Horizontale Heiligkeit
In der Begegnung mit Tieren und der Natur, den Ungläubigen und den Armen werden wir zu Zeugen der Transzendenz Gottes. Das haben die Heiligen erkannt
Die Künstler taten sich stets schwer mit der
Darstellung der Heiligen. Für deren Beziehung
zum Himmlischen, für ihre Erhebung
über das Irdische mussten oft die himmelwärts gerichteten
Augen herhalten. Selten ist das so gut gelungen
wie bei Berninis „Die Extase der heiligen Teresa“.
Die nach oben gerichteten Augen der spanischen Mystikerin
sind geschlossen, und intensive körperliche
Erfahrung durchwaltet diese Skulptur. Man hat von
spirituellem Orgasmus gesprochen. Dem römischen
Bildhauer gelang es, der Beziehung zur Transzendenz
– bei Teresa zu Jesus – die Form einer stimmigen irdischen
Erscheinung zu geben. Bei den meisten Heiligen,
die die Seitenaltäre und Nischen der älteren Kirchen
bevölkern, vermisst man diese Stimmigkeit. Wie
sie dastehen, normale Menschen von Kopf bis Fuß, oft
ihr Marterwerkzeug mit festem Griff gepackt, da ist
es dann allein der Augenaufschlag zum Himmel hin,
der ihre Heiligkeit demonstriert. Woher kennt man
diesen himmelwärts gerichteten Blick? Man kennt ihn
z. B. von der 16-jährigen Tochter, die gesagt bekommt,
dass sie vor Mitternacht zuhause sein soll. Aber ihr
wird ja nichts passieren, denn die Sorge der Eltern
ist wieder mal völlig übertrieben. Oder man kennt ihn
von dem Angestellten im Rathaus, den man nach einer
bestimmten Abteilung fragt und der wortlos, mit
nach oben verdrehten Augen, auf das Hinweisschild
Die Verzückung der hl. Theresia von Giancarlo Bernini.
Santa Maria della Vittoria, Rom © Alvesgaspar, wikipedia.org
zeigt, das sich gleich nebenan befindet. So mussten
sich die Künstler bemühen, das Genervte oder auch
Gelangweilte von den Heiligen fernzuhalten. Damit
gerieten sie aber leicht in einen Bereich, der dem Ansehen
der Heiligen auch nicht gut bekam. Die nach
oben verdrehten Augen können auch eine Störung
ausdrücken, im Grenzwert sogar eine Art Schwachsinn.
Da ist jemand, der seinem Gegenüber nicht in
die Augen schauen kann. Oder ist es gar jemand, der
in dieser Welt nichts wahrnimmt und ihr nicht wirklich
zugehört.
Die Darstellung zum Jenseits
Hinter dem Darstellungsproblem von Heiligen verbirgt
sich ein Sachproblem. Wie kann man Beziehung
zum Jenseits im Diesseits darstellen? Es ist das Problem,
das jede Religion hat. Insofern Religion für die
Beobachtung der Welt die Leitunterscheidung Immanenz/
Transzendenz benutzt, ist sie zugleich darauf
angewiesen, das Transzendente in der Immanenz zu
repräsentieren. Denn anders, also ohne jeden Bezug
zu dieser Welt, hätte das Jenseits keine Bedeutung,
man würde ja gar nichts davon wissen. So entstehen die Heiligtümer, die Orte des Heiligen: der
heilige Berg, die heilige Quelle, das heilige
Tier, der Tempel, das Standbild der Göttin.
Wie können Religionen aber verhindern,
dass alles Mögliche für heilig gehalten
wird? Das Heilige ist immer von Inflationierung
bedroht. Ähnlich wie beim Geld,
das künstlich knappgehalten werden muss
– und diese Ähnlichkeit ist vielleicht nicht
zufällig –, müssen die Religionen dafür Sorge
tragen, dass die Grenze zwischen Heiligkeit
und Nicht-Heiligkeit deutlich markiert und bewacht wird.
Wie kann man Beziehung zum
Jenseits im Diesseits darstellen?
Dem dienen Tabus und
Riten, die Festlegung von heiligen Zeiten
und Räumen, die Begrenzung des Zugangs
zur Heiligkeit auf bestimmte Personenkreise
(Priester, Schamanen …). Auch die katholische
Kirche macht hier keine Ausnahme.
Die Kirchen sind sakrale Räume, die vom
Profanen klar unterschieden sind. Geschickt
hat man in ihrem Inneren ein System gestaffelter
Heiligkeit installiert. Wer hätte es früher
gewagt, ohne Weiteres den Altarraum zu
betreten oder am Tabernakel vorbeizugehen
ohne eine Kniebeuge? Als Kommunionkind
war ich in meiner Generation noch angewiesen,
dem Priester, und sei er noch so gebrechlich,
nicht zu helfen, wenn ihm bei der
Kommunion eine Hostie zu Boden fiel. Denn
er allein war heilig genug, das heilige Brot
anzufassen. Aber nun, um wieder auf die
Heiligen zu kommen, stellt sich die Frage,
wie man die Darstellung einer Person dem
Bereich der Heiligkeit zuordnen kann. Was
unterscheidet die hl. Barbara mit dem Turm
von einer Frau, die sich um die Errichtung
eines Turmes verdient gemacht hat? Wie
kann man verhindern, dass auf den Seitenaltären
Personen dargestellt werden, die gar
nicht heilig sind? Da versteht man den Sinn
der aufwändigen Heiligsprechungsprozesse,
der kunstvollen Inszenierung der Heiligenstatuen
in den Kirchen, der Anweisungen
zum frommen Tun vor ihrem Bild. Eine Heiligenstatue
in einem Kunstantiquariat ist
kein Heiliger mehr. Wie jedoch an dem notorisch
himmelwärts gerichteten Blick zu
erkennen ist, hat die Kirche ihr Problem der
Darstellung des Heiligen nicht immer gut
gelöst. Transzendenz und Immanenz kommen
nicht stimmig zueinander. Der Grund
dafür ist, so die These dieses Beitrags,
ein irriges Verständnis von
Transzendenz und damit auch der
Heiligen, insofern sie zur Transzendenz
in Beziehung stehen. Das
Transzendente ist nicht nur oben,
wie es der himmelwärts gerichtete Blick
suggeriert, es ist nicht nur in der Vertikalen
zu erreichen. Drei Felder der Wahrnehmung
horizontaler Transzendenz sollen uns beschäftigen:
die Transzendenz der Tiere, die
Transzendenz der Ungläubigen und die
Transzendenz der Armen. Es werden einige
der klassischen Heiligen sein, die zu Entdeckungen
der horizontalen Transzendenzen
anleiten.
Die Transzendenz der Tiere
Sollte es tatsächlich so sein, dass Tiere
eine Erfahrung mit Transzendenz ermöglichen,
dann tut unsere Zeit alles, um sich
diese Erfahrung zu ersparen. 60 Milliarden
Tiere werden jährlich für Nahrungszwecke
getötet1 (lt. dem von BUND, der Heinrich
Böll-Stiftung und Le Monde diplomatique
hg. FLEISCH-ATLAS von 2014): 60 Milliarden
mögliche Transzendenzerfahrungen werden
vernichtet! In dieser Sicht berührt der Umgang
mit Tieren nicht nur Fragen des Tierschutzes,
des Ressourcenverbrauchs und
der Gesundheit, sondern elementar Fragen
der Religion. Die Frage ist, was das Zeugnis
der vor- und außerbiblischen Religionen in diesem Zusammenhang bedeutet. Früheste religiöse
Darstellungen rücken das Tierliche und das Göttliche
ganz eng zusammen. Aus dem alten Ägypten kennt
man den Horusfalken, den Sohn der Himmelsgöttin
Isis und ihres Bruders Osiris, die Muttergöttin Nut in
der Gestalt eines Pelikans, den Gott Thot, zuständig
für Magie und Wissenschaft, als sitzenden Pavian und
zahlreiche andere religiöse Tiersymbole, unter denen
die Tiere, mit denen die Menschen zusammenlebten
(Ziegen, Schafe, Rinder), eine herausgehobene Stellung
hatten. Auch in biblischen Zeiten waren solche
Darstellungen im syrisch-palästinensischen Raum
weit verbreitet. Zeugnisse aus anderen religiösen Kulturen
der anderen Erdteile unterstreichen den engen
Zusammenhang von Transzendenz- und Tiererfahrung,
der heute unter den Begriffen Animismus und
Totemismus gefasst wird. Früher hätte man die Beziehung
dieser Zeugnisse zum Christentum unter der
Überschrift „Überwindung des finsteren Heidentums“
oder „Vergeistigung der Gotteserfahrung in der biblischen
Religion“ behandelt. Können wir uns das aber
heute noch so einfach machen? Unbestreitbar ist, dass
die Bibel auf Distanz zu den tierlichen Repräsentationen
des Göttlichen geht. Sie stehen unter Idolatrieverdacht.
Zwar wird der Gott der Bibel weiterhin mit
tierlichen Metaphern bezeichnet (… wie ein Löwe, …
wie ein Adler), aber die Ursünde des aus Ägypten befreiten
Gottesvolkes wurde nicht ohne Absicht in der
Geschichte vom goldenen Kalb erzählt. Noch Paulus
charakterisiert die Heiden als solche, die „die Herrlichkeit
des unvergänglichen Gottes mit Bildern, die
einen vergänglichen Menschen und fliegende, vierfüßige
und kriechende Tiere darstellen, vertauschen“
(Röm 1,23). Tiere sind nicht Götter, darum kann Gott
auch nicht als Tier dargestellt werden. Wo bleibt aber
die Art der Erfahrung von Transzendenz, die Religionen
zu allen Zeiten mit den Tieren gehabt haben?
Verfolgt man die Geschichte des Christentums weiter,
wie es dann vermischt und vermengt mit der griechischen
Metaphysik durch die Zeiten gegangen ist,
dann ist zu sehen, dass Tiere für die christliche Religion
und ihre Theologie kaum mehr Bedeutung gehabt
haben. Sie haben keine vernunftbegabte und mithin
auch keine unsterbliche Seele, sie kommen also für
das ewige Leben nicht in Betracht. Sie haben darüber
hinaus, wenn man so sagen darf, das Pech, keine Sünden
zu begehen, so dass sie auch der Erlösung nicht
teilhaftig werden können. Das Christentum, das sich
auf diese beiden Themen – das ewige Leben und die
Erlösung – fokussierte, hatte die Tiere nicht in seine
Glaubenslehre aufgenommen. Kein Wunder dann,
dass es dem naturwissenschaftlichen und ökonomischen
Zugriff auf die Tiere, der dann in der Neuzeit
auf seine Weise der religiösen Bedeutung der Tiere ein
Ende machte, nichts entgegenzusetzen hatte.
Die große Ausnahme sind hier die Heiligen. Sie bilden
das Gegengewicht zur Tiervergessenheit der Theologie.
Die Zeugnisse von ihrer engen Verbundenheit
mit den Tieren sind überreich. Vor allem, aber nicht
nur, ist dabei an die Wüstenväter des Altertums und
die heiligen Frauen und Männer des Frühmittelalters
zu denken. Ob es Einsiedler oder monastische Gemeinschaften
in der Wildnis waren, die Umstände erlegten
ihnen eine große Nähe zu wilden Tieren und Nutztieren
auf, die sie mit dem Großteil der damaligen Bevölkerung
teilten. Joseph Bernhart, der als guter Kenner
der klassischen theologischen Tradition das Übersehen
der Tiere schmerzlich bemerkte („Das Tier ist auf
dem Weg vom Glauben zu Denken übel weggekommen“),
hat in seinem Buch „Die unbeweinte Kreatur.
Reflexionen über das Tier“ in den Heiligenviten „Züge
schlichten Mitgefühls“, „zärtliche Fürsorge für die
Tierwelt“ und „Taten des Mitgefühls“ aufgefunden.
Ein solches von Mitgefühl und Fürsorge geprägtes
Verhältnis zu den Tieren war nicht selbstverständlich,
nicht einfach Ausdruck einer früheren, naturverbundenen
Kultur, denn im Hintergrund dieser friedvollen
Episoden scheint immer wieder die Angst vor
dem Tier durch. Tiere waren Nahrungskonkurrenten,
sie waren gefährliche Raubtiere, sie waren Plagegeister
wie die Ratten, Mäuse oder Insekten. Bernhart
findet aber bei den Heiligen in ihrer meist asketischen
Lebensweise eine intensive Wechselwirkung mit dem
„auf tausendfach geheimnisvolle Art reizbaren Organismus
der Tiere“. Heilige erleben auf der Suche nach
dem wahren Leben die Tiere als Wesen der Lebendigkeit,
mit denen sie intensiv zusammenleben und die
ihnen doch ein Geheimnis bleiben. In aller Vertrautheit
sind sie ihnen fremd und unergründlich – dies ist
es, was man eine Erfahrung der Transzendenz nennen kann. In ihrer geheimnisvollen Unergründlichkeit
werden die Tiere für die Heiligen zu
Zeugen der Transzendenz Gottes. Über den
heiligen Franziskus sagt Bernhart: „Er liebte
durch die Tiere hindurch, was sie als Zeichen
von oben und jenseits bedeuten, ihnen
geschwistert im Einen Herrn“. Vertrautheit
in bleibender Fremdheit, das ist, wie geschildert,
das Wesen der Religion. Tiere sind
lebendige Wesen wie der Mensch, aber sie
sind nicht nach seiner Art. Womöglich ist
es das, was die biblische Erzählung von der
Namensgebung der Tiere (Gen 1,19f.) sagen
will. Man würde ihr kaum gerecht, wenn
man sie als eine Art trial-and-error-Verfahren
Gottes verstehen wollte. Gott erkennt,
dass es nicht gut ist, dass der Mensch allein
sei. Er führt ihm die Tiere zu, auf dass er sie
benenne als „lebendige Wesen“, wie es ausdrücklich
heißt. Durch die Namensgebung
werden die Tiere der Lebenswelt des Menschen
zugeordnet. Aber dann heißt es: Sie
sind ihm nicht ebenbürtig, nicht nach seiner
Art, nicht sein Gegenstück. Und dies ist die
Lehre daraus: Sie sind lebendige Wesen wie
er, aber sie sind es anders als der Mensch.
Der Mensch muss anerkennen, dass es auch
andere Arten von Lebendigkeit gibt, dass er
die Welt nicht nur nach seiner Art anschauen
kann, dass er Andersartigkeit akzeptieren
und sich begrenzen muss. Der „Sündenfall“,
von dem gleich darauf die Rede ist, besteht darin, dass das erste Menschenpaar das nicht akzeptieren
will. Es will Gut und Böse erkennen, also
alles, und alles nach seiner Art. Der Sündenfall war
vielleicht weniger gegen Gott als gegen die Tiere gerichtet.
Deren Wesen, nicht nach der Art des Menschen
und doch auch lebendige Wesen zu sein, verkennt
die Sünde. Der gegenwärtige Umgang mit den
Tieren, der zwischen Vermenschlichung in Stofftieren
und Comics einerseits
und Degradierung zur bloßen
Ressource andererseits
schwankt, ist Ausdruck der
Sünde. Bernhart dagegen
sagt von den Heiligen: „Wo
die Sünde überwunden und der Friede mit dem Gott
des Guten wiederhergestellt ist, senkt der Engel, der
das verlorene Paradies hütet, sein Feuerschwert und
läßt auf der blühenden Schwelle Mensch und Tier und
alle Wesen in heiterer Versöhntheit und Vertrautheit
sich begegnen“. Die Wahrnehmung tierlicher Transzendenz
ist der Weg ins Paradies, auf dem die Heiligen
vorangegangen sind.
Heilig ist, wer das Gute aus
Freundschaft zu Jesus tut.
„Das Tierische transzendiert. Alle Transzendenz ist
tierisch.“ Das ist ein starkes Wort von Thomas Mann,
gesprochen über den „alten Heiden“ Goethe (Goethe
und Tolstoi, 1923). Was Thomas Mann an dem „Naturkind“
Goethe und seiner besonderen Sympathie für
das Organische festmachte, finde ich heute in einigen
ausgezeichneten Denkmälern einer neuen Nähe
zur Natur wieder. Robert Macfarlane ist der Vordenker
einer in England entstandenen Gruppe, die sich
dem nature writing (dt. übersetzt als Naturkunden)
verschrieben hat. Macfarlane sucht nach den letzten
Resten von Wildnis (Karte der Wildnis, dt. zuerst
2015). Findet er solche – auf menschenleeren Inseln
oder im Moor, auf Berggipfeln oder in zugewachsenen
Hohlwegen – dann überkommt ihn das Gefühl, „daß
wir Teil von etwas Größerem sind, das unsere Möglichkeiten
übersteigt“. Er trifft auf Beweise „für die
Widerstandskraft alles Wilden – für seine instinktive
Unzähmbarkeit, seine Beständigkeit“. „Das Wilde
war schon vorher da, und wird uns lange überleben“. „Wilde Tiere haben für uns, genau wie wilde
Orte, einen unschätzbaren Wert, gerade weil sie nicht
sind wie wir“.
Für David G. Haskell, einen amerikanischen Biologen,
der ein ganzes Jahr lang einen Quadratmeter
Wald intensiv beobachtete, ist das Erleben von
gleichzeitiger Vertrautheit und Fremdheit sehr intensiv.
Als er auf das Jahr zurückschaut, sagt er: „Ich
PERSPEKTIVEN
empfinde gleichzeitig eine große Nähe und eine unüberwindbare
Distanz. Je besser ich das Mandala
[so nennt er das Waldstück] kennenlerne, desto klarer
sehe ich meine ökologische und evolutionäre Verwandtschaft
mit dem Wald. (…) Zugleich hat sich ein
ebenso starkes Gefühl des Andersseins eingestellt.
(…) Je länger ich das Mandala beobachte, desto mehr
schwindet die Hoffnung, es jemals zu begreifen, und
sei es auch nur in seiner
grundlegenden Struktur“.
Es handelt sich um Transzendenzerfahrungen.
„Der
Urgrund der naturgegebenen
Welt liegt an einem
Ort, an dessen Erschaffung der Mensch keinen Anteil
hat. Das Leben ist größer als wir“, sagt Haskel. Wie
sollen Menschen die Transzendenz Gottes erfahren,
wenn sie schon die Transzendenz des Lebendigen
nicht kennen? Die Heiligen aber, die den Blick nicht
nur himmelwärts, sondern zu den Tieren gewandt haben,
zeigen uns einen anderen Weg.
Die Transzendenz der Ungläubigen
Die kleine Thérèse Martin wuchs in einer Familie
auf, in der für unsere Begriffe eine bedrückende katholische
Enge herrschte. Man strebte nach einem
heiligmäßigen Leben, genauer nach einem Leben im
Stand der Heiligkeit. Schon die Eltern hatten eigentlich
ins Kloster gehen wollen, für sie war die Ehe nur
die zweite Wahl. Thérèses vier Schwestern traten alle
in einen Orden ein, drei in den Karmel von Lisieux,
in dem die strengste Klausur bestand. Es war eine
Form von Heiligkeit, die sich bewusst als Gegenpol
zur säkularen, atheistischen Gesellschaft Frankreichs
setzte. Der catholicisme militant, der kämpferische
Katholizismus, wie er damals genannt wurde, betrieb
zugleich mit der Bekämpfung des Atheismus
eine fanatische Verfolgung „modernistischer“ Tendenzen
in seinem Inneren. Wird eine scharfe Unterscheidung
nach außen gezogen, wächst der Druck im
Innern des Systems. Als junges Mädchen litt Thérèse
lange unter Skrupulosität, sie wurde verfolgt von der
Angst, sündig zu sein und Sünden zu begehen. Ihre
heitere, spielerische Natur und ihr tiefer Glaube halfen
ihr wohl über viele Schwierigkeiten hinweg. Als
sie es mit großem persönlichem Einsatz geschafft
hatte, mit erst 15 Jahren als Novizin im Karmel von
Lisieux aufgenommen zu werden, traf sie auf eine
Form von Kirchlichkeit, die die Abgrenzung zur Umwelt
zum Programm gemacht hatte. Wer einmal in das Kloster eingetreten war, würde es normalerweise nie
mehr verlassen. Den Kontakt nach außen besorgten
die sogenannten Windenschwestern, die über eine Art
Aufzug Gegenstände von draußen nach drinnen und
umgekehrt transportierten. Gespräche mit Außenstehenden
waren nur durch ein Gitterfenster möglich.
Der Alltag in dem kargen Kloster war von langen Gebets-
und Gottesdienstzeiten und zusätzlichen Stunden
für Gewissenserforschung und schweigende Betrachtung
bestimmt. Neben der harten, schweigend
vollzogenen Arbeit gab es dann nur eine Stunde pro
Tag zur Rekreation. Die klösterliche Gemeinschaft
bildete eine Gegengesellschaft zur Außenwelt. 1897 ist Thérèse dann im Alter von 24 Jahren an den Folgen
einer Tuberkulose gestorben. Bereits 1925 wurde sie
heiliggesprochen.
Das Heilige ist immer von
Inflationierung bedroht.
Sie wurde zu einer der bekanntesten
und beliebtesten Heiligen des 20. Jahrhunderts.
Papst Johannes Paul II. ernannte Thérèse 1997 zur
Kirchenlehrerin, obwohl sie nie Theologie studiert
hatte.
Was für eine Art von Heiligkeit lebte Thérèse von
Lisieux? Welche Lehre vertrat sie? Darüber ist viel
nachgedacht und geschrieben worden. Ich sehe sie –
und folge dabei Tomáš Halík – als eine Heilige, die
die Transzendenz in den Ungläubigen erlebt hat. Die
Ungläubigen waren für sie die anderen, die andere
Welt, die Fremden. Aber gerade sie wurden für Thérèse
zu Zeugen von Gottes Gegenwart in der Welt. Sie
hat die Unterscheidung aufgehoben, die ihr Milieu
ausmachte, aber nicht infolge einer mentalitätsmäßigen
Öffnung, nicht in einer Art von Liberalisierung,
sondern durch eine neue Theologie. Bezeichnend ist
die Episode mit Henri Pranzini, die noch in die Kindheit
Thérèses, in das Jahr 1887, fällt. Pranzini wurde
der grausame Mord an zwei Frauen und einem Kind
zur Last gelegt. Obwohl er die Tat bis zu seiner Hinrichtung
am Schafott leugnete, fiel die gesamte Presse,
auch die katholische, über ihn her. Thérèse betete
zusammen mit ihrer Schwester Céline für ihn. Sie „adoptierte“
ihn als ihr „erstes Kind“. Als Pranzini, der
bis dahin jede geistliche Hilfe abgelehnt hat, kurz vor
seiner Hinrichtung das Kruzifix ergreift und zweimal
umarmt, begreift sie dies als die Erhörung ihres Gebets.
Erst aufgrund dieser Erfahrung entschließt sie
sich, in den Karmel einzutreten und ihr Leben für die
Ungläubigen zu geben. Sie belässt es indessen nicht
dabei, für die Bekehrung der Ungläubigen zu beten,
wie es wohl viele andere taten. Die Aufzeichnungen
aus dem Karmel belegen, dass sie ihr Ordensleben
– bis in ihre eigenen tiefsten Glaubenskrisen hinein
– als Einsatz für die Ungläubigen in tiefer Gemeinschaft
mit ihnen lebte. Sie erklärt, sie „verstehe die
Ungläubigen als ihre Geschwister, mit denen sie am
gemeinsamen Tisch sitze und dasselbe Brot esse“.
Es scheint, dass die Heilige nach qualvollem Leiden
ohne Glauben an den Himmel und das ewige Leben
verstarb, aber eben darin fühlte sie sich mit den Ungläubigen
verbunden. Was ihr blieb, war die Liebe. Sie
sagte, Gott sehe sie nicht mehr im Lichte des Glaubens,
wohl aber im Licht der Liebe. Das ist ganz unsentimental.
Ihre Erfahrung des Verlassenseins nimmt sie
als Begegnung und Solidarität mit denen an, die sich
von Gott ganz verlassen fühlen. Thérèse hat, so drückt
es Halík aus, den Glauben bereichert, indem sie die
Erfahrung der Finsternis in sein Inneres geholt hat.
Sie begibt sich in das „Lager der Ungläubigen“ und
bringt von dort „eine neue Trophäe“ mit, „nämlich die
atheistische Erfahrung der Gottesferne“. Das ist eine
Gotteserfahrung, eine Transzendenzerfahrung. Von
den Atheisten, den von Gott Enttäuschten, etwas über
Gott zu lernen, in ihrer Gottlosigkeit eine Gottesoffenbarung
zu sehen, das hat Thérèse vorgelebt. Was ist
dort zu lernen? Falsche Gottesvorstellungen, die von
der christlichen Lehre genährt worden sind und die
Menschen von Gott abbringen. Aber auch jene tiefe
Gottesverlassenheit, die mitten ins biblische Zeugnis
gehört. Thérèses Augen sind nicht zum Himmel gerichtet,
an den sie vielleicht nicht mehr glaubte, sondern
in die Dunkelheit der Gottesferne. Wenige sind
ihr bisher darin gefolgt. „Ist es nicht an der Zeit, dass
uns Thérèses geistlicher Weg, insbesondere ihre ‚Solidarität
mit den Ungläubigen‘, das innere Ringen um
sie und für sie, keinesfalls gegen sie, zur Inspiration
würde als hermeneutischer Schlüssel zu einer neuen Reflexion der gegenwärtigen Gesellschaft,
deren geistigen Klimas und des Auftrags der
Kirche in dieser Zeit?". Die kleine Thérèse
ist eine Heilige für unsere Zeit.
Die Transzendenz der Armen
Der bekannteste Heilige ist wohl heute der
heilige Martin. Dabei ist die Tat der Nächstenliebe,
für die er gerühmt wird, gar nicht
einmal so großartig. Auch mit einem halben
Mantel ließ sich noch weiterkommen, die
andere Hälfte würde sich leicht wiederbeschaffen
lassen. Aufschluss über die Bedeutung
des Geschehens geben erst die Strophen
5 und 6 des bekannten Martinslieds,
die meistens gar nicht mehr gesungen und
auch in den Kinderlied-Versionen gar nicht
mehr überliefert werden: „(…) Sankt Martin
legt sich müd‘ zur Ruh, da tritt im Traum
der Herr dazu. Er trägt des Mantels Stück
als Kleid, sein Antlitz strahlet Lieblichkeit.
(…) Sankt Martin sieht ihn staunend an, der
Herr zeigt ihm die Wege an. Er führt in seine
Kirch‘ ihn ein, und Martin will sein Jünger
sein.“ Es ist also, so will die Traumvision zu
verstehen geben, Christus selbst, der Martin
in Gestalt des Armen begegnet ist.
Dass Christus in Gestalt eines Armen begegnet,
ist fast schon zum Gemeinplatz geworden.
Im Religionsunterricht hört man
es oft. Was sollen sich die Schülerinnen
und Schüler darunter vorstellen? Ist eine
mystische Erfahrung gemeint, wie sie wohl
dem hl. Martin zuteil geworden ist? Wie
viele werden eine solche Erfahrung haben,
wenn sie den konkreten Armen ihrer Umgebung
begegnen? Wenn sie ihnen denn überhaupt
begegnen. Und wenn sie selber arm
sind, werden sie dann das strahlende Antlitz
Christi in sich wahrnehmen? Natürlich beruft
man sich auf Mt 25,40: „Amen, ich sage
euch: Was ihr für einen meiner geringsten
Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
Der Evangelist Matthäus hat den Satz in
einer großen Weltgerichtsszene platziert. Das erschwert vielleicht das Verständnis.
Ich sehe darin zuerst eine schlichte, alltägliche
Gegebenheit: „das habt ihr mir getan“
– „tu’s für mich“, sagt auch der Freund, der
mich um einen Gefallen für einen seiner
Freunde bittet. Und wenn ich dann seinem
Freund, der mir vielleicht gar nicht nahesteht,
den Gefallen getan habe, dann habe
ich’s für ihn, meinen Freund, getan. Jesu
Freunde sind die Armen. Oder wie er es hier
ausdrückt: seine Brüder. Auch im Familienkontext
funktioniert meine Herleitung. Wird
man nicht für die Familien seiner Freunde
einiges tun? Die Heiligen sind die Freunde
Jesu. Um dieser Freundschaft willen tun sie
etwas für dessen Freunde. Was wäre das für
eine Freundschaft, in der man sich nicht für
die einsetzt, die dem Freund wichtig sind?
„Was ihr für einen dieser Geringsten nicht
getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“
Da schwingt sogar Bitterkeit mit. Ihr wollt
meine Freunde sein und habt euch nicht um
die gekümmert, an denen mein Herz hängt?
Jesus hat, das wird selten deutlich gesehen,
das Konzept von Heiligung, das im Israel
seiner Zeit bestand, revolutioniert. Israel
verstand sich als das „heilige Volk“ (Ex 19,5),
dem aufgetragen war, die Welt zu heiligen.
Eine große Berufung, denn das ist ja das Ziel
von Gottes Schöpfung, der Ratschluss, den
er schon vor der Erschaffung der Welt gefasst
hatte, dass „wir heilig und untadelig
leben vor Gott“ (Eph 1,4). Der Tempel galt
gleichsam als Zentrum der Heiligkeit, die
von dort aus in die Welt ausstrahlt. Die Tradition
Israels hat diesen Auftrag so verstanden,
dass ständig zwischen heilig und unheilig
bzw. rein und unrein zu unterscheiden
ist. Vor allem nach dem Wegfall des Tempels
oder als dieser in der Diaspora nicht mehr
zu erreichen war, hat das „Heiligkeitsgesetz“
des Buches Levitikus eine Fülle von Unterscheidungen
zwischen heilig und unheilig
definiert. Es ging um heilige bzw. reine Räume, Zeiten, Personen, Speisen, Geräte,
Tiere, körperliche Beschaffenheiten, sexuelle
Praktiken … Eine komplizierte Kasuistik
ist da entstanden, die das Tun und Lassen
von frommen Israeliten und Israelitinnen
bestimmte und regulierte. Wer rein sagt, der
sagt auch unrein. Alles, was als Mensch oder
Tier unter Krankheiten und körperlichen
Defekten litt, die unrein machten, war vom
Heiligtum ausgeschlossen. Jesus aber geht
zu diesen Kranken, er geht zu den als unrein
Geltenden, er lässt sich von ihnen berühren.
Er lehrte, dass nichts, was von außen
in den Menschen hineinkommt, ihn unrein
macht (Mk 7,14). Sein am Kreuz geschundener
Körper gehört selbst dem Bereich der
Unreinheit an. Er hätte nicht in den Tempel
getragen werden dürfen. Aber der Vorhang
im Tempel zerriss.
In Joh 6,69 wird Jesus selbst „der Heilige
Gottes“ genannt. „Du hast Worte des ewigen
Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen
und haben erkannt: Du bist der Heilige
Gottes.“ Dies sagen diejenigen, die noch
nach seiner provozierenden Brotrede im Anschluss
an die Brotvermehrung bei ihm bleiben.
Was der Heilige Gottes unter Heiligkeit
versteht, wird bei der Brotvermehrung, die
im NT gleich sechsmal erzählt wird, klar:
Alle aßen und wurden satt. Jesus versteht
sich selber als „das lebendige Brot, das vom
Himmel herabgekommen ist“ (Joh 6,51). Nun
soll niemand mehr hungern müssen.
Jesu Heiligungskonzept war horizontal.
Er sah die Menschen an, die zu ihm kamen.
Er blickte auf die Armen, zu denen er sich
gesandt wusste, um die frohe Botschaft zu
verkünden. An ihnen sollte das Mysterium
des Gottesreichs offenbar werden. An ihnen
sollte Gottes Namen geheiligt werden,
wenn sein Reich kommt. Die Heiligen, wenn
sie sich der Bedürftigen annehmen wie die
hl. Elisabeth, wenn sie die eigenen Gelüste
nach Macht und Grenzenlosigkeit überwinden
wie die Asketen, wenn sie die Wahngebilde
der Mächtigen durchschauen und den
Wert des Kleinen und Ohnmächtigen entdecken
wie der hl. Christophorus, folgen dem
Heiligkeitskonzept Jesu. Zum Schluss bleibt
noch die Frage, wie in diesem Kontext mit
dem Inflationierungsproblem umzugehen
ist, das, wie anfangs ausgeführt, die Präsenz
des Heiligen stets bedroht. Die Antwort, die
sich aus Mt 25 ergibt, lautet: Heilig ist, wer
das Gute aus Freundschaft zu Jesus tut, wie
die hl. Teresa von Avila, von der Bernini eine
so gelungene Darstellung schaffen konnte,
weil ihre Transzendenz der so innig begehrte
und empfangene Freund Jesus war, oder
wie die hl. Thérèse, die Jesus bei der Erstkommunion
mit den Worten begrüßte: „Ich
liebe dich und schenke mich dir für immer.“
Andere Menschen mögen das Gute aus anderen
Motiven tun, aus Mitleid, aus Rechtfertigungsbedürfnis
oder schlechtem Gewissen,
aus dem Ideal der Humanität. Heilige tun es,
weil sie Freunde Jesu sind.
Zur Person
Thomas Ruster
ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Dortmund.
Zusammen mit Simone Horstmann und Gregor Taxacher erschien kürzlich „Alles, was atmet: Eine Theologie der Tiere“ (F. Pustet Verlag).