das von der UNESCO
im Jahr 2015 verabschiedete »Policy Document
for the Integration of a Sustainable
Development Perspective into the Processes
of the World Heritage Convention«, das eine
Umsetzung der UNESCO Welterbe-Konvention
von 1972 im Dienste nachhaltiger Entwicklung
unter anderem von der Partizipation
aller relevanten Interessengruppen nicht
zuletzt auf lokaler Ebene abhängig macht.

»Kulturelle Bildung in
Schulen geht uns alle an«

Markus Hilgert

Doch damit nicht genug. Vieles deutet
heute darauf hin, dass auch die Koordination
und Leitung entsprechender Prozesse und
Projekte von der aktiven Teilhabe der Zivilgesellschaft
maßgeblich profitieren und daher
nach Möglichkeit ebenfalls partizipativ
gestaltet sein sollten. Im April 2018 hat die
Europäische Union einen Bericht zur partizipativen
Steuerung des kulturellen Erbes
vorgelegt, dessen Ziel es ist, »vorbildliche
Vorgehensweisen zu Bottom-up-Ansätzen
für ein gemeinsames integratives Management
des kulturellen Erbes zu erarbeiten
und zu verbreiten.« Der Bericht gelangt insbesondere
zu dem Ergebnis, dass »die partizipative
Steuerung des materiellen, immateriellen
und digitalen kulturellen Erbes … ein
innovativer Ansatz« ist, »mit dem sich spürbar
ändert, wie das kulturelle Erbe verwaltet
und geschätzt wird. Langfristig ist dieser
Ansatz nachhaltiger als der bisherige.«
Aus der Analyse konkreter Fallbeispiele ziehen
die Verfasser des Berichts weiterhin die
Schlussfolgerung, dass für eine erfolgreiche partizipative Steuerung des kulturellen Erbes »das öffentliche
Interesse gefördert und Beziehungen, Flexibilität
und Unterstützung für Projekte gestärkt sowie
die Kompetenzen und Ausbildung des Personals ausgebaut
werden müssen; … dass der Prozess Teil des
Ergebnisses ist, Bottom-up- und Top-down-Ansätze
sich gegenseitig ergänzen können, Mitwirkung und
Transparenz in allen Phasen unerlässlich sind und
das materielle, das immaterielle und das digitale Erbe
miteinander verknüpft werden sollten.«

So grundlegend und bedeutsam diese Erkenntnisse
sind, so komplex sind die Aufgaben, die sich aus ihrer
Umsetzung in konkretes Bildungshandeln ergeben.
Wie können die Wissens- und Kompetenzgrundlagen
geschaffen werden, die Mitglieder der Zivilgesellschaft
dazu ermächtigen, sich kompetent und konstruktiv
in die Diskussion um kulturelles Erbe sowie
Maßnahmen zu dessen Schutz und langfristigem Erhalt
einzubringen? Oder, noch allgemeiner formuliert:
Wie können das bürgerschaftliche Engagement im
Kulturbereich gestärkt und die bürgerschaftlich Engagierten
zu verbesserter Teilhabe ermächtigt werden?

Ich bin überzeugt davon, dass die systematische
und konsequente Integration von Kunst und Kultur in
der schulischen und außerschulischen Bildung junger
Menschen im Sinne des STEAM-Bildungsansatzes
eine mögliche, wirksame Antwort auf diese Frage sein
kann. Drei Gründe sind dafür aus meiner Sicht ausschlaggebend:

1. Der Erhalt unseres materiellen und immateriellen
Kulturerbes sowie der kulturellen Infrastrukturen
kann als langfristige gesamtgesellschaftliche Aufgabe
nur dann gelingen, wenn er auf einem ganzheitlichen
Verständnis von Gesellschaft und Kultur, dem
Zusammenwirken interdisziplinärer Kompetenzen
und transsektoraler Kooperation basiert. Die Sensibilisierung
für diesen Sachverhalt muss bereits in
der Schulzeit beginnen, damit spezialisierte Studien-,
Aus- und Weiterbildungsprogramme auf diesem Gebiet
effizient darauf aufbauen können.

2. Kultur und kulturelles Erbe spielen eine zunehmend
bedeutende Rolle auch außerhalb des Kultursektors
und der Kulturpolitik, so etwa innerhalb
der Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs-, Wirtschafts- und
Sozialpolitik. Kaum abzusehen ist dabei derzeit,
wie die zur Wahrnehmung dieser erweiterten Funktion
erforderlichen Kompetenzen und Kapazitäten
im Bereich Kultur aufgebaut werden können. Klar ist
jedoch in jedem Fall, dass etwa die in diesem Zusammenhang unbedingt gebotene Stärkung kultureller
Infrastrukturen eines integrierten
Ansatzes bedarf, dessen Grundlagen langfristig
nur durch eine weitsichtige schulische
Kulturvermittlung sowie STEAM-Bildung
geschaffen werden können.

3. Schließlich stellt STEAM auch einen
strategischen und methodischen Rahmen
für eine deutlich besser strukturierte Förderung
von kultureller Bildung und Kulturvermittlung
sowie für eine entsprechend angepasste
Ausbildung von Lehrerinnen und
Lehrern dar. STEAM bietet damit attraktive
Perspektiven auch für die Weiterentwicklung
der zukünftigen Hochschul-, Bildungs- und
Kulturpolitik in Deutschland.

Mehr Kultur in schulischer und außerschulischer
Bildung ist also, so kann man
schlussfolgern, durchaus nicht nur eine
Forderung, die dem Fachkräftemangel im
MINT-Sektor entgegenwirken kann. Tatsächlich
brauchen wir mehr Kultur und mehr
kulturell informierte Strategien in allen gesellschaftlichen
Handlungsfeldern, wenn
wir unsere Gesellschaft widerstandsfähig
und damit zukunftsfähig machen wollen.
Denn es ist immer die Stärke der kulturellen
Narrative und der damit vermittelten Werte,
die über den Verlauf und den Ausgang von
Prozessen gesellschaftlicher Aushandlung
und damit auch über das Maß des gesellschaftlichen
Zusammenhalts entscheiden:
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Toleranz
und Solidarität sind nicht selbstverständlich,
sondern müssen begründet und
argumentativ verteidigt werden. Die entsprechenden
Gründe und Argumente sind
ihrem Wesen nach jedoch stets kulturell.

Wir brauchen einen Kulturwandel

Ich will noch einen Schritt weitergehen: Die
drei entscheidenden globalen Herausforderungen
unserer Tage – der Klimawandel,
die digitale Transformation sowie Demographie
und Migration – werden wir nicht
allein mit Instrumenten aus Wirtschaft und
Technologie bewältigen können. Gefragt ist
gerade auch die Kultur. Denn längst haben
wir verstanden, dass wir für einen nachhaltigen
Schutz des Erdklimas, für einen verantwortungsvollen Umgang mit den unabsehbaren
Möglichkeiten künstlicher Intelligenz sowie für eine
menschliche und menschenwürdige Antwort auf Migrationsphänomene
und ihre Ursachen nichts weniger
als einen Kulturwandel benötigen; eine grundlegende
Überholung unserer herkömmlichen Handlungsmuster,
Denkweisen und Wertzuschreibungen, ausgedrückt
in neuen Erzählungen mit veränderter Sprache
und frischen Bildern. Woher aber sollten Handeln und
Denken sowie Sprache und Bilder ihre Energie beziehen,
wenn nicht aus kraftvollen, materiellen und immateriellen
Ausdrucksformen von Kultur?

Weil der globale Wettstreit der kulturellen Narrative
inzwischen insbesondere in digitalen Debattenräumen
ausgetragen wird, müssen wir überdies
dafür sorgen, dass die materiellen und immateriellen
Kulturgüter, auf denen diese Erzählungen basieren,
auch in digitaler Form zur Verfügung stehen und
für die jeweiligen digitalen Medien formatiert und
aufbereitet sind. Denn aus dem digitalen Wandel in
einer Gesellschaft ergeben sich für Bildungs- und
Kultureinrichtungen nicht nur Herausforderungen
unterschiedlicher Art, sondern auch zukunftsträchtige
Chancen insbesondere für die Kulturvermittlung.
Diese Chancen ergeben sich aus dem Potential
digitaler Medien, verschiedene gesellschaftliche Zielgruppen
auf jeweils spezifische Weise – nicht zuletzt
inklusiv und barrierefrei – anzusprechen und damit
den Austausch über bestimmte Themen sehr viel breiter
und nachhaltiger in der Gesellschaft zu verankern,
als dies bislang möglich war. Die schulische und
außerschulische Kulturvermittlung sowie die damit
angestrebte Stärkung kultureller Aushandlungsprozesse
innerhalb der Gesellschaft können also von den
Prozessen der digitalen Transformation maßgeblich
profitieren.

»Wir brauchen mehr Kultur und mehr
kulturell informierte Strategien, wenn
wir unsere Gesellschaft widerstandsfähig
und zukunftsfähig machen wollen«

Markus Hilgert
Fünf kulturpolitische Handlungsfelder

Damit jedoch kulturelle Bildung an Schulen langfristig
gelingen kann, ist nicht nur ein besonderes Engagement
der Lehrkräfte und Schulleitungen erforderlich.
Vielmehr müssen gerade die außerschulischen Kulturpartner
die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die
Fragestellungen, Inhalte und Methoden ihrer Arbeit
in die schulische und außerschulische Kulturvermittlung
einfließen und damit diejenige Wirkung entfalten
können, die als Beitrag der Kultur zu den drängenden
Herausforderungen in unserer Gesellschaft so dringend
notwendig ist.

Dabei ist es die Aufgabe der Hochschul-, Bildungsund
Kulturpolitik, angemessene Rahmenbedingungen
für einen stärkeren Wissens- und Kompetenztransfer
zwischen Akteuren im Kulturbereich und der Gesellschaft
einzurichten. Ich möchte fünf Handlungsfelder
benennen, denen dabei eine besondere Bedeutung
zukommt und die sehr viel systematischer als bisher
weiterentwickelt und durch Grundlagenforschung
fundiert werden sollten. Diesen
fünf kulturpolitischen Handlungsfeldern
ist gemeinsam, dass sie insbesondere unter
Einsatz digitaler Technologien auf eine möglichst
breite Teilhabe der Zivilgesellschaft
an Kultur sowie auf eine stärkere Präsenz
des Kulturellen in der politischen Gestaltung
des Sozialen zielen. Diese fünf Handlungsfelder
sind 1. Zugang, 2. Vermittlung, 3.
Wirkung, 4. Teilhabe und 5. Verantwortung. Ich will
kurz skizzieren, was ich darunter jeweils verstehe und
wie sich diese Handlungsfelder zueinander verhalten.

Zugang

Das Handlungsfeld Zugang wird in erster Linie von
der Frage angetrieben, mit welchen analogen und/
oder digitalen Mitteln möglichst viele Menschen
möglichst umfassende Informationen zu kulturellen
Inhalten erhalten können. Ich denke dabei beispielsweise
an Objekte und Objektkonvolute in kulturbewahrenden
Einrichtungen sowie an die mit diesen
Objekten in Verbindung stehenden Erzählungen. Es
geht also darum, unter Berücksichtigung der jeweiligen
Rezeptionsvoraussetzungen der verschiedenen
gesellschaftlichen Zielgruppen auf nationaler und
internationaler Ebene stark differenzierte Wege oder
Kanäle für den Wissensaustausch mit der Gesellschaft
zu identifizieren und einzurichten. Vorgeschaltet ist
dabei aus praktischen Gründen zunächst eine Entscheidung
darüber, zu welchen Inhalten diese Zugänge eröffnet werden sollen. Priorisierungen
sind dabei kurz- und mittelfristig gerade
aus kapazitären und finanziellen Gründen
unvermeidlich. Langfristiges Ziel sollte aber
stets größtmögliche Transparenz sein.

Vermittlung

Darauf aufbauend ist die Kernfrage des
Handlungsfeldes Vermittlung, auf welche
Weise und mit welchen Medien der Kommunikation
ausgewählte Inhalte möglichst
zielgruppenspezifisch, im Idealfall sogar
individuell, so dargestellt werden können,
dass sie verständlich und potentiell
handlungswirksam sind. Zu den zentralen
strategischen Leitlinien gehören dabei
Barrierefreiheit und Inklusion ebenso wie
Differenzierung und Komplexitätsakzeptanz.
Digitale Anwendungen erscheinen in
diesem Zusammenhang als Kommunikationsmedien
der Wahl, da sie nahezu ohne
physische Beschränkungen eine schier unbegrenzte
Auffächerung der Vermittlungsangebote
erlauben. Ungeachtet dessen ist
jeweils im Einzelfall zu klären, welche Darstellungsweise
angemessen und effektiv ist.

Wirkung

Damit ist bereits angedeutet, dass die verlässliche
Bewertung der Wirkung, die Zugangswege
und Vermittlung bei den jeweils
angesprochenen Rezipienten erzielen, ein
weiteres wichtiges Handlungsfeld mit kulturpolitischer
Relevanz ist. Denn nur durch
eine Wirkungsanalyse, durch ein »impact assessment
«, kann deutlich werden, wie stark
die Präsenz des Kulturellen in der Sphäre
des Gesellschaftlichen tatsächlich ist. Auch
hier benötigen wir Erfahrungen aus der
Praxis, Fakten und Zahlen. So besteht die
zentrale Herausforderung bei der digital
unterstützten Vermittlungsarbeit im Kulturbereich
darin, die jeweilige Wirkung der
Maßnahmen und eingesetzten Instrumente
möglichst exakt zu ermitteln. Die Gründe
dafür sind insbesondere methodischer Art,
da sich die »Wirkung« kultureller Vermittlungsangebote
nur schwerlich in der Form
einer Quantifizierung messen lässt. Im besten
Falle kann sie qualitativ erhoben und in sogenannten »impact stories« erzählend beschrieben
werden. Welche Methoden und Verfahren dabei
jeweils angemessen sind und wie sie für ein effektives
Wirkungsmanagement gerade unter Einbeziehung digitaler
Anwendungen eingesetzt werden können, ist
derzeit ein besonders drängendes Desiderat der Forschung.

Teilhabe

Eine wirkungsvolle Vermittlung über zielgruppenspezifische
Zugänge sowie die dadurch erzeugte Ermächtigung
dieser Zielgruppen sind die Voraussetzung
für Teilhabe, deren Ziele, Formen und Verfahren den
Gegenstand des vierten kulturpolitischen Handlungsfelds
darstellen, das ich hier vorstellen möchte. Auch
wenn inzwischen ein weitgehender Konsens darüber
besteht, dass beispielsweise ein nachhaltiger Schutz
von Kulturgütern sowie die Verfügbarkeit der zu ihrer
Erforschung notwendigen Infrastrukturen entscheidend
von einer breiten Teilhabe der Zivilgesellschaft
und der damit verbundenen politischen Willensbildung
in diesem Bereich abhängen, wissen wir nach
wie vor noch viel zu wenig darüber, wie diese Teilhabe
konkret gestaltet werden kann und welche Konsequenzen
damit für herkömmliche Verfahren der
gesellschaftlichen Partizipation und Teilhabe verbunden
sein könnten. Deutlich ist immerhin, dass digitale
Anwendungen hier wichtige Instrumente für Interaktion
und Partizipation sind, deren Potential es stärker
zu nutzen gilt.

An dieser Stelle lohnt es sich, innezuhalten und die
wichtige Frage zu stellen, worin denn die Barrieren
kultureller Teilhabe bestehen, woher sie stammen
und wie sie abgebaut werden können. Die Studie »Kulturelle
Teilhabe in Berlin 2019. Sozialdemografie und
Lebensstile« des Berliner Instituts für Kulturelle Teilhabeforschung
kommt beispielsweise unter anderem
zu dem Ergebnis, dass sich »ein nicht zu vernachlässigender
Teil der Berliner*innen … nur bedingt durch
klassische Kulturangebote angesprochen« fühlt. »Etwas
mehr als ein Drittel der Berliner*innen stimmt
der Aussage zu, dass sich die meisten dieser Angebote
nicht an Menschen wie sie richten würden. Besonders
häufig stimmen dieser Aussage Befragte zu,
die über einen niedrigen formalen Bildungsabschluss
verfügen (43 Prozent) und der Altersgruppe 15 bis 29
Jahre angehören (47 Prozent). Ebenso stimmen dieser
Aussage zu einem hohen Anteil männliche Befragte
(40 Prozent) und Befragte aus einkommensschwachen
Haushalten (42 Prozent) zu. Allerdings findet sich diese Ansicht durchaus auch in den Gruppen,
die gemessen an ihrer Besuchshäufigkeit eigentlich
zu den Kernnachfragenden dieser
Angebote zählen. Immerhin 20 Prozent der
Befragten mit (Fach‑)Hochschulabschluss
und 30 Prozent der über 60-Jährigen stimmen
dieser Aussage zu. Zu hinterfragen ist,
ob sich solche Ergebnisse auf das Image von
klassischen Kulturangeboten ganz allgemein
beziehen – eventuell sogar unabhängig
von deren tatsächlichen Bemühungen
um ein erweitertes Publikum – oder auf das
konkrete Angebot. Wenn klassische Kulturangebote
von bestimmten Bevölkerungsgruppen
nicht als für sie selbst passend
bewertet werden, muss dies zunächst kein
Problem darstellen. Denn es kann einfach
eine Geschmacksfrage sein, die nicht zu bewerten
ist. Problematisch ist es hingegen,
wenn eine solche Aussage vor allem auf jene
Bevölkerungsgruppen zutrifft, für die nicht
von einer chancengleichen Kulturellen Teilhabe
gesprochen werden kann. In diesem
Fall liegt die Vermutung sehr nahe, dass hier
von den Befragten (auch) auf sichtbare oder
unsichtbare systematische Ausschlussmechanismen
hingewiesen wird. Um eine größere
und breitere Kulturelle Teilhabe zu erreichen,
müssten sich Kultureinrichtungen,
‑politik und ‑verwaltung in der Verantwortung
sehen, diese abzubauen.«

»Kulturelle Bildung ist für
unser Miteinander geradezu
überlebenswichtig«

Markus Hilgert
Verantwortungsbewusstsein

Welche Maßnahmen in Kultureinrichtungen
zu einer breiteren Teilhabe insbesondere
derjenigen Menschen führen können, die
diese Kultureinrichtungen selten oder gar
nicht aufsuchen, ist eine Frage, die nicht
nur die Kulturstiftung der Länder, sondern
Kultureinrichtungen und deren Träger in
Deutschland insgesamt umtreibt. Denn ohne eine gelungene Teilhabe möglichst vieler, entsprechend
ermächtigter Menschen dürfte es zunehmend
schwieriger werden, in Zivilgesellschaft und Politik
ein Verantwortungsbewusstsein für diejenigen materiellen
und immateriellen Kulturgüter sowie diejenigen
kulturellen Ausdrucksformen zu wecken, denen
zugleich eine gesellschaftlich stabilisierende, identitätsstiftende
Funktion zugeschrieben wird. Eines ist
jedoch klar: Kulturelle Bildung schafft nicht nur die
beste Grundlage für kulturelle Rezeptions- und Produktionskompetenz
und damit für kulturelle sowie
gesellschaftliche Teilhabe im weitesten Sinne. Kulturelle
Bildung ist vielmehr die Voraussetzung dafür,
dass Kultur von den politisch Verantwortlichen
überhaupt als gesellschaftlich relevante Dimension
und Möglichkeitsbedingung eines freiheitlich-demokratischen
Gemeinwesens erkannt werden kann.
Angesichts der vielfältigen Herausforderungen und
Bedrohungen, vor denen dieses freiheitlich-demokratische
Gesellschaftsmodell national wie international
derzeit steht, ist kulturelle Bildung für unser Miteinander
geradezu überlebenswichtig.

Die schulische Kulturvermittlung schafft hierfür
die unverzichtbaren Grundlagen, sie schafft erste Zugänge
zur Kultur, sie ermutigt zur Teilhabe und übt
diese ein. Die kulturelle Bildung ist damit eine Investition
in die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft,
eine Investition, die hohe Dividenden ausschütten
wird. Denn kulturelle Bildung leistet einen Beitrag zur
Vielfalt, zur Widerstandskraft, zur Diskurskompetenz
und damit zur Demokratiebereitschaft, zur Integrationsfähigkeit
und zum Zusammenhalt. Mit anderen
Worten: kulturelle Bildung in Schulen geht uns alle
an, uns selbst, unsere Kinder und die Kinder unserer
Kinder. Daher können wir diese Zukunftsaufgabe nur
gemeinsam bewältigen, Schulen, Zivilgesellschaft,
Kultureinrichtungen, Förderinstitutionen und Politik.