Links von Alpha
Gott als Widerlager der Zeit
Die Zeit fließt, rast, flieht, drängt, still steht sie nie. Wer spricht,
erlebt Zeit. Alle Wörter, die wir in die Welt setzen, verhallen. Wörter
verwehen im Wind. Die Zeit bedroht alles Gesprochene mit Vernichtung.
Sie ist das schwarze Loch der Gegenwart.
Was tun wir eigentlich, wenn wir sprechen? Als
einziges Lebewesen kann der Mensch darstellen, was
nicht hier und jetzt der Fall ist. Das hört sich fast
harmlos an, aber diese Darstellungsfunktion der Sprache
hat es in sich. Mit ihr beginnt für das menschliche
Bewusstsein das Drama der Zeit.
Zeitschmerz: Wir können die Vergänglichkeit und
Endlichkeit des Lebens verdrängen. Der alte Horaz
fordert dazu auf, sich dem Zauber des Präsens zu ergeben:
„Carpe diem!“ Pflücke den Tag! Auch kennt man
jene Idee des erfüllten Stillstands, das stehende Jetzt
der Mystiker, den Augenblick, zu dem wir gerne sagen
würden: „Verweile doch, du bist so schön.“ (Goethe,
Faust v. 1699f.) Aber wer stemmt sich gegen den Zeiger
der Uhr und hätte je Erfolg gehabt? Es sind ja gerade
die glücklichen und erhabenen Augenblicke, deren
Verschwinden so schmerzt. Manchmal beschreibt ein
Romancier, wie der Genuss einer Madeleine oder eine
„kleine Melodie“ bewirkt, dass ein Mensch „aus der
Zeit herausfällt“. Wenn wir von unserer Dichtung und
Literatur all das abzögen, was mit der „Suche nach der
verlorenen Zeit“ (Marcel Proust) zu tun hätte, was bliebe
da übrig?
Imaginationsaskese nach einem großen Ja!
Herman Schrödter hat mit seiner so einfachen wie elementaren
Definition von Religion gezeigt, wie sehr das
Bewusstsein radikaler Endlichkeit geeignet ist, Religion
hervorzubringen. Dieses Bewusstsein ist religionsgenerativ.
Hier seine Definition: „Religion ist Ausdruck
und Erscheinung des Bewusstseins radikaler Endlichkeit
der menschlichen Existenz und deren realer Überwindung.“
Alle Menschen wissen, dass sie einmal sterben müssen.
Unsere Tage sind bemessen, Zeit ist Frist, eine kurze
Frist, zu kurz und zu klein, immer keine Zeit. Hans Blumenberg spannt vor diesem Bewusstsein radikaler
Endlichkeit den gewaltigen Horizont der „Weltzeit“
aus. Die Bibel spricht von Alpha und Omega, die Physiker
vom Urknall und vom Wärmetod der Welt. Unser
Bewusstsein umgreift diese unermesslich scheinende
Weltzeit durchaus, aber von ihr kommt uns nur ein lächerlich
winziger Bruchteil zu, unsere Lebenszeit. Und
wir kommen nicht umhin, das zu wissen. Das Bewusstsein
radikaler Endlichkeit führt keineswegs zwingend
zu religiösen Überzeugungen. Aber es erzwingt die
Frage, wie wir es mit dieser Endlichkeit halten. Mit
Hans Küng können Christen sagen: „Es kommt kein
Nichts nachher.“ Diese doppelte Verneinung mag intellektuell
eine gewisse Anstrengung erfordern, hat aber
eine hohe Plausibilität und zwar unter einer Voraussetzung.
Es ist die Voraussetzung eines großen Ja. Jeder
Mensch, der gerne lebt, sagt performativ Ja zu sich
selbst und seinem Leben. „Wie schön, dass du geboren
bist“, lautet ein netter Geburtstagsgruß. Aus dieser Bejahung
kann ein großes Ja werden, wenn er sein Leben
als Ganzes bejaht und zwar in vollem Bewusstsein
seiner Endlichkeit. Er sagt: Wenn mir schon die Sicht
auf „alle Zeit der Welt“, die große Weltzeit eröffnet ist,
dann müsste ich mich ja als eine Art Fehlkonstruktion
der Evolution begreifen, wenn mir dieses Bewusstsein
nur gegeben wäre, damit ich darüber unglücklich bin,
wie winzig meine Lebenszeit im Verhältnis zur großen
Weltzeit ist. Es gehört natürlich ein Entschluss dazu,
das „Geworfensein“ und das „Sein zum Tode“ (Martin
Heidegger) nüchtern zu registrieren und doch das
große Ja zu sprechen.
Sich ein Leben nach dem Tod als Umzug in eine andere,
eine zweite Welt vorzustellen, ist in einer mythenkritischen
Moderne nicht mehr möglich. Die Umzugstheorie
in eine zweite, eine „andere Welt“, von der
noch in den Romanen Alexandre Dumas’ die Rede war, ist tot. Sie erzeugt sofort die Frage, nach dem Wie und
Wo, die in der Moderne niemand beantworten kann.
Wie gehen wir mit dem Himmelsnarrativ um? Setzt
es nicht diese Zwei-Welten-Theorie voraus? Wir neigen
dazu, den gemalten Himmel bayerischer Barockkirchen
als die Inszenierung einer längst überwundenen
Dummheit anzusehen. Aber die klügeren Theologen
wussten immer, dass die Lokalisierbarkeit und Temporalisierbarkeit
von Himmel, Hölle und Fegefeuer nur
Einkleidungen einer Wirklichkeit waren, von der schon
immer feststand, dass sie nicht empirisch ist.
Inzwischen ist die Intelligenz der barocken Kunst
entdeckt. Sie wollte zeigen, was unsere Augen nicht
sehen - normalerweise nicht sehen können und damit
eine alteritäre Wirklichkeit zum Thema machen, um
die es uns heute immer noch geht. Es mag sein, dass
es vielen Menschen leichter fällt, sich einen Himmel
vorzustellen, in dem Engel auf Wolken sitzen und die
Heiligen um Gottes Thron herum einen Hofstaat bilden.
Aloisius, der Münchner im Himmel, fand den Umzug
dorthin nicht attraktiv und zog das Hofbräuhaus
vor. Seien wir gerecht: Wer sich von barocken Fresken, illusionieren ließ, musste immer schon aktiv mitwirken,
sich etwa auf den Punkt begeben, von dem aus die
Perspektive stimmt. So wird das Bewusstsein des Betrachters
nicht obskurantisch umnebelt, im Gegenteil,
er kann sich selber darüber belehren, dass das, was er
sieht, ein Konstrukt des Malers, am Ende sein eigenes
ist, und dass ihn am Ende mit dem wirklichen Himmel
womöglich eine große Überraschung erwartet. Den
Himmel als eine Einrichtung anzusehen, die innerhalb
unserer empirischen Wirklichkeitskoordinaten unterzubringen
wäre, setzt ihn der Verwechslung aus, und
war schon immer das Merkmal einer heruntergekommenen
Theologie. So ist die von Hans Küng in seiner
Formulierung vorgestellte Imaginationsaskese keine
schlechte Antwort: „Es kommt kein Nichts nachher.“
Verzichte darauf, es dir jetzt schon auszupinseln.
Ewigkeit hebt die Welt aus den Angeln
Die Zeitkoordinaten der Bibel sind nicht veraltet. Der
religionsgeschichtliche Quantensprung, mit dem der
Monotheismus in die Religionsgeschichte eintritt, besteht
in der Etablierung einer Wirklichkeit, die dem gesamten
Universum einen Hintergrund und ein Gegenüber
gibt und ihm die leuchtende Folie der Zeitfreiheit
hinterlegt. Was soll das sein? Eigenartig: Wir können
die Abwesenheit von Zeit uns nicht wirklich vorstellen,
aber wir können sie konzipieren. Die spektakuläre Unmöglichkeit,
die der strenge Begriff von Ewigkeit darstellt,
lädt uns ein, die Zeit gleichsam „wegzudenken“.
Dies wird insbesondere in einem Vergleich des biblischen
Monotheismus mit dem proto-monotheistischen
Konzept Amenophis IV./Echnaton deutlich. Der Pharao
Echnaton kondensierte die unzähligen Gottheiten
seines Reiches auf die augenfälligste Singularität des
Kosmos, die Sonne.
In der andauernden Debatte über die Ursprünge und
die Folgen des biblischen Monotheismus hat Jan Assmann
gezeigt, was für ein Unterschied zwischen dem
Aton-Sonnenkult und dem neuen Gott Israels bestand.
Das Licht und Leben spendende Himmelsgestirn eignete
sich durchaus für einen großen göttlichen Singular.
Aber so spektakulär die Sonne auch war, sie blieb
ein Teil des Kosmos. Dann aber, im Schöpfungslied der
Bibel Gen 1,16, ist die Sonne entzaubert. Sie ist nichts
weiter als das größere von zwei Lichtern am Firmament,
die Gott am vierten Tag erschuf. Der Gott Israels
ist kein Teil des Kosmos, er ist eine ontologische Singularität,
eine Wirklichkeit der Sonderklasse. Als Schöpfer
ist er das Gegenüber der Welt. Anders gesagt, er ist
die Wirklichkeit der empirischen Wirklichkeiten. Die
Folgen dieses neuen Welt- und Wirklichkeitskonzepts
kann man nicht übertreiben.
Die wirklichkeitskonstituierende Wirklichkeit unterliegt
nicht der Zeit, die eine Koordinate unserer
empirischen Wirklichkeit ist. Hier begleitet sie alle unsere
Vorstellungen. Kant nennt sie eine „reine Anschauungsform“.
Der biblische Gott indes ist der Schöpfer,
der Schöpfer auch der Zeit.
Wer über Gott und die Zeit nachdenkt, erkennt die
Kühnheit, mit der die biblischen Autoren den Absolutismus
empirischer Erfahrung und Wirklichkeit aus
den Angeln heben. „Im Anfang“, so fängt der erste Satz
des Buches Genesis an. En arché, so übersetzt die Septuaginta
den Begriff ins Griechische. „Im Anfang“, en
arché, mit eben demselben Begriff beginnt auch der
Prolog des Johannesevangeliums. Er ist ein Unikat, der
Grenzbegriff der Zeit schlechthin. Es geht ja nicht um
irgendeinen Anfang, dem etwas vorausgegangen sein
könnte, sondern um den absoluten Anfang, den Anfang
überhaupt. Jeden anderen Beginn einer Sache, einer
Entwicklung oder eines Ereignisses könnte man auf
dem Zeitstrahl abtragen, der sich links und rechts davon
weiter erstreckt.
Sozusagen links von Alpha, dem absoluten Anfang,
stürzt unsere Vorstellung ab. Nichts können wir uns
nicht vorstellen, und wenn da ein Etwas wäre, dann
handelte es sich nicht um den absoluten Anfang.
Das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit, das Verhältnis
Gottes als dem Schöpfer des Universums zum Kosmos,
den er geschaffen hat, kann man in einem hinkenden
Vergleich mit jenem berühmten „Punkt außerhalb der
Welt“ vergleichen, von dem Archimedes redet, wenn er
sich ein Widerlager vorstellt, mit dem er die „Welt aus
den Angeln heben könnte“. Er müsste nur einen entsprechend
langen Hebel dafür zur Hand haben. Der
Vergleich hinkt deshalb, weil dieses Gedankenexperiment
immer noch innerhalb des Kosmos konzipiert ist.
Er trifft aber etwas Wichtiges. Tatsächlich erzeugt die Perspektive Gottes ein kontrafaktisches Widerlager.
Faszinierend ist, dass das Gegenüber von Schöpfer und
Welt dieselbe Struktur hat wie die menschliche Reflexion.
Wer Gott als die Instanz „oberhalb der Welt“ erkennt,
versteht den eigenen Abstandsblick, mit dem er
selbst die Welt betrachtet, als tiefe Verwandtschaft mit
ihm. Alles was ist, kann er in den Konjunktiv, besser
noch in den Optativ, setzen. Theodor W. Adorno spricht
vom „Messianischen Licht“, das so auf die Welt fiele.
Wir stehen auf einem religionsgeschichtlichen Grat,
der Wasserscheide zwischen einem anthropogenen
Kult für kosmische Götter und theogenem Monotheismus.
Erstmals hat die Welt ein Gegenüber. Ein Kosmos
mit Referenz sprengt die Grenzen der empirischen
Wirklichkeit. Das ist die Supernova der Religionsgeschichte,
der Beginn einer neuen Weltsicht. Wenn die
Welt, nach der berühmten Formulierung Ludwig Wittgensteins,
zunächst einmal alles ist, „...was der Fall
ist“, dann ist sie nun nach oben offen. Mit dem Übergang
vom Nichts zum Sein beginnt die Zeit zwischen
Alpha und Omega. Die Zeit ist mit ihrer Aufhebung, der
Ewigkeit, hinterlegt.
Ein wenig Metaphernkunde
Sehr bewusst zitiert der Johannesprolog Gen 1,1 „Bereschit“,
den Anfang von allem, den absoluten Anfang.
Er hat damit das aufgespannte Verhältnis von Zeit
und Ewigkeit aufgerufen, in das er die große göttliche
Intervention einträgt: „…und das Wort ist Fleisch geworden
und hat unter uns sein Zelt aufgeschlagen.“ (
1,14) Johannes muss die Schöpfung von Anfang an und
neu erzählen. Der Anfang markiert den Übergang von
Nichtzeit, Ewigkeit in die Zeit. Es ist das „Wort“, das diesen Übergang bewerkstelligt. Johannes greift mit
dieser Metapher die wiederkehrende Formel des Sieben-
Tage-Werks von Gen 1 auf: „Gott sprach…“, „dann
sprach Gott…“ und so sechsmal.
Die Rede vom Sprechen und vom Wort hat einen metaphorischen
Kern. Es ist eine geradezu erkenntnistheoretische
Einsicht, dass das menschliche Sprechen
Realität erzeugt. Wer spricht, setzt etwas in die Welt,
zum Beispiel ein Gerücht. Das Wort ist selbstständig
geworden und kann vom Sprecher nicht wieder ungesprochen
gemacht werden. Für eine Beleidigung kann
man sich entschuldigen, sie in dem Sinne „aus der Welt
zu schaffen“; sie so zu beseitigen, als wäre sie niemals
ausgesprochen worden, ist unmöglich.
Diese Grunderfahrung menschlichen Sprechens ist
der metaphorische Hintergrund für das Schöpferwort,
das aus dem Munde Gottes kommt. Der Unterschied
zwischen dem plappernden Menschen und dem machtvoll
sprechenden Gott liegt auf der Hand. Was Gott gesprochen
hat, das bleibt, das ist nicht nur in der Welt,
es macht, dass es sie gibt. Der Schöpfer spricht mit maximaler
Performanz.
Wort und Bild
Das Wort ist nicht nur eine Metapher, es ist auch ein
Medium. Die Sprache erzeugt ein Drittes zwischen der
empirischen Welt der Objekte und dem menschlichen
Geist. Das Wort „Brathähnchen“ kann man nicht essen,
aber es kann - laut in einer Gesellschaft von Hungrigen
gesprochen - einen gewaltigen Speichelfluss in den
Mündern auslösen. Diese Simultaneität von Anwesenheit
und Abwesenheit ist dem Medium Sprache in besonderer
Weise eigen. Wenn wir uns klarmachen, dass die Darstellungspotenz der Sprache nicht nur wiedergibt,
was es in der realen Welt gibt, sondern auch etwas
„in die Welt setzen“ kann, was unsichtbar ist, dann
nähern wir uns einem entscheidenden Medienwechsel,
der für die Gründungsgeschichte des Monotheismus
eine Bedeutung hat, die wir erst in jüngster Zeit so
recht ermessen haben.
»Die Ewigkeit kennt keinen Kalender.«
Der Polytheismus lebt von und mit Mythen, vor allem
artikuliert er sich in seinem Exerzitium und seinen
Performanzen. Man macht sich Götterbilder und opfert
ihnen, man führt sie in Prozessionen mit, man baut ihnen
Tempel, feiert Feste etc. Der Kult ist der Kitt der
Gemeinschaft. Kultbilder spielen dabei eine besondere
Rolle. Auch sie sind Ergebnisse der menschlichen Darstellungskunst
und verweisen auf die unsichtbaren
Gottheiten, deren Existenz sie behaupten. Hier liegt
ihre kritische Schwachstelle. Sie erzeugen nämlich ein
Verwechslungsproblem, weil die Differenz zwischen
dem, was sie sind, und dem, was sie darstellen wollen,
zum Verschwinden gebracht werden kann, ja fast ganz
ohne Priesterbetrug wie von selbst verschwindet. Diesen
gibt es freilich auch gelegentlich. In Mesopotamien
sind Ableugnungsriten belegt, bei denen die Hersteller
von Kultbildern vor das Publikum treten und beteuern
mussten, sie hätten nichts mit ihnen zu tun. Rituale
der „Mundöffnung“ und Beseelung gehören in diesen
Zusammenhang. Das dreidimensionale Bild lädt sich
mit magischer Präsenz auf.
Wer die Polemik von Jesaja 44 gegen die selbstgemachten
Götzen liest, soll die Dummheit der Menschen
ermessen, die sie mühevoll hergestellt haben, um sich
anschließend vor ihnen niederzuwerfen. Waren die
Menschen damals wirklich alle dumm? Das ist sehr
unwahrscheinlich. Selbst wenn man die Polemik der
biblischen Aufklärung für überzogen halten kann und
wenn man einräumen wird, dass im Umgang mit Götterbildern
am Ende doch das Bewusstsein einer Differenz
zwischen dem Bild und dem, was es darstellte,
nicht ganz verschwunden war, wird man die Kraft einer
magischen Präsenz von Kultbildern nicht von der Hand
weisen können. Wer einmal etwa in indischen Tempeln
in die leuchtend starren Augen Shivas blickt, kann den
Effekt heute noch erleben: Der Kampf gegen die Kultbilder
i m alten Israel konnte allerdings nur gewonnen
werden, weil ein Substitutionsmedium zur Verfügung
stand, das an die Stelle der Kultbilder treten konnte.
Das neue Medium
An die Stelle des Mediums Bild tritt das neue Gottesmedium
Schrift. Das, was in der Religionswissenschaft,
„scriptural turn“ genannt wird, hat Voraussetzungen.
Die Schrift musste sich erst entwickelt haben,
bevor sie die Kultbilder ersetzen konnte. Zweifellos
sind Bilder, die ältere, wahrscheinlich sogar die älteste
Darstellungsform von homo sapiens sapiens. Die ältesten
Bilder in der El Castillo-Höhle werden auf 40.000
v. Chr. datiert. In vielen Stufungen entwickeln sich aus
Bilderschriften abstraktere Formen der Darstellung,
bis es schließlich möglich war, die gesprochene Sprache
so zu fixieren, dass sie durch Rezitation immer wieder
neu zum Leben erweckt werden konnte. Wir sehen
sofort, was dies für unser Zeit-Thema bedeutet. Während
Höhlenbilder und dreidimensionale Kultbilder,
auch wenn der Zahn der Zeit an ihnen nagen mochte,
eine Anmutung von Dauer hatten, so, als ob die Zeit
ihnen nichts oder jedenfalls nicht viel anhaben könnte,
war die Sprache immer etwas höchst Flüchtiges. Die
im Wind verwehenden Worte durch Erinnerung und
Memorialtechniken festzuhalten, ist ein eher hilfloser
Versuch und kann nur begrenzten Erfolg haben. Erinnerungen
verblassen, Worte werden vergessen. So kann
man die Bedeutung einer Kulturrevolution kaum übertreiben,
die darin besteht, dass es irgendwann einmal
möglich war, gesprochene Sprache festzuhalten und
sie so dem Vernichtungswerk der Zeit zu entziehen. Im
alten Israel wurde die Schrift erstmals konsequent als
Substitutionsmedium genutzt. Sie ersetzte das Kultbild.
Das Goldene Kalb wurde zu Pulver zermahlen, in
Wasser gestreut und den Israeliten zu trinken gegeben.
So mussten diejenigen, die es hervorgebracht hatten,
es wieder in sich zurücknehmen. Vom Berg herab kam
Mose. Er hatte die Schrift empfangen, die der Finger
Gottes selbst geschrieben hatte.
Was unterschied dieses andere Medium vom Kultbild?
Es gehörte jener dritten Welt an, in der es Bewusstseinsinhalte
gab, die gleichzeitig präsent waren,
sich aber doch entzogen. Diese Simultaneität von Präsenz
und Entzug, die der Sprache immer schon eigen
war, zeichnet nun auch die geronnene Sprache, das neue Medium Schrift aus. Nun war es nicht mehr möglich,
das Medium mit dem zu verwechseln, was es doch
nur darstellen sollte. Das Verwechslungsproblem war
gelöst. So wurde in Israel die Schrift zum Gottesmedium,
so entstand als neues Leitmedium der monotheistischen
Religion: Heilige Schrift.
Mit dem Begriff der „Idolatrie“ wird die Kultbildverehrung
bezeichnet. Entsprechend könnte man den
Umgang Israels mit der Gottesschrift „Grapholatrie“
nennen. Die Heilige Schrift wird in einer kostbaren
Bundeslade aufbewahrt, für sie wird der Tempel zu
Jerusalem zum kostbaren Schrein. Und wenn in den
Wirren der Zeit die Tora einmal verloren ging, dann
wurde sie unter König Joschija auf wunderbare Weise
wiedergefunden (2 Könige 22). Die Heilige Schrift tritt
an die Stelle der heidnischen Kultobjekte. Die Schrift,
so könnte man als Zwischenbilanz formulieren, hat
eine Schlacht gegen die Zeit gewonnen, nicht aber den
Krieg.
Inkarnation: Der Medienwechsel als Zeitenwende
Es mag zunächst wie eine Vereinfachung aussehen,
wenn wir von einem zweiten Medienwechsel sprechen.
Der erste Medienwechsel vom Kultbild zur Schrift gehört
zur Gründungsgeschichte des Monotheismus.
Dieser Wechsel, also der Übergang von den Göttern,
die unter dem Verdacht stehen, ihre Existenz menschlichen
Bedürfnissen und Wünschen zu verdanken, zu
einem Gott, der sich als „Ich-bin-da“ in der Schrift präsent
gemacht hat, indem er sich gleichzeitig entzieht,
ist in der Tat mehr als nur ein Medienwechsel. Mit ihm
ist eine vollständig andere, eben monotheistische Theologie,
verbunden. Im großen Exodus-Narrativ werden
die Offenbarungserzählungen immer mit dem Index
des Entzugs verbunden. Die „Andersheit“ Gottes manifestiert
sich in der Brechung der Wirklichkeitskoordinaten.
Der Dornbusch, aus dem die Stimme den
Mose anruft, brennt und verbrennt nicht. Die Wundererzählung
installiert die andere Wirklichkeit Gottes.
Die Botschaft des „Ich-bin-da“ betrifft exakt unser
Thema, die Zeit. Gemäß der hebräischen Grammatik
beschränkt sich diese Aussage nämlich nicht auf ein
Präsens, sie gilt zugleich für Vergangenheit und Zukunft.
„Ich bin da“ ist örtlich unbegrenzt. Und so wie er
nirgendwo nicht ist, ist sein Dasein zeitlich entgrenzt.
Die monotheistische Zeitstruktur tritt hier deutlich zu
Tage. Gott, der Herr der Zeit, der ewige, an den Zeitpfeil
nicht gebundene, tritt, indem er sich offenbart, in die
Geschichte zwischen Alpha und Omega ein.
Der zweite Medienwechsel, der das Gottesmedium
Schrift durch ein anderes, das inkarnatorische Modell
überbietet, lässt dieses monotheistische Zeitverhältnis
im Zueinander von Ewigkeit und Zeitlichkeit noch
deutlicher erkennen.
Lukas gibt in seiner Erzählung von der Verkündigung
des Wortes an die Jungfrau Maria und der Erzählung
von der Geburt Jesu die narrative Langfassung
des Inkarnationsgeschehens. In der großartigen Lakonik des Johannesprologs wird es auf den Punkt
gebracht: „Und das Wort ist Fleisch geworden…“ (1,14)
Wenn das göttliche Wort, das im Anfang war und den
Übergang von Nichts zum Sein bewerkstelligt hat,
nunmehr Fleisch wird, erkennen wir noch deutlicher,
wie sich die geschichtliche Zeit in all ihrer Unumkehrbarkeit
mit dem Hintergrund der Ewigkeit berührt. Indem
der Herr der Zeit in die Geschichte eintritt, wird
das klassische Gottesmedium des Monotheismus, die
Schrift, noch einmal überboten. Der inkarnierte Logos,
das Fleisch gewordenen Wort, kritisiert die Schrift.
Im achten Kapitel des Johannesevangeliums wollen
Schriftgelehrte in buchstäblichem Gehorsam gegenüber
der Schrift eine Ehebrecherin steinigen. Sie berufen
sich auf Mose, den Propheten der Tora. Wir erinnern
uns: Der Text war vom Finger Gottes selbst auf
steinerne Tafeln geschrieben worden (Ex 31,18). Nun
aber (Joh 8,6-8) schreibt wieder ein Finger. Für den
Verfasser der Perikope ist es der Finger des Mensch
gewordenen Gottes: Jesus bückt sich, schreibt mit seinem
Finger auf die Erde und sagt seinen berühmten
Satz: „Wer ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein
auf sie“, bückt sich wieder und schreibt wieder mit
dem Finger auf die Erde. Was hat er geschrieben? Das
wird uns vorenthalten. Wir müssen es nicht wissen.
Auf den Inhalt kommt es nämlich nicht an. Nicht was
er geschrieben hat ist wichtig, sondern dass er geschrieben hat. Es wird gezeigt, wie Jesus gegen den
Buchstaben der töten soll, anschreibt. Das ist die performative
Antwort des fleischgewordenen Wortes. Das
Wort war Fleisch geworden.
Jesus hatte sich in der Bergpredigt (Mt 5,18f.) als
frommer Jude zu „Gesetz und Propheten“ bekannt, und
eingeschärft, auch den kleinsten Buchstaben zu achten,
um allerdings dann hinzuzufügen: „Wenn eure
Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten
und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich
kommen.“ (Mt 5,20)
„Bis er kommt in Herrlichkeit“
Die Jahre Jesu konnte man zählen; es waren 33, eine
vergleichsweise winzige Episode zwischen Alpha und
Omega. Das Wort hatte nur „ein Zelt aufgeschlagen“
(Joh 1,14). Was kam danach? Diese Zeitfrage gehört in
die historische Sphäre zwischen Alpha und Omega. Die
Evangelien, vor allem das Johannesevangelium, greifen
das urmonotheistische Konzept einer zeitfreien
Wirklichkeit Gottes auf und tragen die Lebenszeit Jesu
in diesen Hintergrund der Ewigkeit ein. So führen sie
das schon in der hebräischen Bibel angelegte Konzept
einer Heilsgeschichte auf den Höhepunkt einer erfüllten
Zeit in der Inkarnation.
Dass in der frühen christlichen Gemeinde die Wiederkunft
Christi und das apokalyptische Ende aller
Zeiten, Omega, als unmittelbar bevorstehend erhofft
wurde, kann vor allem den paulinischen Texten entnommen
werden. Von den frühesten Anfängen der
Gemeinde an wird die Zeit zwischen dem nunmehr
physisch abwesenden Christus und seiner nahen Wiederkunft
als eine Zwischenzeit mit einer neuen Qualität
erlebt – eingespannt zwischen Zeit und Ewigkeit.
Die Königsherrschaft Jesu hatte ja begonnen. Zeit und
Ewigkeit hatten sich berührt, und nun kam alles darauf
an, dass der offenbar gewordenen Präsenz der
Ewigkeit Geltung auch in der Zeit verschafft würde.
Das Leben Jesu war Vergangenheit. Aber in dieser Vergangenheit
war Ewigkeit hereingebrochen. Deshalb
durfte sie nicht vergehen. Die mitlaufende Präsenz
Jesu des Auferstandenen wird dadurch gesichert, dass
die Gläubigen sich versammeln und sich im eucharistischen
Mahl seiner unvergänglichen Gegenwart immer
neu versichern. Im Mysterium öffnet der Kommunikant,
indem er den Leib Christi in sich aufnimmt, seinen
Zeitkäfig. Er unterliegt weiterhin der Schwerkraft
der Empirie und damit dem Gesetz der vergehenden
Zeit. Gleichzeitig, im emphatischen Sinn des Wortes,
nimmt er ein Momentum göttlicher Zeitfreiheit in sich
auf. Er öffnet sich der Ewigkeit. Das muss Folgen haben.
Er weiß, dass die Vereinigung mit Christus durch
sein Leben beglaubigt werden muss.
Kann man nun von Christi Auferstehung und Himmelfahrt
als einer Rückkehr in die Ewigkeit sprechen?
In der Theologie hat man ein Deszendenz-Aszendenz-
Modell als allzu simpel kritisiert. Deszendenz meint
die Menschwerdung, den Abstieg aus dem Himmel der
zeitlosen Ewigkeit und Aszendenz den Aufstieg, die Himmelfahrt aus der Zeit in die Ewigkeit. Die Kritik
ist insofern berechtigt, als auf unangemessene Weise
vom Zeitmodus der Ewigkeit gesprochen wird, als
wäre auf den ersten Akt der Deszendenz der zweite der
Aszendenz gefolgt. Dieses Nacheinander passt nicht
zur Ewigkeit, die kein Vorher-Nachher kennt. Mit dem
Verhältnis von Zeit und Ewigkeit haben sich von Anfang
an die christlichen Philosophen und Theologen
große Mühe gegeben. In der Formulierung des nizänokonstantinopolitanischen
Glaubensbekenntnisses, der
Formulierung „Gezeugt, nicht geschaffen“, kommt das
zum Ausdruck.
Der Johannesprolog ist der wichtigste und großartigste
Quelltext christlicher Theologie. Auf den Vers
1,14 geht schließlich der Begriff der Inkarnation, d.h.
Fleischwerdung, zurück. Wichtig ist zu erkennen, dass
die Fleischwerdung nicht auf die Person Jesu begrenzt
werden kann. In 1,12 heißt es nämlich: „Allen aber, die
ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.“
Der eine Gott ist ein Gott für alle. Christus ist der
Anker der Zeitenwende.
Kein Wartesaal in der Ewigkeit
Jacques Le Goff hat in einer großen Monographie „Die
Geburt des Fegefeuers“ (1984) gezeigt, wie in der zweiten
Hälfte des 12. Jahrhunderts die Vorstellung von
einem locus purgatorius, einem Fegefeuer, aufkam.
Die Bibel weiß davon nichts. Das Mittelalter neigte in
einem wenig trennscharfen Platonismus dazu, geistiggeistliche
Realitäten räumlich und zeitlich zu verdinglichen.
Antike Vorstellungen von Unterwelt und
Jenseits konnten aufgegriffen werden und waren ein
Fundus für allerhand Spekulationen, Visionen und Legenden.
Daneben gibt es so etwas wie eine Logik der
Heilsgeschichte. Wer ihr folgt und darauf setzt, dass
die Gläubigen mit Christus, dem ersten der Entschlafenen,
auferstehen, wird sie sich nicht umstandslos als
imperfekte Sünder in der Herrlichkeit Gottes vorstellen
können. Bevor sie dieses Ziel erreichen, muss ein
Reinigungsvorgang stattfi nden. Von dem ist schon sehr
früh die Rede.
Zur Logik der Heilsgeschichte gehört auch die Beseitigung
einer scheinbaren Ungerechtigkeit. Was
ist eigentlich mit den Heiligen des Alten Testaments,
die vor Christus gelebt haben? Die Antwort ist nicht
unplausibel. Für die Ewigkeit ist die historische Zeit
ohne Belang. Christus als Herr der Zeiten „eines Wesens
mit dem Vater“ hat nie im Zeitkäfi g seiner 33 Jahre
gesessen. Joh 8,58 heißt es: „Ehe Abraham wurde
bin ich.“ Der Satz ist schon wegen seiner Installation
einer grammatischen Ungereimtheit interessant. Das
Werden in der Zeit stößt auf das Sein in der Ewigkeit.
Zudem hören wir einen Anklang an JHWH „Ich bin der
ich bin da“, das Tetragramm. Die schöne Erzählung
vom Christus, der zwischen Kreuzigung und Auferstehung
„hinabgestiegen in das Reich des Todes“ ist, um
Adam, Eva, Abraham und seine gerechten Nachkommen
an sich und den Vater zu ziehen, spielt vor allem
in der Kirche des Ostens eine große Rolle.
Es ist für mich schwer verständlich, wie die mittelalterlichen
Eintragungen von Verhältnissen und Abläufen,
die eindeutig nicht der historisch-empirischen
Sphäre angehören, in räumliche und zeitliche Koordinaten
ungerührt fortgeschrieben werden. Dies betrifft
insbesondere das nie widerrufene Ablasswesen, die
Verrechnungen von zeitlichen Sündenstrafen im Fegefeuer
nach Tagen Monaten und Jahren. Wer die Gedanken
und Ratschlüsse Gottes berechnen kann, steht im
Verdacht der Usurpation. Prediger, die in der Vergangenheit
oder in James Joyces „Finnegans Wake“ mit
Hölle und Fegefeuer den Sündern einheizten, gehören
zu den Altlasten des Christentums. Was das Thema
Zeit betrifft, können wir nüchtern feststellen, dass hier
eine Art Kategorienfehler vorliegt. Kein Kalender in der
Ewigkeit!
Wer den Blick auf die „armen Seelen im Fegefeuer“
von allen merkantilistischen Anmaßungen reinigt, und
in seinen Fürbitten die große, über den Tod hinausragende
Gemeinschaft der Erlösten und der zu Erlösenden
realisiert, hat sich allerdings jetzt schon in die
Gesellschaft begeben, zu der er später selbst einmal
gehören wird.
Zur Person
Eckhard Nordhofen
ist Honorarprofessor für theologische Ästhetik und Bildtheorie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Gründungsherausgeber
des EULENFISCH.