Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
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Erst auf den zweiten Blick

Das Interview führte Thomas Menges

Wie ist die Idee zum Codex Morgner aus 14 großformatigen Bildern entstanden?

Nach einem Schlaganfall konnte ich nicht mehr gehen, auf dem rechten Ohr nichts
mehr hören und noch nicht mal mehr signieren. Noch verdrahtet auf der Intensivstation
bekomme ich einen Anruf aus Meißen: „Herr Morgner, wo sind denn ihre Bilder?“ Gemeint
waren die Bilder, die ich 2009 im Dom von Meißen zusammen mit anderen Werken ausgestellt
hatte. Ich sah den Dom vor meinem inneren Auge und dachte: „Morgner, die Frage
kriegst du nur einmal in deinem Leben gestellt!“ und habe gesagt: „Passen sie auf, wenn ich
hier wieder rauskomme und wenn ich irgendwie dazu in der Lage bin, mache ich nochmal
vier Neue.“ Nachdem ich mich ein bisschen erholt hatte, habe ich vier neue Bilder mit ähnlichen
Titeln, aber ganz anderen Strukturen gemacht. Die Domherren haben sich die neuen
Bilder angesehen und einstimmig entschieden – jetzt sind sie im Meißner Dom zu sehen
[Näher dazu: EULENFISCH Literatur 2_2017, 42 f.]. Mein Geist musste also noch halbwegs
in Ordnung sein.

Und jetzt bitte den Bogen zum Codex Morgner.

Dabei stellte ich fest, dass mich das Herstellen meiner großen Bilder mehr reizt als
das meiner kleinen, und beschloss, nur noch große Bilder zu machen, bis es mir zum Halse
raushängt. Mit der relativ realistischen „Schwarzen Kreuzigung“ habe ich angefangen. Nach
ungefähr zehn Bildern, die aus einer inneren Idee entstanden, sagte mir [der Kunstsammler
und Mäzen] Stefan Behrens: „Morgner, was du hier machst, ist ein moderner Kreuzweg. Es
geht los mit der Kreuzigung und entwickelt sich zu einem deutschen Requiem mit Krieg
und KZ weiter bis zu einer Art Auferstehung.“ Und er machte mir den Vorschlag, alle Bilder
in Vitrinen im Park von Premnitz zu präsentieren. Ich wusste zum einen, dass mir niemand
diese riesigen Bilder abkaufen würde, und hatte zum anderen den großen Park der Behrens
um die „Villa am See“ vor Augen, wo die Bilder für jedermann zugänglich ausgestellt werden
können.

Dann gehören alle 14 Bilder des Codex Morgner den Eheleuten Behrens?

Ich habe sie den Behrens geschenkt, weil sie die mich überzeugende Idee hatten, den
Codex unter die Leute zu bringen und andere dran teilhaben zu lassen.

Kommen wir noch einmal auf „Die schwarze Kreuzigung“ zu sprechen.

Man sieht den Gekreuzigten, wie er am Kreuz hängt, und außen die Schächer. Der Kopf
ist kein Portrait oder sowas. Meine Komposition der drei Gekreuzigten ist dieselbe wie die
der berühmten Rembrandt-Radierung „Die drei Kreuze“, die in der letzten Version ganz in
Schwarz endet. Unter dem Kreuz sind wie bei den alten Meistern Opfer und Leute zu sehen
– und doch ist es anders. Meine Existenz in der DDR stand für mich – gemäß Paul Gauguins
Selbstbildnis „prè du Golgotha“ – unter dem Gedanken „Nahe bei Golgota“.

Auf den Bildern des Codex Morgner sind auffällig viele große Dreiecke zu entdecken.

Das Dreieck muss meine Lieblingsform sein, weil es schon auf ganz frühen Bildern
drauf ist. Aus dem Dreieck ist bei mir der Pfeil entstanden. Das sind Urformen, die stecken
in mir drin.

Auf dem 2. Bild haben Sie das Dreieck mit dem Gekreuzigten zusammengebracht.

Da ist immer noch die Kreuzigung zu sehen. Aber ich lasse kein Blut fließen, sondern
zeige Licht. Christus ist bei mir meistens wie eine Art Lichterscheinung – ich kann das nur
so machen.

Die 6. Station trägt den Titel „Reliquie Mensch mit Zeichen KZ“.

Auf einer Fotografie lässt sich kaum erkennen, was auf dem 3 x 5 Meter großen Bild zu
sehen ist. Da ist dieses riesige K und dieses riesige gläserne Z. Und darunter die unheimlich
vielen Opfer in Form meiner geprägten Figuren, die ich durch meine Lavage-Technik
und das Abtragen von Papierschichten sichtbar mache. Das erinnert an Piranesis berühmte
„Carceri“. Ich denke, die Wirkung meiner Kunst liegt darin, dass man das erst auf den zweiten
Blick sieht.

In der vorletzten Station bringen Sie Kreuze und Pfeile zusammen.

Im Untergrund sind sechs Figuren zu sehen, darüber schwarze Kreuze, die immer lichter
werden und sich zu Pfeilen entwickeln. Bei mir steht das Kreuz für absolute Ruhe und
der Pfeil für Bewegung. Aus dem Tod entwickelt sich neues Leben. Kreuz und Pfeil verstehe
ich also nicht konstruktiv, sondern als Lebensweg. Mit Station 13 und 14 endet der „Kreuzweg
des Seins“ durchaus versöhnlich.

Ihr künstlerisches Motto „Nahe bei Golgota“ widerspricht meinem Eindruck von dem Mann, der
mir gerade gegenübersitzt.

Stimmt. Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht lebenslustig bin; im Gegenteil denken
manche, dass ich sie verulke. Ich bin wahrscheinlich durch meinen Charakter in der Lage,
die furchtbarsten Dinge in Kunst zu transformieren.

Der Codex Morgner wurde 2019 in der Berliner Gedächtniskirche präsentiert: Im Altarraum befand
sich eine riesige Leinwand, auf die die 14 Stationen projiziert wurden, jede begleitet von
Texten von Frau und Herrn Behrens sowie einer eigens komponierten Meditation des Organisten
Wolfgang Seifen. In der Kirche standen 14 Fototafeln mit den Texten. Wer hatte diese großartige
Idee?

Die Idee ist zu hundert Prozent im Kopf der Behrens entstanden, ich wusste gar nichts
davon! Plötzlich kriege ich einen Anruf mit einer Einladung – und habe das Ganze in diesem
wunderbaren blauen Gebäude mit dem goldenen Christus und drunter meine Bilder projiziert
auf einer 5 x 5 Meter großen Leinwand gesehen. Auch Professor Seifen habe ich nicht
gekannt; er muss in Premnitz gewesen sein und war so begeistert, dass er spontan Musik
geschrieben hat. Im Film über die Premiere ist zu sehen, wie der an der Orgel sitzt und eine Seite mit einem Bild von mir aufgeschlagen hat und
danach spielt. Er hat zu jedem Bild eine eigene Musik
gespielt – das hat mich wahnsinnig fasziniert.

Es ist eine große Tour des Codex Morgner geplant.

Auschwitz war geplant, hat sich aber durch die
politische Situation in Polen zerschlagen. Es soll weitergehen
nach Coventry, nach Rotterdam und zu anderen
Nagelkreuzkirchen.

Frankfurt wird im Rahmen des 3. Ökumenischen Kirchentags
eine weitere Station sein.

Frankfurt ordnet sich da sehr gut ein, weil das
ja genauso zerstört war. Außerdem ist die Frauenfriedenskirche
ein unglaublich schönes Bauwerk und
hoffentlich ein guter Ort für die Veranstaltung.