Mitten im Sturm
Freiheit, Verantwortung und Menschenwürde angesichts der Corona-Pandemie
Mitten in der Gefahr: Einschränkungen individueller Freiheiten
Zu den wichtigsten gesellschaftlichen Folgen der gegenwärtigen
Pandemie gehören in liberalen, der Freiheit
des Individuums verpflichteten Rechtsstaaten die
Einschränkungen elementarer Grundrechte. Seit 1945
hat die westliche Welt derart massive Eingriffe in die
Freiheitsrechte der Menschen nicht erlebt. Jeder Tag
bringt eine neue Einschätzung der Gefahrenlage mit
sich – und somit eine mögliche Lockerung oder Verschärfung
von Maßnahmen gegen die Pandemie. Es
wird lange dauern, bis so etwas wie der Status quo
ante, der Zustand vor der Krise, zurückgekehrt sein
wird – wenn es denn je die Normalität, an die wir uns
gewöhnt hatten, wieder geben wird. Vieles spricht
nämlich dafür, dass langfristig vieles anders sein
wird und dass die Corona-Pandemie zu einer „Zeitenwende”
führen wird, dass man also ein Leben vor der
Corona-Krise von einem Leben danach unterscheiden
wird. Denn durch sie wurden bestimmte Entwicklungen
– von der Digitalisierung im Bildungswesen
über die Bedeutung des Online-Handels bis hin zur
Rolle des Home-Office und den Folgen, die die Veränderungen
im Arbeitsleben für das Familienleben
haben – massiv beschleunigt. Sicherlich wird man
nach der Krise kritisch nach weiteren Zusammenhängen
der Krise – nach den Schattenseiten der Globalisierung,
nach den problematischen Folgen jüngerer
Reformen im Gesundheitswesen oder nach den Konsequenzen
mangelnder europäischer oder globaler
Solidarität – fragen. Zunächst hängt aber vieles davon
ab, ob es gelingen wird, das Wissen über den Virus zu
erweitern und einen Impfstoff oder eine erfolgreiche
Therapie zu entwickeln. Solange dies nicht der Fall
ist, können wir nicht so frei agieren, wie es uns lieb
wäre – und wie wir es gewohnt waren.
In ihrer Ansprache vom 18. März 2020 hat Bundeskanzlerin
Angela Merkel darauf aufmerksam gemacht,
wie bewusst ihr das Ausmaß der damals getroffenen
Maßnahmen ist: „Ich weiß, wie dramatisch
schon jetzt die Einschränkungen sind: keine Veranstaltungen
mehr, keine Messen, keine Konzerte und
vorerst auch keine Schule mehr, keine Universität,
kein Kindergarten, kein Spiel auf einem Spielplatz.
Ich weiß, wie hart die Schließungen, auf die sich Bund
und Länder geeinigt haben, in unser Leben und auch
unser demokratisches Selbstverständnis eingreifen.
Es sind Einschränkungen, wie es sie in der Bundesrepublik
noch nie gab.” Anders als der französische
Staatspräsident Macron hat sich Merkel keiner martialischen
Kriegsrhetorik bedient. Ihre aus diesem
Grund viel gelobte Rede ist von Sachlichkeit und
Nüchternheit geprägt – und trotzdem ein Dokument
persönlicher Betroffenheit. In ihrer Begründung für
die Einschränkung der Freiheitsrechte geht Merkel nämlich auf eigene biographische Erfahrungen ein:
„Lassen Sie mich versichern: Für jemandem wie mich,
für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes
Recht waren, sind solche Einschränkungen
nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen.
Sie sollten in einer Demokratie nie leichtfertig und
nur temporär beschlossen werden – aber sie sind im
Moment unverzichtbar, um Leben zu retten."
»Das Jahr 2020 markiert einen
tiefen Einschnitt in der jüngeren
Geschichte der Menschheit«
Mit ihrer Rede hat Merkel viele Menschen in
Deutschland überzeugen können. Die dramatischen
Bilder aus Italien und Spanien, die bereits Mitte März
2020 über die traditionellen und die neuen sozialen
Medien die mitteleuropäische Bevölkerung erreicht
hatten, haben vermutlich ihren Appell an die Bevölkerung
unterstützt. Sie hatten bereits im Vorfeld der
Rede zu Verhaltensänderungen geführt. Allerdings
müssen Einschränkungen der Freiheit in einem liberalen
Rechtsstaat immer sorgfältig geprüft, begründet
und transparent vermittelt werden. Merkel hat
darauf ausdrücklich aufmerksam gemacht und in minimaler
Weise eine solche Begründung geliefert. Sie
hat nämlich darauf verwiesen, dass es darum gehe,
„Leben zu retten”. Mehr war im März 2020 noch nicht
möglich. Die Politik musste auf Sicht fahren und auf
eine weitestgehend wenig bekannte Herausforderung
reagieren. Bei allen Differenzen in der Einschätzung
der konkreten Gefahrenlage bestand ein breiter Konsens
darin, angesichts einer unmittelbaren Bedrohung
und der konkreten Gefahr, dass es aufgrund der exponentiellen
Verbreitung des Virus zu einer Überlastung
des Gesundheitssystems kommen könnte, möglichst
schnell, umfassend und effektiv zu handeln. Denn eine
solche Überlastung hätte u.a. dazu geführt, dass Menschen,
die bei guter Versorgung entsprechend gute
Heilungs- oder Überlebenschancen gehabt hätten, gar nicht oder nur in begrenztem Maße hätten behandelt
werden können. Man kann sich kaum ausmalen,
zu welchen weiteren Folgen eine solche Überlastung
in einer hochmodernen und hochkomplexen Gesellschaft
hätte führen können – oft in Kontexten, die
zunächst nicht in den Blick der Öffentlichkeit geraten.
So hätten in verschiedenen Bereichen Lieferengpässe
entstehen können – nicht etwa, weil es bestimmte Waren
nicht gegeben hätte, sondern weil es zu wenige
Fahrer gegeben hätte, um diese auszuliefern.
Wenn zum jetzigen Zeitpunkt ein kritischer Rückblick
auf die Maßnahmen, die in der Anfangszeit der
Krise ergriffen wurden, aufgrund der Tatsache, dass
wir uns noch mitten in der Pandemie befinden, nur in
beschränkter Weise möglich ist, so kann bereits jetzt
darüber nachgedacht werden, aufgrund welcher Art
von Entscheidungen und mit welchem Zweck derart
umfängliche Einschränkungen der Freiheit, wie sie im
März in Deutschland verordnet wurden, möglich sind.
Mitten in der Entscheidung: Kriterien legitimer Einschränkungen der Freiheit
Es ist eine triviale, aber heute oft vergessene oder
verdrängte Wahrheit, dass in einem liberalen Rechtsstaat
Einschränkungen der Freiheit nichts Neues oder
Ungewöhnliches sind. Als Freiheitssubjekte stehen
wir immer in einem Netz von Verpflichtungen. Auch
die Verantwortung für konkrete Menschen in unmittelbarer
Lebensgefahr und die damit verbundene
Einschränkung der eigenen Freiheit ist tief verankert
in unseren moralischen Normen und unserer Rechtskultur.
Wir akzeptieren in der Regel bereitwillig Einschränkungen
unserer Freiheit. Denn meine Freiheit
steht in Beziehungen. Ich bin als freies Wesen nie alleine.
Es gibt die andere Freiheit, den anderen Menschen,
dessen Freiheit ich anzuerkennen habe und für
den ich in begrenztem, zunächst und zumeist auf Notsituationen
bezogenen Maße Verantwortung trage.
Ohne Grenzen würde Freiheit daher inhuman werden.
Wenn es keine Regeln oder den Einzelnen begrenzende
Pflichten gäbe, würde es mit hoher Wahrscheinlichkeit
zu einem Kampf aller gegen alle kommen, und
die Macht, der Wille und die Interessen des Stärksten
würden zu einer Willkürherrschaft und somit für die
meisten Menschen zum Ende der Freiheit führen. Grenzen der Freiheit aus Verantwortung für
den anderen Menschen heraus humanisieren
das Verhältnis zwischen Menschen und
sind überdies die Bedingungen der Möglichkeit
von menschlicher, allen Menschen zukommender
Freiheit.
Dabei lassen sich zwei verschiedene Formen
der Freiheitseinschränkung unterscheiden:
Zum einen muss sich der freie Mensch
an unbedingt geltende ethische Gebote – wie
etwa das Verbot der Folter – halten; diese
finden in einem gerechten Staat ihren Niederschlag
in Gesetzen. Zum anderen gibt
es neben den im strengen Sinne unbedingt
geltenden ethischen Imperativen moralische
und gesellschaftliche Gebote, Normen und
Konventionen, die ebenfalls die Freiheit
beschränken, allerdings in ihrer Geltung
kontroverser und bedingter sind. Viele dieser
Pflichten, die in Gesetzen einen verbindlichen
Ausdruck finden können, aber nicht müssen, sind in dem Sinne relativ, dass
sie von bestimmten Traditionen, Vorlieben,
Moden oder Kontexten abhängig sind. Sofern
es um gesetzlich kodifizierte Pflichten
geht (und nicht um Fragen der Höflichkeit,
des guten Geschmacks oder moralisch relevanter
Bräuche), handeln moderne Gesellschaften
sie in demokratischen Prozessen
aus wie beispielsweise die Art und den Umfang
der Schulpflicht oder die Pflicht, Steuern
für dieses oder jenes in einer bestimmten
Höhe zu zahlen. Dabei kann man sowohl
beobachten, dass traditionelle Einschränkungen
– man denke an die rechtlichen Regelungen
zur Eheschließung und Ehescheidung
– gelockert oder aufgehoben werden
als auch, dass neue Einschränkungen – hier wären Gesetze, die den Umweltschutz betreffen, zu
nennen – eingeführt werden. Manche Freiheitseinschränkungen
wurden – wie die Einführung der heute
selbstverständlichen Gurtpflicht – oder werden – wie
die Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen
– kontrovers diskutiert und führen dabei zu höchst
grundsätzlichen Debatten. Wenn freie Fahrt für freie
Bürger gefordert wird, geht es nämlich um wesentlich
mehr als nur um das Tempolimit. Zur Diskussion
stehen dann auch das bürgerliche Selbstverständnis
und das Verständnis der gesellschaftlichen Ordnung
und der staatlichen Gewalt – wie umgekehrt manche
grundsätzliche Fragestellung oft in Gestalt einer konkreten
und anschaulichen Einzelfrage diskutiert wird.
»Ohne Grenzen würde
Freiheit inhuman werden«
Andere Einschränkungen der Freiheit werden von
vornherein nur für eine bestimmte Situation festgelegt.
So hat Merkel im Zusammenhang mit den Maßnahmen
gegen die Corona-Pandemie ausdrücklich
von „temporären” Einschränkungen gesprochen, die
unter bestimmten, klar definierbaren Bedingungen
stehen. Wenn die Bedingungen sich verändern, müssen
die auf sie zurückgehenden Einschränkungen der
Freiheit umgehend aufgehoben werden. In Deutschland
ist es bis zum erneuten Shutdown im November
nach teils kontroversen öffentlichen Diskussionen in
vielen Bereichen wieder zu Lockerungen der getroffenen
Maßnahmen gekommen – in Anpassung an die
jeweilige Gefahrenlage, die sich weiterentwickelt hat,
über die man heute mehr weiß als noch Mitte März
und auf die man daher jetzt anders – differenzierter
oder mit anderen Mitteln – als in den ersten Wochen
der Corona-Pandemie reagieren kann. Nichts spricht
in einem funktionierenden Rechtsstaat wie Deutschland
dagegen, so zeigt sich, dass neue Einschätzungen
der Gefahrenlage umgehend zu einer Anpassung der
getroffenen Maßnahmen gegen die Gefahr führen.
Einschränkungen der Freiheit dürfen dabei nicht
willkürlich erfolgen, sondern müssen, nachdem verschiedene
Gesichtspunkte erwogen und gegeneinander
abgewogen wurden, gut begründet werden, d.h.,
man muss vorher sorgfältig prüfen, ob eine Einschränkung
wirklich angebracht ist und ob sich nicht auf
anderem Wege noch besser das angestrebte Ziel erreichen
ließe. Jede bedingte Einschränkung der Freiheit
sollte eine maßvolle „ultima ratio” darstellen. Auch auf diese Kriterien ging Merkel im März
2020 ein, wenn sie darauf verweist, dass die
Entscheidungen der Regierung „nicht leichtfertig”
getroffen wurden und daher auf rational
nachvollziehbare Gründe zurückgehen.
Zudem sollten Entscheidungen, die zu einer
Einschränkung der Freiheit führen, transparent
gemacht werden – wie ebenfalls in der
bzw. durch die Rede von Merkel geschehen.
Damit sind einige wichtige Merkmale für
eine legitime politische Entscheidung, die
Freiheit einzuschränken, genannt.
Merkel hat die im März getroffenen
Entscheidungen noch durch ein weiteres
Merkmal charakterisiert. Sie hat davon gesprochen,
dass diese auf eine „absolute Notwendigkeit”
zurückgingen. In der damaligen
Situation konnte eine solche drastische Rhetorik
auf den ersten Blick angebracht erscheinen.
Jedoch erweist sie sich als zutiefst
problematisch. Überdies könnte sie für die
gegenwärtige Kritik an den Maßnahmen der
Regierung zumindest in Teilen verantwortlich
sein. Denn der Bezug auf eine „absolute”
Notwendigkeit legt nahe, dass man nicht
– und das heißt gar nicht, unter gar keinen
Umständen – hätte anders oder gar nicht
handeln können und dass es somit gar keine
wirkliche politische Entscheidung gab. Befanden
wir uns tatsächlich in einer solchen
Situation? Hätte man zum damaligen Zeitpunkt
bestimmen können, dass eine zu „alternativlosem”
Handeln führende Situation
– was immer dies genau bedeuten soll – vorlag,
dass es also gar keine Alternative zu den
getroffenen Entscheidungen gab? Es wäre
vermessen, diese Frage mit einer eindeutig
positiven Antwort zu versehen. Dafür wusste
– und weiß man immer noch – schlicht zu
wenig. Wie das Beispiel Schwedens oder anderer
Länder zeigt, hätten andere politische
Entscheidungen getroffen werden können.
Mit dieser Kritik ist kein Urteil darüber getroffen,
ob die in Deutschland getroffenen
Entscheidungen besser als andere Entscheidungen
waren. Sehr viel spricht dafür, dass
PERSPEKTIVEN PERSPEKTIVEN
sie unter den gegebenen Umständen die
bestmöglichen Entscheidungen waren. Allerdings
lag keine „absolute Notwendigkeit” vor.
Zumindest prinzipiell hätte man Entscheidungen
anders oder andere Entscheidungen
treffen können – und treffen können müssen.
Genau dies liegt ja in der Logik politischen
Handelns. Die Politik folgt nicht physikalischen
oder logischen Gesetzen, die mit absoluter
Notwendigkeit gelten, sondern stellt
eine bestimmte Weise des menschlichen
Handelns dar. Dies setzt Freiheit und somit
eine ganz andere Ordnung als jene absoluter
Notwendigkeiten voraus, wie die Politik
nach dem liberalen Verständnis primär der
Freiheit des Menschen dient – und nicht umgekehrt
die Freiheit dem politischen Raum
untergeordnet wird. Wenn man den Freiheitsraum
des politischen Handelns durch
die Bezugnahme auf eine „absolute Notwendigkeit”
beschränkt, um sodann auf dieser
Grundlage die individuellen Freiheitsräume
der Bürgerinnen und Bürger einzuschränken,
so ist dies fragwürdig, und zwar nicht nur,
weil es den Tatsachen – den immer noch bestehenden
Möglichkeiten eines anderen Handelns
– nicht entspricht und Politik auf bloße
Verwaltung gegebener Zustände reduziert,
sondern weil es dazu führen kann, die Suche
nach Alternativen zu unterlassen. Denn die
Pflicht zu dieser Suche erlischt nicht, wenn
die Entscheidung, Freiheit zeitlich begrenzt
einzuschränken, getroffen wurde.
Was sich in Merkels Verweis auf eine „absolute
Notwendigkeit” zeigt, ist ein Bedürfnis
nach Sicherheit, das angesichts der Dimensionen
der getroffenen Entscheidungen
durchaus verständlich ist. Derart „absolut
notwendige” Entscheidungen versprechen
allerdings nicht nur Sicherheit, sondern verhindern
Zweifel an der einmal getroffenen
Entscheidung. Da gerade Zweifel aber zu
einer je neuen Bewertung der Lage führen,
können sie als ein wichtiges Kriterium legitimer
bedingter Freiheitseinschränkungen
gelten.
Mitten im Risiko: Menschenwürde und die Spannung von Freiheit und Sicherheit
Angela Merkel hat als Zweck der getroffenen
Maßnahmen die Gefahren für viele Menschen
und damit den Schutz des menschlichen
Lebens genannt. Solche Gefahren
rechtfertigen in der Tat ungewöhnliche Maßnahmen.
Angesichts der Gefahr, dass viele
Menschen leiden und sterben oder chronisch
krank werden, kann man von der Mehrheit
der Bevölkerung durchaus verlangen, dass
sie sich in ihrer Freiheit in gewissem Maße
und für eine gewisse Zeit einschränkt, wenn
dies dazu führt, dass die Gefahr abgewendet
oder zumindest reduziert werden kann,
und wenn sicher ist, dass die Nebenfolgen
der Maßnahmen gegen die Pandemie nicht
größer sind als die möglichen Folgen der
Pandemie. Man kann angesichts dieser Gefahren
auch wirtschaftliche Nachteile in
Kauf nehmen. Der Markt ist nämlich kein
Selbstzweck, sondern dem Menschen und
seinem Wohl untergeordnet.
»Von absoluter Bedeutung ist
die Würde des Menschen und
nicht seine Freiheit«
Man kann dies noch anders formulieren:
Im modernen liberalen Staat nimmt noch
nicht einmal die Freiheit einen absoluten
Rang ein. Sie ist, wie sich bereits gezeigt hat,
begrenzt und insbesondere durch die Beziehung
mit anderen Menschen beschränkt.
Von absoluter Bedeutung ist die Würde des
Menschen und nicht seine Freiheit, so eng
beides miteinander verbunden ist. Es ist daher
die Würde, die in den auf ihre konkrete
Bedeutung hin kontrovers diskutierten Worten
des Grundgesetzes „unantastbar” ist.
Dies bedeutet, dass der Mensch nie auf ein
bloßes Mittel für einen außerhalb ihm liegenden
Zweck – und sei dieser Zweck noch
so bedeutend oder in moralischer Hinsicht
wertvoll – reduziert werden darf. Das wäre
allerdings der Fall gewesen, wenn man in
der Situation der unmittelbaren Gefahr wegen der wirtschaftlichen Konsequenzen
oder der gesellschaftlichen und kulturellen
Nebenfolgen von Freiheitseinschränkungen
eine hohe Zahl von möglichen Opfern der
Pandemie in Kauf genommen hätte. In der
konkreten Gefahrensituation vor wenigen
Monaten scheint die Regierung – mehr kann
zum gegebenen Zeitpunkt nicht gesagt werden
– zumindest Entscheidungen getroffen
zu haben, die nicht „prinzipiell” falsch gewesen
sind. Darauf deutet ein breiter Konsens
der Expertinnen und Experten hin.
Allerdings sind an dieser Stelle einige
Differenzierungen vorzunehmen. Der Schutz
des bloßen Lebens ist kein unbedingtes
Gebot. Das mag zunächst erstaunen, doch
dürften die folgenden Überlegungen die
Plausibilität dieser These zeigen. Viele als
positiv zu würdigende politische oder gesellschaftliche
Entscheidungen oder
wissenschaftlich-technische und gesellschaftliche
Entwicklungen zeigen
nicht nur Vorteile, sondern haben
teils gravierende Schattenseiten. Sie
führen beispielsweise unweigerlich
dazu, dass Menschen sterben werden.
Seitdem es Autos oder Flugzeuge
gibt, gibt es Verkehrsopfer, d.h., als Gesellschaft
sind wir bereit, eine bestimmte Zahl
von Menschen unserem Wunsch nach individueller
und gesellschaftlicher Mobilität zu
opfern. Auch viele Methoden der Energieerzeugung
– nicht nur die Atomenergie, sondern
die Erzeugung von Energie durch das
Verbrennen fossiler Materialien – führen zu
teils beträchtlichen, aber gesellschaftlich
akzeptierten Risiken für Gesundheit und Leben
vieler Menschen. Während der Konsum
und Besitz vieler Drogen verboten ist, haben
wir in Deutschland eine relativ liberale Haltung
gegenüber Alkohol und sind, obwohl
es gute Gründe für restriktivere Maßnahmen
gibt, aus kulturellen Gründen zögerlich,
solche Maßnahmen zu ergreifen. Auch
medizinische Eingriffe oder die Einnahme
bestimmter Medikamente können teils beträchtliche
Nebenfolgen haben, die wir in
bestimmtem Maße tolerieren, weil uns ihr
allgemeiner Nutzen die gegebenen Nachteile
in konkreten Einzelfällen zu rechtfertigen scheint. Wenn sich eine bestimmte Weise, sich
fortzubewegen, Energie zu erzeugen oder Menschen
zu operieren und medizinisch zu behandeln, als zu risikoreich
erweisen sollte, sind wir zu einer solchen
Toleranz nicht mehr bereit.
In vielen anderen Bereichen nehmen wir ebenfalls
Risiken und Opfer in Kauf. Dies ist auch moralisch gerechtfertigt,
allerdings, wie mir scheint, unter den folgenden
fünf Voraussetzungen: Es ist erstens notwendig,
dass sich das Risiko und die Zahl möglicher Opfer
in Grenzen hält, d. h., etwas könnte zu risikoreich sein,
als dass man es erlauben würde, oder etwas könnte
sich als zu risikoreich erweisen, so dass man es verbietet.
Es bleibt zweitens notwendig, sich darum zu
bemühen, die Zahl der Opfer möglichst gering zu halten,
d.h., man darf nicht gleichgültig die Zahl der jährlichen
Opfer zur Kenntnis nehmen, sondern muss –
z.B. durch eine verpflichtende regelmäßige technische
Überprüfung von Fahrzeugen – dauerhaft Maßnahmen
ergreifen, um diese Zahl zu reduzieren, und muss
– wie im Falle der Sperrung einer baufälligen Brücke
oder der Freiheitseinschränkungen während der Corona-
Pandemie – auf unmittelbare Gefahrensituationen
schnell reagieren. Bei den Opfern handelt es
sich drittens um – tragische – Opfer einer allgemeinen
statistischen Wahrscheinlichkeit, nicht um von anderen
Menschen konkret ausgewählte Opfer (zu Jahresbeginn
steht ungefähr fest, wie viele Menschen im
beginnenden Jahr im Straßenverkehr sterben werden;
es steht aber nicht fest, wer dies sein wird). Außerdem
besteht viertens ein politischer und gesellschaftlicher
Konsens, ein bestimmtes Risiko einzugehen und diese
Opfer in Kauf zu nehmen, und es ist fünftens dem einzelnen
Menschen zumindest prinzipiell möglich, die
eigene Gefahr, zu einem Opfer zu werden, zu minimieren,
indem er beispielsweise nicht oder nur in sehr
beschränkter Weise am Straßen- oder Flugverkehr
teilnimmt, eine Operation oder eine andere Behandlungsmethode
verweigert oder keinen Alkohol trinkt.
In welchen Bereichen, aus welchen Gründen und in
welchem Maße eine Gesellschaft Opfer in Kauf nimmt
oder zu vermeiden sucht, ist eine Frage der Tradition,
des oft impliziten gesellschaftlichen Konsenses,
religiöser Überlieferungen, kultureller Gewohnheiten,
politischer Opportunitätsüberlegungen oder des wissenschaftlichen
Erkenntnisstandes. Damit aber zeigt
sich, dass die Rettung von Menschenleben kein unbedingtes
Gebot ist. Denn ansonsten müsste umgehend
vieles, das mit einem Lebensrisiko verbunden ist –
von der Nutzung von Autos und Flugzeugen über bestimmte
Methoden der Energieerzeugung bis hin zum
Konsum gefährlicher Substanzen –, verboten werden.
Man würde dann die Politik dem Diktat des bloßen,
vor Gefahren sicheren menschlichen Lebens radikal
unterwerfen. Dann wäre es umgekehrt nur naheliegend,
alles dafür zu tun, dass Menschen nicht nur
nicht krank werden oder sterben, sondern dass sie
möglichst lange sicher und gesund leben können. Damit
wären Tür und Tor für allerlei manipulative und
freiheitseinschränkende Maßnahmen geöffnet.
Ein Leben in möglichst umfassender Sicherheit –
etwa in Gestalt einer “Gesundheitsdiktatur” – wäre
allerdings ein Leben gegen die Würde des Menschen.
Gesundheit ist zwar ein hohes, aber nicht das höchste
Gut des Menschen. Auf diesen wichtigen Umstand hat
der Bundestagspräsident aufmerksam gemacht: „Aber
wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von
Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist
in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken
sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen
absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist
das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar.”
Es gibt neben der Gesundheit bzw. dem Leben viele
andere Güter, und es ist gerade eine Frage der Würde,
ob dem Menschen die Freiheit gelassen wird, in Anerkennung
seiner moralischen Pflichten konkrete Güter
sowie eine ihm eigene Güterhierarchie zu wählen.
Ein der Freiheit verpflichteter Staat kann daher nicht
ein relatives Gut wie die Gesundheit oder das sichere
(Über-)Leben mit absoluter Bedeutung versehen – vor
allem weil die Würde des Menschen, so Schäuble lakonisch,
nicht ausschließe, „dass wir sterben müssen.” Mit vielen der Gesundheit dienenden Verboten
würde nämlich mit der Freiheit der Wahl der eigenen
Güter und Güterhierarchien vieles verschwinden, das
zu einem würdevollen Leben gehört: von einer möglichst
für viele Menschen kostengünstigen Mobilität
über die Versorgung mit ausreichend Energie bis zur
Freude und zum Genuss, den der Konsum von Alkohol
bereiten kann. Oder auf die Situation der Corona-
Pandemie bezogen: Verbote, die der physischen
Gesundheit vieler Menschen dienen, können zu Folgen
führen, die die Freiheit und Würde des Menschen
in hohem Maße beeinträchtigen. So sinnvoll auf der
einen Seite Besuchsverbote in Altenheimen sein können,
so sehr gilt es, die Folgen in Betracht zu ziehen,
die entstehen können, wenn engste Angehörige sich
nicht besuchen dürfen oder sterbende Menschen
ohne menschliche Begleitung bleiben. In diesen Konflikten
gilt es, den Konflikt verschiedener Grundrechte anzuerkennen, sorgfältig abzuwägen und vor allem
kreative Lösungen zu suchen, die unterschiedlichen
Aspekten gerecht werden und verschiedene Aspekte,
Interessen und Anliegen miteinander vermitteln.
Denn nur selten handelt es sich in der Corona-Krise
um Dilemma-Situationen, in denen sich ein strenges
„Entweder-Oder” zeigt.
In diesen Überlegungen zeigt sich der spannungsreiche
Konflikt zwischen Freiheit auf der einen Seite
und Gesundheit bzw. Sicherheit des Lebens auf der anderen
Seite: Je mehr Freiheit eine Gesellschaft ermöglicht,
umso unsicherer wird das Leben für das Individuum.
Und je sicherer eine Gesellschaft wird, umso
mehr Einschränkungen sind mit der Freiheit verbunden.
Maximale Lebenssicherheit – die es ja nie geben
wird – wäre mit maximaler Unfreiheit verbunden und
umgekehrt. Es gilt daher, Freiheit und Sicherheit in
ein menschliches Verhältnis zu setzen – und diese Verhältnisbestimmung
regelmäßig zu überprüfen. In ein
und derselben Frage können liberale Rechtsstaaten
dabei zu sehr unterschiedlichen Bestimmungen des
Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit bzw. Gesundheit
kommen. Und ein und dieselbe Gesellschaft
mag in einem Bereich eher der Sicherheit den Vorzug
geben, wohingegen sie in anderen Bereichen der Freiheit
einen Vorzug gibt. Die Frage nach einem angemessenen
Verhältnis von Freiheit und Sicherheit lässt
sich nämlich nicht abstrakt oder im Allgemeinen,
sondern nur vor dem Hintergrund einer konkreten Situation
beantworten. Das ist der Grund dafür, dass
Verhältnisbestimmungen von Freiheit und Sicherheit
höchst kontrovers sind und bleiben. Sie sind alles
andere als willkürlich, aber doch mit einer gewissen
Bandbreite möglicher Optionen versehen.
»Es gilt, Freiheit und Sicherheit
in ein menschliches Verhältnis
zu setzen«
Das gilt in der Corona-Pandemie und sollte nicht
überraschen: Expertinnen und Experten aus Naturwissenschaft,
Medizin und Pflege kommen angesichts
dieser Pandemie zu teils unterschiedlichen Beurteilungen
des gegebenen Risikos und somit zu voneinander
abweichenden Empfehlungen. Damit ist noch
nichts von den anderen – etwa kulturellen, religiösen,
psychologischen oder wirtschaftlichen – Perspektiven
gesagt, die auf die Pandemie möglich sind und die ihrerseits
zu äußerst variierenden Einschätzungen der
Lage führen. Die Politik sowie der gesellschaftliche
Diskurs stehen somit vor der Aufgabe, verschiedene
Aspekte zu berücksichtigen, ihre Bedeutung abzuwägen
und in konkretes Handeln zu übersetzen. Dabei
sollte man sich der Tatsache bewusst bleiben, dass
selten die Spannung von Freiheit und Sicherheit zu
einem wirklich tragischen Konflikt führt. Die Pflicht,
in bestimmten Situationen Masken zu tragen, um dadurch
andere Menschen zu schützen, stellt eine nur
geringfügige Einschränkung der Freiheit dar, so dass
die radikale Kritik, die gelegentlich an dieser Verpflichtung
geäußert wird, wenig plausibel erscheint.
Gravierender sind die Folgen der Pandemiebekämpfung
für bestimmte Unternehmen, Solo-Selbständige
oder kulturelle Einrichtungen, denen auf Zeit die
Existenzgrundlage genommen wird. Bislang versucht
man, die wirtschaftlichen Folgen der Einschränkung
der Freiheit teilweise durch staatliche Leistungen zu
kompensieren. Das ist nicht immer in einer gerechten
Weise möglich. Gerade aus diesem Grund stellt sich
die Aufgabe eines gesellschaftlichen Diskurses darüber,
wie man die Last der Folgen und Nebenfolgen der
Corona-Pandemie gerecht verteilen kann, um wirklich
tragischen Folgen zu entgehen. Anders als oft angenommen
dürfte die Welt nach der Pandemie nicht gerechter
werden; aber sie sollte zumindest nicht ungerechter
werden.
Mitten unter Menschen: Solidarische Freiheit vom Anderen her
Moderne Gesellschaften sind stark von einer individualistischen
emanzipatorischen oder negativen
Freiheit geprägt, also von der Freiheit des Einzelnen
als Emanzipation von bestehenden ungerechten Einschränkungen
etwa durch Traditionen, die sich überholt
haben, oder durch Herrscher und Regierende.
Dieses Verständnis hat die Entwicklung der modernen
liberalen Gesellschaft und eines modernen Verständnisses
individueller Rechte maßgeblich geprägt. Aber
es gibt noch ein anderes Verständnis von Freiheit, das
nach dem Zweck oder Ziel gelungener menschlicher
Freiheit fragt. Auch dieses Verständnis hat die moderne
Gesellschaft und den freiheitlichen Staat in hohem
Maße beeinflusst. In ihm artikuliert sich das Wissen
um die Bedeutung eines gerechten und guten Zusammenlebens
in Freiheit und somit um die Grenzen der
Freiheit und die Verantwortung des Menschen. Man
kann von einem solidarischen Verständnis von Freiheit
sprechen, von einer Freiheit angesichts des anderen Menschen und seiner Not. Um zu vermeiden,
dass andere Menschen in Not geraten,
oder um ihnen aus der Not zu helfen, ist
dieses Verständnis von Freiheit notwendig,
das weniger vom Ich und seinen Rechten
als vom Anderen und seinen Bedürfnissen
ausgeht. Auf die Bedeutung der Solidarität
ist Angela Merkel in ihrer Rede im März –
und im Juli im europäischen Kontext und
erneut zu verschiedenen Gelegenheiten im
Herbst 2020 – ausdrücklich eingegangen.
Wenn die Corona-Pandemie eine positive
Folge haben könnte, dann jene, dass in ihr
das Verständnis von Freiheit als Solidarität
wieder in Erinnerung gerufen wird – nicht
als Alternative zum Verständnis von Freiheit
als Emanzipation, sondern als notwendige
Ergänzung. Denn emanzipiert kann man nur
sein, wenn man solidarisch bleibt – und umgekehrt.
Zur Person
Holger Zaborowski
ist Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen
Fakultät der Universität Erfurt.