Barmherzigkeit in Islam und Christentum
Eine Zeitansage
Zwei Bücher aus zwei klugen religionsverschiedenen Federn:
Kardinal Walter Kasper und Mouhanad Khorchide widmen sich der
Barmherzigkeit. Wieviel Berührung gibt es zwischen christlicher
und islamischer Theologie?
Barmherzigkeit in zeitlicher Koinzidenz
In Münster gibt es Streit. Und zwar um den liberalen muslimischen Theologen Mouhanad Khorchide. Aufgrund eines Gutachtens über sein Werk „Islam ist Barmherzigkeit“ (Freiburg 2012) forderte der Koordinationsrat der Muslime die Abberufung des Professors wegen „mangelnder Orthodoxie“. Khorchide wehrt sich und scheint sowohl das zuständige Ministerium als auch die Universität, vor allem aber die liberale deutsche Öffentlichkeit hinter sich zu haben. Khorchide ist inzwischen sicher einer der populärsten Theologen Deutschlands. Dies nicht zuletzt, weil er verständlich über einen mit der Moderne kompatiblen Islam schreibt, die Bedürfnisse der deutschen Mehrheitsgesellschaft bedient und zudem die Sprachspiele eines kulturell nicht bornierten christlichen Publikums im Blick hat.
Es erstaunt, dass Khorchide an der Schnittstelle zwischen traditionellem Islam und moderner Gesellschaft ausgerechnet das Thema Barmherzigkeit, lat. misericordia, gewählt hat; genau jenes Thema also, von dem im selben Jahr Walter Kardinal Kasper in seinem bemerkenswerten Buch „Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens“ schreibt, „dass dieses für die Bibel zentrale und für die gegenwärtige Wirklichkeitserfahrung aktuelle Thema in den Lexika und in den Handbüchern der dogmatischen Theologie bestenfalls am Rande vorkommt“ (19). Gleich zu Beginn zeigt er, dass andererseits alle Päpste seit Johannes XXIII. die Barmherzigkeit in den Mittelpunkt ihrer Predigt gestellt haben. Wie wirksam Kaspers Einlassung auf den aktuellen Papst Franziskus war, dürfte inzwischen bekannt sein (siehe Kasten).
Sollte also eine „warme“ Eigenschaft Gottes, welche traditionell der „kalten“ Gerechtigkeit gegenüber oder komplementär zur Seite gestellt wurde, in beiden großen monotheistischen Religionen über lange Zeit marginalisiert und zeitgleich wieder relevant geworden sein? Was würde eine solche Diagnose für die Gegenwarts- und Zukunftsfähigkeit von Religionen bedeuten, denen – zumindest in sich säkularisierenden westlichen Gesellschaften – ausgerechnet eine zu starke Orientierung an ihrer „Drohbotschaft“, also an der göttlichen Gerechtigkeit im Jüngsten Gericht vorgeworfen wird, an das ja Muslime wie Christen glauben?
Eine Alternative zu Gehorsam und Angst
Khorchide beschreibt die Intention seines Buches folgendermaßen: „In diesem Buch möchte ich die Theologie der Barmherzigkeit als Alternative zu einer in der islamischen Welt sehr verbreiteten Theologie des Gehorsams und der Angst auf eine einfache und auch für Laien verständliche Weise darlegen. Ich sehe im Islam eine Botschaft der Barmherzigkeit, die von einem absolut barmherzigen Gott ausgeht. Mein Ziel ist es, dieses Bild vom Islam als Angebot an Muslime zu richten, die bereit sind, ihren Glauben zu reflektieren, und die offen für Antworten sind, die sie bisher noch nicht kannten.“ (27) Das klingt nach einer Herkules-Aufgabe ohne allzu viele Mitstreiter.
Der islamische Theologe streift im theologischen zweiten Kapitel zunächst (zu) kurz die islamische Lehre von den Namen bzw. Attributen Gottes, denn um ein solches Attribut handelt es sich bei der Barmherzigkeit, um dann lapidar zu bemerken: „Barmherzigkeit (ist) die am häufigsten erwähnte Eigenschaft, die Gott sich selbst zuschreibt. 113 der 114 koranischen Suren beginnen mit der Formel ‚Im Namen Gottes des Allbarmherzigen, des Allerbarmers‘.“ (35) Danach wird deutlich, dass am Ende der sogenannten „formativen Epoche“ des Islam, namhaft im 12. und 13. Jahrhundert durch die beiden Theologen Al-Ashari und Al-Ghazali, diese Dimension im islamischen Gottesbild nicht nur marginalisiert, sondern völlig beseitigt wurde. „Problematisch an dieser Gottesvorstellung ist, dass sie Gott als willkürlichen Herrscher erscheinen lässt.“ (37) Nicht einmal Gerechtigkeit ist seitdem von Allah zu erwarten, ja, kein einziges Geschöpf, auch nicht der Mensch vollzieht, was es tut, aus eigener etwa naturwissenschaftlicher oder freiheitlicher Dynamik, sondern Gott allein ist in dieser „Asch‘aria“ genannten Schule die Intention seiner Schöpfung, über deren Fortexistenz und Entwicklungsrichtung er in jeder Sekunde in durch keine Ethik eingeschränkter Machtvollkommenheit entscheidet. Die von der Asch‘aria bekämpfte rationalistische Schule der „Mu‘tazilliten“, die in etwa der jüdischen „Scholastik“ eines Maimonides oder der christlichen eines Thomas von Aquin entspricht, geht hingegen von einer vollkommenen göttlichen Gerechtigkeit aus, welche Barmherzigkeit immer einschließt.
Leider ist die Asch‘aria bis heute kultur- und stilprägend in der muslimischen Theologie und erst recht in der Volksfrömmigkeit. Khorchide berichtet aus seiner eigenen Schulzeit in Saudi-Arabien: „Wenn über Gott gesprochen wurde, dann nur darüber, wie man ihn verherrlichen soll, über seinen Zorn, über seine Strafen und seine Hölle.“ (40) Nur konsequent formuliert er anschließend ein ausführliches „Nein zur schwarzen Pädagogik“ (40-44) und fügt sich damit bis in die Begrifflichkeit in Therapie und Diagnose in die Tradition christlich-aufgeklärter Theologie des 20. Jahrhunderts ein.
Mancher Katholik, den hier das Schaudern packt, sollte sich vielleicht an die Katechese der 1950er Jahre in Deutschland erinnern, speziell an die Volks-Missionen, die nicht viel anders funktioniert haben. In Kardinal Kaspers Buch vermisst man eine Fassung dessen, wozu die diagnostizierte Unterbestimmtheit der Barmherzigkeit in christlicher Theologie und Kirche bis ins 20. Jahrhundert hinein geführt hat. Anders als bei Khorchide fällt hier das Wort „schwarze Pädagogik“ nicht. Stattdessen muss die Leserin sich via negativa erschließen, welche Schieflagen in christlicher Pastoral und Theologie ursächlich oder in ihrer Wirkung mit dem Ausfall einer christlichen Theologie der Barmherzigkeit zusammenhängen könnten. Kasper legt allerdings seine theologiehistorische Ursache offen: Wir verdanken das Problem dem späten antipelagianischen Augustinus, dem Erfinder der doppelten Prädestination.
Barmherzigkeit christlich und islamisch
Was ist mit dem scheinbar so eingängigen und selbstverständlichen Wort „Barmherzigkeit“ gemeint? Diese Frage ist nicht dadurch leichter beantwortet, dass in beiden Büchern von Gottes Barmherzigkeit die Rede sein soll, also von einem Attribut oder einer Wesens- eigenschaft (Khorchide unterscheidet zwischen Wesens- und Tatattributen), von der uns Christen die Negative Theologie und das IV. Lateran-Konzil lehren, dass jede affirmative Aussage nicht Gottes Ähnlichkeit mit menschlichen Kategorien, sondern nur seine immer größere Unähnlichkeit beschreiben kann.
Der christliche Theologe liefert vielfältiges Material aus Bibel und Tradition: Gegen eine eher kritische Beurteilung der Barmherzigkeit in Platonismus und Stoa steht dessen Hochschätzung durch Aristoteles. „So macht uns das unverschuldete Leid des anderen existentiell betroffen; weil sein Leid auch uns zustoßen könnte, identifizieren wir uns im Mitleid gewissermaßen mit ihm.“ (30) Gott kann zwar per definitionem „nicht durch fremdes Leid von außen affiziert werden“, dennoch halten (der frühe) Augustinus und Thomas von Aquin für die christliche Tradition fest, dass ihm „Barmherzigkeit […] im Sinn des aktiven und effektiven Widerstands und der Überwindung des Mangels und des Leidens zugeschrieben werden“ könne (31). Dass aus dieser klaren Positionierung ganz im Sinne der Propheten (v.a. Hosea 11) und des sich am Kreuz für die Vielen hingebenden Jesu die gesamte abendländische Kranken- und Armenfürsorge entspringt, die in der vorchristlichen Antike unüblich war, kann nicht genug betont werden. In hilfreichen Ausflügen in die neuzeitliche und zeitgenössische Philosophie gelingt es Kasper schließlich, einerseits Philosophie als ancilla theologiae, also als Schwellenwissenschaft zur Theologie, andererseits Barmherzigkeit als universales Phänomen, das auch dem Nichtglaubenden einleuchten muss, überzeugend darzustellen. Hier hat das Christentum praktisch und theologisch einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur abendländischen Geistesgeschichte geleistet, der sich in seinen feinverästelten Wurzeln in Prophetenschriften und Psalmen nicht von einem zornigen Gott des Alten Testaments absetzt, sondern sich vielmehr der hier entwickelten Theologie einer „hesed“, hebräisch für Gunst, Freundlichkeit, Huld, Gnade und Barmherzigkeit, verdankt.
Auch Khorchides Intention richtet sich apologetisch nach außen: Er will der säkularen Gesellschaft einen Islam präsentieren, welcher im Umfeld der philosophisch und theologisch reflektierten abendländischen Begrifflichkeiten wie Liebe, Freiheit, Gewissen, Gerechtigkeit an Menschenbild und Werte der Aufklärung anknüpft, ohne dem Relativismus zu verfallen. Doch mindestens ebenso wirbt er innerhalb der deutschsprachigen Umma für eine Transformation des Islam aus den eigenen Wurzeln. Die Unübersichtlichkeit und potentielle Endlosigkeit dieses Feldes stellt zugleich die Schwierigkeit dieses Buches dar, sich wirklich in einem philologisch zufriedenstellenden Sinne auf das Thema Barmherzigkeit zu konzentrieren. So wird deutlich, auf wie vielen Feldern zeitgemäße islamische Theologie ansetzen muss, um die These „Islam ist Barmherzigkeit“ untermauern zu können.
So muss der islamische Theologe die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf als Liebesbeziehung erst entwickeln (70-84) und zum Teil aufwendig und durch Analogieschluss aus eher verstreuten Koranversen das extrahieren, was dann leicht als „state of the art“ christlicher Theologie erkennbar wird: „Gott zwingt niemanden, in seine Gemeinschaft einzutreten, er lädt ein, macht den Menschen Angebote und wirbt um die Gemeinschaft mit sich. Gott ist sehr bemüht darum, der Mensch kann sich aber in Freiheit dafür oder dagegen entscheiden. Gott ist nicht zornig, er freut sich jedoch, wenn er den Menschen für seine Liebe gewinnen kann.“ (83) „Muslim ist jeder, der Ja zu Gottes Liebe und Barmherzigkeit sagt“, so ist das erste Kapitel des Teils 4 „Das Menschenbild im Islam“ überschrieben. Khorchide nimmt hier eine bemerkenswerte Parallelisierung zwischen ethisch richtigem Verhalten und der Zugehörigkeit zum Islam vor, welche eindeutig die inklusivistischen Züge etwa von Karl Rahners anonymen Christentum trägt. Wenn jeder Mensch guten Willens (anonymer) Moslem ist, dann wird zum einen die auf Immanuel Kant zurückgehende Ethisierung der Religion (103ff) nachvollzogen und zum anderen die salafistische und menschenverachtende Definition aller nicht(orthodoxen) Muslime als „Kafirun“, Ungläubige, unterwandert und damit die Rechtfertigung ihrer Diskriminierung, ja Tötung (Khorchide will nicht mehr „Ungläubige“ übersetzen, sondern „Verweigerer“ der islamischen Liebesbotschaft).
Mit dieser Argumentation verschwimmen die Grenzen zwischen den (monotheistischen) Religionen, welche den Anspruch erheben, die an die göttliche Liebe Glaubenden in sich zu vereinen. Hier wird künftig zu klären sein, welche Auswirkungen solcherlei Verschwisterung auf der Ebene einer philosophisch rekonstruierbaren Liebesethik auf den Dialog zwischen den monotheistischen Religionen haben wird, die Khorchide in seiner zweiten Monographie „Scharia – der missverstandene Gott: Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik“ (2013) weiterentwickelt (vgl. Herder Korrespondenz 6/2014). Der Akzeptanz der Theologie Khorchides in der islamischen Welt dürften die beiden Arbeiten jedenfalls nicht genutzt haben, wofür auch der heftige Widerstand der mächtigen Verbände gegen seine Lehrtätigkeit in Münster und die abfälligen Äußerungen nicht weniger Studierender sprechen.
Die eschatologische Parallele
Abschließend ein kurzer Blick auf eine bemerkenswerte Parallele zwischen den Barmherzigkeitsbüchern: Beide setzen sich ausführlich mit dem Gerichtsglauben ihrer jeweiligen Religion auseinander und beschreiten durchaus vergleichbare Pfade. Kasper (107-132) stellt den aktuellen Stand der theologischen Entwicklung vor (vgl. J. Valentin: Eschatologie, Paderborn 2013), grenzt sich skeptisch von der Lehre der Allversöhnung (Apokatastasis) ab und verweist auf die Modernität des Fegefeuer-Glaubens. „Es gehört zur Barmherzigkeit Gottes, dass sie unsere menschliche Freiheit nicht übergeht. Gott rät, aber er zwingt nicht, er drängt uns, aber überrumpelt und überwältigt uns nicht.“ (113) „Zeichen dieser unendlichen Barmherzigkeit und Geduld Gottes für diejenigen, die sich nicht endgültig gegen ihn entschieden haben, ist die Lehre vom Purgatorium.“ (114)
In den eschatologischen Passagen seines Buches wird Khorchides Inspiration von christlicher Theologie sichtbar: „Die Hölle wird am Ende leer sein“, heißt Kapitel 2.5 in Anlehnung an die Theologie Hans Urs von Balthasars. Dieser Anschluss gelingt Khorchide, weil er erneut die mu’tazillitische Tradition gegen die asch’aritische stark macht: „Für sie ist Gott gerecht, so dass der Ausgang des Gerichtstages ausschließlich von den Handlungen des Menschen abhängt.“ (48) Im Koran heißt es noch weitergehend: „Er hat sich selbst zu Barmherzigkeit verpflichtet, er wird euch zum Tag der Wiederauferstehung versammeln“ (Sure 6:12). Selbst den Fegefeuer-Gedanken nimmt Khorchide auf, obwohl es in der islamischen Tradition nur die Alternative zwischen Hölle und Paradies zu geben scheint. Sein Ansatz sieht im Jenseits „eine Phase der Transformation“ vor, „mit der die Menschen zur ewigen Glückseligkeit, also in die Gemeinschaft mit Gott gelangen, indem sie Gottes Barmherzigkeit in ihrer absoluten Vollkommenheit erfahren und erleben“ (50). Das klingt nicht mehr nur nach Gerechtigkeit, sondern nach muslimischer Allversöhnung.
Liest man die beiden Werke zur Barmherzigkeit, die vollkommen unabhängig voneinander im Jahr 2012 erschienen sind, so kann die Vision einer gemeinsamen monotheistischen Theologie vor unserem geistigen Auge erstehen, wie sie schon einmal in der formativen Epoche des Islam in unmittelbarer Nachbarschaft zu Judentum und Christentum existiert hat. Der Vorsprung des Christentums, das sich seit Jahrhunderten trotz aller Repression einer echten theologischen Debatte erfreut, ist dabei so unübersehbar wie die Intelligenz und Dialogbereitschaft muslimischer Theologen wie Mouhanad Khorchide. Die monotheistischen Offenbarungsreligionen, insofern sie an einen persönlichen Gott glauben, haben sich in vielen Punkten mit ähnlichen theologischen Grundfragen auseinanderzusetzen und sie haben die Standards neuzeitlicher Philosophie zu achten, was die Bestimmung des Menschen als ein Wesen der Liebe, der Freiheit und also auch des Scheiterns angeht, wenn sie sich in den Gesellschaften der Gegenwart als ernstzunehmende Weltanschauungen behaupten wollen. Die göttliche und menschliche Eigenschaft der Barmherzigkeit scheint sich als ein Fixpunkt und Prüfstein in dieser Debatte herauszukristallisieren.
Papst Franziskus:
„In diesen Tagen habe ich ein Buch eines Kardinals lesen können, von Kardinal Kasper, der ein großartiger Theologe ist, über die Barmherzigkeit. Und dieses Buch hat mir sehr gut getan – denkt aber nicht, dass ich Werbung für die Bücher meiner Kardinäle mache, so ist das nicht – aber es hat mir sehr gut getan. Kardinal Kasper sagte, dass das Spüren der Barmherzigkeit, dieses Wort, alles ändert, es ist das Beste, was wir spüren können. Es ändert die Welt, ein wenig Barmherzigkeit macht die Welt weniger kalt und gerechter. Wir müssen die Barmherzigkeit Gottes gut verstehen, dieses barmherzigen Vaters, der soviel Geduld hat. Denken wir an die Worte des Propheten Jesaja, der feststellt, dass auch, wenn unsere Sünden rot wären wie Scharlach, die Liebe Gottes sie weiß machen würde wie den Schnee. Das ist das Schöne an der Barmherzigkeit.”
Zur Person
Joachim Valentin ist Direktor des katholischen Kultur und Begegnungszentrums „Haus am Dom“ und der kath. Akademie Rabanus Maurus in Frankfurt am Main. Seit 2009 ist er außerplanmäßiger Professor für christliche Religions- und Kulturtheorie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.