Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Tattooed Jesus Pietà (2005) von Marianna Gartner (*1963), Olbricht Collection

Der Glaube der Gezeichneten

Marianna Gartners tätowierter Jesus – Ungezählt sind die Darstellungen der leidenden Maria, die den Körper ihres toten Sohns hält. Marianna Gartner greift diese Szene auf und verleiht ihr

Das vielleicht bekannteste Werk aus
der sogenannten Schule von Avignon
zeigt vor einem Goldgrund die Gottesmutter
mit dem lebensgroßen Jesus auf
dem Schoß. In jenem Gemälde, das um 1455
entstand, dominiert ein fast ordinärer Kontrast
zwischen den einerseits üppig gewandeten
Figuren des Jüngers Johannes, der
Maria Magdalena, der trauernden Jungfrau
selbst sowie einer Stifterfigur und andererseits
dem nur mit der Lendenschürze betuchten,
sonst aber völlig nackten Leib des
vom Kreuz abgenommenen Herrn. Unmissverständlicher
hätte der bis ins 20. Jahrhundert
unbekannte Meister der „La Pietà
von Villeneuve-lès-Avignon“ (heute im Louvre)
nicht sein können: Enguerrand Quarton
(1410-1466) stellt in der engen Dorfkirche
die bare Hingabe des Leibes ins Zentrum der
Betrachtung, alle seine diesseitige, verletzliche,
allzu leicht zerstörbare Blöße – nicht
erbärmlich oder erbarmungswürdig ist der
tote Leib des Gekreuzigten, sondern in jener
Situation vor allem leichenblass und allen
Hüllen ledig.

Es ist jene Situation, die Anschauung
der Pietà, die die kanadische Künstlerin
Marianna Gartner (*1963) in ihrem Gemälde
„Tattooed Jesus Pietà“ (2005) aufgreift.
Augenfällig ist in ihrer Ölmalerei, dass die
signifikante Blässe der Inkarnate erweitert
worden ist um unauslöschliche Zeichen, den
Character indelebilis, namentlich der Tätowierungen.

Es ist keine Neuigkeit, dass die Tätowierung
nicht nur in der Antike von Christen
zum dermatographischen Realsymbol geworden
war, sondern auch seit dem frühen
Mittelalter besonders in Jerusalem als Pilgerzeichen
galt, aber durch die Franziskaner
bis weit ins 20. Jahrhundert etwa in Loreto
eine breite Praxis der Frömmigkeit unterstützte
– eine Frömmigkeit, bei der man
die Zeichen des Christentums, das Gezeichnetsein
der Nachfolge schamlos zur Schau
stellte. Es ist auch keine Neuigkeit, dass die ersten Christen die Sklavensiglierung
der Römer, also die Zwangstätowierungen,
zum Zeichen des Triumphs und der unbezwingbaren
Freiheit umdeuteten. Ebenso ist
es keine Neuigkeit, dass inspiriert von den
franziskanischen Stigmata Mönche wie der
schwäbische Dominikaner Heinrich Seuse
die Tätowierung aktiv in ihr spirituelles Leben
einbezogen.

Allein aus diesem religionsgeschichtlichen
Hintergrund, der die Tätowierung
nicht als ein primitives ethnologisches Kuriosum
betrachtet, sondern stattdessen als
Körpermodifikation in Kontinuität etwa mit
der Beschneidung erkennt, wird die Komposition
der in Winnipeg (Manitoba) geborenen
Marianna Gartner interessant.

Die Malerin verwendet als Tätowierungen
am Leib Christi nicht etwa großflächige
Gesamtkompositionen, wie es aus der vom
Shintoismus inspirierten, religiös grundierten
Irezumi-Tätowierung bekannt sein
dürfte. Stattdessen schüttet sie ein buntes
Gewirr an unzusammenhängenden Figuren
über der Haut des Herrn aus. Der Tätowierstil
ist offenbar der traditionellen Tätowierung
Europas und Amerikas entnommen,
die sich besonders im 19. Jahrhundert als
ein schwankender Kanon an oft pathetischen,
aber ausdrucksstarken Einzelbildern
etabliert.

Hier im Bildnis: Auf dem Sternum, eine
zum Tätowieren besonders empfindliche
Stelle, erkennt man beispielsweise ein flammendes
Herz mit Totenschädel im Stile der
Herz-Jesu-Frömmigkeit. Auf dem Bauch,
auffällig um den Bauchnabel geschwungen,
eine Schlange, als sei am Bauchnabel
hier noch an Eva zu erinnern (James Joyce
schrieb über die Mutter der Menschheit bekanntlich
„belly without blemish“, weil sie
die erste war, von der Rippe ohne Spur der
Nabelschnur erschaffen). Man kann sich an
der Vielgestaltigkeit dieser Tätowierungen,
die als Zeichen unter der Haut nicht planmäßig,
sondern chaotisch, jedoch nie gedankenlos
angebracht sind, kaum sattsehen. Teilen
die Tätowierungen doch mehr noch als Lendentuch,
Nagel und Dornenkrone die heilsgeschichtliche
Signifikanz des Leibes. Die Tätowierungen machen ihn zu einem Erinnerungsort
und weisen ihn als einen ikonischen Ort aus, als eine
Kathedrale des Selbst. Darauf sind alle signifikanten
Eindrücke hinterlassen, die den Körper in seiner Zeit
zeichneten, ihn erst zum Körper eines Gezeichneten
machten. Sie sind, wie die Haut, vergänglich, obschon
ihre Präsenz am Leib einer Entscheidung für Permanenz
entsprungen ist.

Aber Marianna Gartner ist noch nicht fertig. Sie
hat die Szene figürlich entrümpelt. Die Landschaft im
Hintergrund ist freilich bewegter als die mittelalterliche
Folie von Enguerrand Quarton, aber die Komposition
ist auf die wesentlichen Momente komprimiert:
die andächtige Trauer und der Schmerz hinsichtlich
der Irreversibilität der Vernichtung des Körpers, von
dem seit diesem Zeitpunkt an (man will sich erinnern)
der Karfreitagsschmerz liegt.

Gartner jedoch hat jedoch der Theologie der Auferstehung
ein kleines Beiwerk zugegeben. Die kniende
Figur, die andächtig das Haupt des Herrn mit den
Fingerspitzen stützt. Diese Figur ist auch nackt. Sie
ist aber auch nackt und (noch) nicht tätowiert. Diese
kniende Figur ist ein noch unbeschriebener Körper.
Nicht üppig gewandet wie die Gottesmutter, sondern
nur mit dem jesuanischen Lendentuch geschürzt. Sie
ist die nackte Figur der Nachfolge.

Tätowierungen machen den Leib
zu einem Erinnerungsort.

Christopher Paul Campbell

Denn jetzt – so
scheint es – am schwarzen Moment unmittelbar nach
der Kreuzabnahme vielleicht, begreift diese Figur die
signifikante Gravität der Nachfolge: Mein Körper wird
durch die Nachfolge nicht rein werden. Er wird, ganz
im Gegenteil, immerfort bis in die letzte Nacht gezeichnet
sein. Kein Schleier und kein Faltenwurf wird
die bloße Ungewissheit der Nachfolge auf der Spur
der zahlreichen Einschreibungen und Einzeichnungen
ins Fleisch, die die konkrete, aktive, unwiederholbare
Einbringung des Leibes in der Welt ausmacht,
verhüllen können.