„Das Tier hat auch etwas Heiliges.“
In seinem neuen Gedichtband „Wundertiere“ lotet Heinrich Detering die Kraft biblisch-mythologischer Stoffe aus und stellt uns Tiere als Chiffren des Heiligen vor.
Die Frage stellte Christopher Campbell
Einige Texte in Ihrem neuen Gedichtband »Wundertiere« lesen sich wie eine literarische Zoologie. Drückt sich in der Hinwendung zum Animalischen ein Unbehagen am Menschen aus?
Nein. Das glaube ich nicht. Was Sie ansprechen, ist ein starker Impuls in Tiergedichten der frühen Moderne, vielleicht etwa in Baudelaires »Les Chats«. Dort kann man durchaus das Gefühl haben, dass auf dem Umweg über die Tierdarstellung etwas über die condition humaine ausgesagt werden soll. Aber schon in Rilkes »Panter« ist doch, bei aller offensichtlichen Übertragbarkeit vom entfremdeten Zootier etwa auf entfremdete Arbeiter oder den von sich selbst entfremdeten „modernen Menschen“, dennoch das Tier als Tier in seiner Fremdheit das eigentliche Faszinosum des Gedichts. Deshalb würde ich gerade für die neuere Tierdichtung (auch für die akademische Begleitmusik der animal studies) sagen, dass das Unbehagen vielmehr dem gilt, was der Mensch als Gattungswesen mit den anderen Gattungen anstellt oder angestellt hat. Die neuerliche Aufmerksamkeit für Tiere entsteht aus einem sensibilisierten ökologischen Bewusstsein. Das Tier wird als Erscheinungsform des Anderen wahrgenommen; darum hat es, sooft es in diesem zivilisationskritischen Kontext steht, auch etwas Heiliges. Es ist das unverfügbare Andere, dem trotzdem vom Menschen Gewalt angetan wird. Diese Gewalt kann auch im Gedicht auf subtile Weise darin bestehen, dass man so tut, als ob man sich in das Tier hineinversetzten könne, als kenne man es schon von innen.
In Ihrem Band »Wundertiere« befindet sich das Gedicht »adamitisch«, darin Sie die schöpfungsgeschichtliche Benamung der Tiere durch Adam ironisch aufgreifen. In »adamitisch« wird der erste Mensch als ein Adam dargestellt, der durch Sprache Herrschaft ausübt, sich aber bald als Gefangener seiner eigenen Begriffe entpuppt.
Ja. Die Tiere sind hier etwas Beherrschbares und Unbeherrschtes; sie trotten und schwimmen und ziehen davon auch von dem Benennungsakt Adams. Sie entziehen sich ihm, ohne überhaupt Notiz von der Anstrengung seiner Begriffe zu nehmen. Der vermeintliche Benennungsakt als Herrschaftsakt erweist sich als ein Selbstgespräch des Menschen mit seinen eigenen Erfindungen und Projektionen. Insofern hat dieses Gedicht auch etwas Programmatisches für die anderen Tier- und Naturgedichte in »Wundertiere«.
Was mit Adam begann, führten ja die Naturforscher der frühen Moderne und die Nomenklatoren der Biologie oder der Zoologie fort. Ich denke da etwa an Carl von Linné. Wissenschaftssprachen sind ja hoch formalisiert und wirken dadurch auch wie ein Korsett. Ist die Dichtung eine Revolte gegen einengende Diskursschranken?
Eine Revolte gegen die Nomenklatur, gegen die Festschreibung, Festlegung, Einkapselung des Lebewesens – ja, das ist sie sicher. Und ich würde auch sagen, dass da am ehesten eine Brücke liegt zwischen der Tierdarstellung im engeren Sinne und der Selbstreflexion des Menschen. Da wird am Beispiel der sprachlichen oder kodifizierenden oder rubrizierenden Verdinglichung und Unterwerfung des Tieres etwas problematisiert, was mit dem Lebendigen überhaupt zu tun hat. Das Tier erscheint als besonders starke, anschaubare Erscheinungsform dieses Lebendigen selbst. Es hat aber im Gegensatz zum Menschen eine Fremdheit, die es erlaubt, einerseits auf Distanz zu gehen, diese Distanz auch zum Thema zu machen, und andererseits die Individualität alles Lebendigen zu akzentuieren. Ebendiese Zwischenstellung macht es so geeignet für eine Poesie, die sich mit dem Mysterium und mit der Gefährdung des Lebendigen beschäftigt.
Also…
… übrigens, bevor Sie weitermachen: Sie erwähnten vorhin Linné. Es gibt einen großartigen Tierschriftsteller, den man unbedingt ausnehmen muss aus der Reihe der bösen, verdinglichenden Nomenklatoren, und das ist ausgerechnet Brehm. Alfred Brehm. Einer der ganz großen Tierporträtisten und Tierpsychologen der Literaturgeschichte. Immer noch unterschätzt als Literat, leider.
Aber bleibt auch das großartigste, das herrlichste Sprechen vom Tier immer Selbstgespräch des Menschen?
Die Selbstbezogenheit des Menschen soll überwunden werden. Sie ist ja unfreiwillig. In meinem Fall ist sie es etwa im Hinblick auf andere Lebewesen, aber oft auch im Hinblick auf Vorfahren, auf die Toten, mit denen ich in Kontakt bleiben möchte. Aber das Gespräch läuft immer in sich zurück und droht zum Monolog zu werden…
... Sprache fesselt den Menschen in seiner Selbstbezogenheit.
Es gibt eine lyrische Urszene für dieses Problem, das ja zunächst abstrakt klingt, die mich aber als Lyrikleser, auch als Wissenschaftler, oft beschäftigt hat. Das ist Theodor Storms »Meeresstrand «, eines seiner berühmtesten Gedichte. Es endet mit den Zeilen: »Vernehmlich werden die Stimmen, / Die über der Tiefe sind«. Das eigentlich Schockierende an dem Gedicht, so scheint mir, ist dieses Wort »vernehmbar«. Der abendliche Wanderer hört noch, dass die Welt um ihn herum erfüllt ist von Stimmen – von Vogelstimmen, von Stimmen des Schlamms im Wattenmeer, vom Wasser- und Windrauschen –, aber er muss erkennen, dass diese Stimmen nicht mit ihm kommunizieren, sondern untereinander. Sie werden nicht verständlich, sondern nur noch »vernehmlich«. Er hört sie, aber sie nehmen ihn nicht wahr. Er ist ausgeschlossen aus ihrer Welt.
Das Tier chiffriert also das Lebendige, das Individuelle, das Fremde, das Verletzbare und das Unverfügbare. Der Mensch erkennt darin eine eigene Geschöpflichkeit, die nicht seine eigene ist.
Eben. Nicht umsonst nehme ich in Adamitisch Bezug auf eine biblische Szene.
Sprechen wir noch etwas über diese Bezugnahmen. Diese Bezugnahme ist typisch für wissenschaftliche Diskurse – im Sinne des Zitats. Welchen Status haben aber diese Wissensbestände für Sie als Dichter?
Ich glaube, dass die unterschiedlichen Schreibweisen, in denen ich mich betätige, ein Kontinuum bilden. Sie sind nicht strikt voneinander geschieden. Trotzdem ist die Haltung, in der ich schreibe, in einem Gedicht eine grundsätzlich andere als in einem Text, in dem ich darüber theoretisch reflektiere.
Was bedeutet das beispielsweise für das Gedicht »Golgatha, kleine Vögel«, indem Sie die Passion Jesu mit einer Geschichte aus den Kindheitsevangelien bzw. mittelalterlichen Christuslegenden konfrontieren, wonach das Jesuskind mit Lehm spielt, einen Vogel formt und ihm Leben einhaucht. Wie verfahren Sie hier als Dichter Detering im Gegensatz zum Literaturwissenschaftler Detering?
Hier sind ganz unterschiedliche Motive zusammengekommen, die einander nur in meinem Kopf in diesem Augenblick überhaupt begegnen, ohne argumentativ zusammengeschlossen zu sein, ohne anders als assoziativ vermittelt zu sein. In »Golgatha, kleine Vögel« geht es mir um zwei Szenen: nämlich einerseits die rührende Geschichte aus der Kindheit Jesu, in der sich der Schöpfergott schon im Kinderspiel zu erkennen gibt, und andererseits das grauenhafte Bild des Gekreuzigten, der bereits von den Aasvögeln heimgesucht, aber dann ins Grab gelegt wird. Diese letzte Geschichte gibt es ja nicht in der Überlieferung. Aber plötzlich wurde mir deutlich, dass zwischen der alten Legende einerseits und meiner alptraumhaften Vision andererseits ein Zusammenhang besteht, der etwas Grundsätzliches, wenn man will eine theologische Wahrheit, zum Ausdruck bringt – etwas, das zu sehen und erst dann zu verstehen war. Es hat mich übrigens gefreut zu sehen, dass Michael Braun dieses Gedicht in der Zeitschrift Volltext (Nr. 2/2015, Anm. d. Red.) anders und um einiges menschenfreundlicher interpretiert hat.
Der Kritiker Michael Braun hatte in Bezug auf »Golgatha, kleine Vögel« geschrieben: »Die grausame Todesszene wird in den Schlussversen mit einem Bild der Hoffnung aufgehoben. […] Hier klingt eine weitere christliche Legende an, derzufolge alle Vögel um Jesus trauerten und während der Kreuzigung herbeifolgen, um mit ihren Schnäbeln die Nägel aus seinen Händen und Füßen zu ziehen.«
Beim Schreiben ging es zuerst um eine bildhafte Übersetzung des Schreis »Mein Gott, warum hast Du mich verlassen«. Aber auch das ist nur eine mögliche Lektüre einer Motivfügung von zunächst heterogenem Material, die unterschiedlichste Bedeutungen freisetzen kann.
Nochmal zu »Golgatha, kleine Vögel«, Sie entschuldigen. Die Schar derer, die die Wunder Jesu sehen, wird in Ihrem Gedicht immer kleiner: »alle sahen es« – »jeder sah es« – »einige sahen es«.
In dieser Reflexion auf die immer weniger werdenden Zuschauer der Lebensstationen Jesu wird das Gedicht selbst zum Zeugnis. Je weniger Beobachtet sie sehen, desto größer werden die Wunder, bis zur Erweckung des Lazarus. Erst als der Wundertäter erniedrigt am Kreuz hängt, da sehen wieder alle hin. Das Gedicht hat die Aufgabe, angesichts dieser sehr unterschiedlichen Aufmerksamkeitsspannen nach den sehr begrenzten eigenen Möglichkeiten Zeugnis abzulegen.
In dem Band geht es nicht nur um Tiere. Ein Kapitel enthält Gedichte, die allerlei Kindheits-
szenen aufnehmen und märchenhafte Stoffe variieren. Das Kapitel trägt den Titel »die traurige Königin«. Sie hatten die Verletzlichkeit des Tiers vorhin angesprochen. Ich hatte den Eindruck, die Kindheit werde für Sie im Hinblick auf dessen prekäre oder fragile Unschuld sowie dem Verlust einer wie auch immer gearteten Ursprünglichkeit zum dichterischen Thema. Ist das etwas, das Sie bewegt?
Ja. Das war im vorherigen Band (»Old Glory« Wallstein 2012, Anm. d. Red.) noch stärker. Gerade das, was im zweiten Kapitel des Buchs umkreist wird, hat vielleicht mit dem Kern meines eigenen Lebensgefühls zu tun. Manchmal dachte ich, diese Texte seien zu intim. Aber dann habe ich mir geantwortet, ein Gedicht, das nicht im Stande ist, seinen Autor zu entblößen, braucht man nicht zu drucken. Und ich glaube auch, dass in dem, was Sie andeuten, eine Verbindung zwischen diesen Kindergedichten und den Tiergedichten besteht. Ursprünglich sollte die Kapitelüberschrift »die traurige Königin« der Titel des Buchs werden. »Wundertiere« ist der weiter ausgreifende Titel. Die Kinder sind tatsächlich auch eine Art Wundertiere: Menschentiere, Menschenwelpen, die etwas Wunderbares haben, an denen das Wunder des Lebendigseins unmittelbar deutlich wird. Und sie haben mehr als wir die Fähigkeit des Sich-Wunderns, sie staunen bereitwilliger. Die Gedichte in meinem Band zeigen sie in Augenblicken, in denen ebendies verletzt wird oder verschwindet.
... oder auch wie von selbst, ohne äußerliches Zutun, korrumpiert wird oder sich korrumpiert. Ich denke an das Gedicht »Jäger«, darin Kinder auf dem Pausenhof jagen und plötzlich etwas Böses hinzutritt.
Dieses Moment des Bösen erscheint aber in der alleralltäglichsten und beiläufigsten Form, wenn die Kinder – wie wir es vermutlich alle getan haben – hinter den Tauben herlaufen und die Vögel durch Geschrei oder Schussgeräusche zu erschrecken versuchen. In diesem Augenblick spüren sie das Gefühl von Macht, von Gewalt.
In Gedichten wie z.B. »Selbstversuch« scheint es, als verstärke sich dieses Gefühl vom Verlust zu einer regelrechten Angst.
In »Selbstversuch« ist es tatsächlich ein einziger Augenblick, der festgehalten werden soll, eine kleine Epiphanie. Es ist jener Augenblick, in dem etwas, das im Gedicht gesagt wird, umkippt in etwas, das im Gedicht nicht gesagt wird: in die Angst, sich, seit man als Kind in die Welt gekommen sei, mehr und mehr verloren zu haben. Das wird hier physisch ausbuchstabiert: als hätte man Grund zur Furcht, es seien nicht mehr alle Finger und Fußzehen da, weil sie abgefallen sind im Laufe des Lebens. Und diese Furcht kippt um in die Wahrnehmung des Wunders, dass diese physische Integrität tatsächlich noch immer vorhanden ist. Das ist ein Augenblick von Dankbarkeit. Mein vorangegangener Gedichtband endete mit dem Vers: »die Dankbarkeit ist größer als das Erschrecken«. Das könnte auch ein Lebensmotto sein.
Es gibt auch Trauer in den Texten.
Ich glaube, es gehört zu den Aufgaben der Poesie, um die zu trauern, die keine eigene Stimme mehr haben. Um den Verlust von Schöpfungsfülle. Wenn ich für ein solches Gedicht zum Beispiel auf ein klassisches Odenmaß zurückgreife, dann gibt diese Form eine besondere Schönheit und Würde an das, was verloren ist, zurück. Es entsteht dann eine Spannung zwischen der Trauer, von der das Gedicht handelt, und der Schönheit, der Würde dieses Maßes.
Gehen Sie bitte noch etwas auf dieses Verhältnis zwischen Stummheit und Sprechen ein. Tiere sind ja eine Chiffre für diese Spannung. In Ihrem Buch »Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte« (2010) diskutieren Sie zudem das wahnhafte Sprechen Nietzsches in dessen späten Briefen. Oder, um ein drittes Beispiel zu nennen, in Ihrem Gedichtband »Drei Erscheinungen« (2014) nehmen Sie den Ton eines unter dem Bann von Visionen stehenden Sprechens an – etwa bei H.P. Lovecraft. Ist das einfach die Lust des Dichters, die Grenzen der Sprache zu versuchen?
Ja. Durch die Sprache hindurch und, wenn es gelänge – man muss das im Konjunktiv sagen, – über sie hinaus zu kommen. Ich bin wahrhaftig, sagen wir: sprachverliebt, aber zu diesem Faszinosum, das die Sprache ist, gehört ja der einfache Umstand, dass sie immerfort auf etwas verweist, das außerhalb ihrer selbst ist. Wir haben als sprachfähige Tiere keine Möglichkeit, hinter unsere Sprachfixierung zurückzugehen. Wir können aber über sie hinausgehen. Eine Sprache, in der das geschieht, ist das Sakrament. Das Wort, das Fleisch geworden ist, ist in dieser Wortgestalt noch immer eine Ansammlung von Worten. Im Augenblick der Eucharistiefeier aber haben die Worte eine Brücke gebaut in ein Geschehen hinein, in das wir involviert sind und das wir wahrnehmen können, weil wir durch diese Worte hindurchgegangen sind. Was dann geschieht, geschieht zwischen einem leibhaftigen Gegenstand, von dem wir glauben, dass Gott selbst in ihm gegenwärtig ist, und unserem Körper. Das ist immer noch eine Art von Kommunikation, aber sie ist über die Sprache hinaus, sie ist jenseits der Sprache. In jeder noch so alltäglichen Kommunionfeier scheint ein mögliches Verhältnis zur Welt, zur Schöpfungswelt auf. Dieses Verhältnis beschäftigt mich auch in meinen Gedichten.
Sogar das Verhältnis zu grotesken Tieren wie dem Grottenolm oder der Seegurke?
Denken Sie an das „Mittler“-Fragment des Novalis: dass man jedes Objekt, jedes Lebewesen wahrnehmen kann wie die Hostie. Das gilt auch für den Grottenolm, für die Seegurke oder den Moorochsen. Grotesk ist nicht das Tier, sondern der Modus unserer Wahrnehmung. Für den einen ist die Hostie nicht mehr als eine runde Oblate, für den anderen ist es der Leib des Herrn. Der eine sieht im Grottenolm ein elendes Tier in einer kalten Höhle, für den anderen ist es eine Offenbarung von etwas, das göttlichen Ursprungs ist, das etwas Geschöpfliches hat. Der Weg von einer Wahrnehmungsweise in die andere kann nicht argumentativ begründet, aber er kann erfahren werden. Gedichte sind, schon im Schreiben, die Möglichkeit einer solchen Erfahrung. Sie eröffnen die Möglichkeit, in einen solchen Wahrnehmungszustand hineinzukommen.
Zur Person
Heinrich Detering im Gespräch
, geb. 1959, lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen. 2003 erhielt er den Julius-Campe-, 2012 den H.-C.-Andersen-Preis. 2003 war er Paul Celan Fellow in St. Louis, 2004 Poetikdozent in Mainz, 2008 Ehrengast der Villa Massimo, 2012 Liliencron-Dozent für Lyrik in Kiel, 2014 Aston Poet in Residence in Birmingham. Seit 2011 ist er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Er ist u.a. Mitherausgeber der kommentierten Ausgabe der Werke, Briefe und Tagebücher von Thomas Mann und Autor eines Buchs über Bob Dylan.