Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Deutscher Caritasverband, Foto: Jannis Chavakis

Learnings in der Krise

Die Coronapandemie und menschengemachte Krisen zeigen einmal mehr die Verletzlichkeit der globalen Schicksalsgemeinschaft. Welche Lehren lassen sich aus der Krise ziehen?

Learnings in der Krise und Learnings aus der
Krise – das beschränkt sich für die Caritas
nicht auf die Coronapandemie. Auf der Suche
nach einem geeigneten Bild, in dem sich die Erfahrungen
der Krise besonders eingeprägt haben, hatte
ich in den letzten Wochen manches Foto in der Hand:
Das Bild der Krankenpflegerin unserer Caritas-Kampagnen-
Plakatreihe zum Beispiel, in deren Gesicht
die Spuren der Schutzkleidung die tiefen Spuren der
Überarbeitung dramatisch unterstreichen.

Oder die Foto-Serie der deutsch-amerikanischen
Fotokünstlerin Barbara Probst aus dem Frühjahr
2020. Mitten in New York dokumentiert sie vor einer
Autowaschanlage, die mit 24-Stunden-Öffnungszeiten
wirbt, den völligen Stillstand des öffentlichen
Lebens auf der auto- und menschenleeren Straße in
ihrer ganzen Ver-Rückt-Heit.

Am Ende habe ich mich für die neue Briefmarke
aus der Serie »Sagenhaftes Deutschland« der Deutschen
Post entschieden, die am 7. Oktober erschienen
ist. Mit ihr will ich mein erstes Schlaglicht auf die Coronakrisengeschichte
werfen und es unter die Überschrift
»Siegfried-Syndrom« stellen.

Das Siegfried-Syndrom

Die Briefmarke zeigt Siegfried im Kampf mit dem
Drachen. Das fluoreszierende Rot des Riesentiers,
dem sich Siegfried entgegenstellt, lässt auf den ersten
Blick erahnen, dass hier Wunder zu erwarten sind. Die
Unverletzlichkeit, die Siegfried durch den Sieg über
den Drachen geschenkt ist, steht einem unmittelbar
vor Augen. Aber: Es ist, wie wir wissen, eine verletzliche
Unverletzlichkeit. Mit der Hybris, die sich aus
der nur vermeintlichen Unbesiegbarkeit ergibt, beginnt
das ganze Elend von Mord und Rache, von dem
die Nibelungensage erzählt. Ich muss gestehen, dass
mir das Nibelungenlied, als wir es in der Schule lesen
mussten, äußerst fremd war. Heute aber erscheint es
mir wie eine Parabel über die Risiken vermeintlicher
Unbesiegbarkeit – wie geschaffen, um sich an Learnings
in der Krise heranzutasten. Und es ist vielleicht
kein Zufall, dass die Post ihm ausgerechnet jetzt eine
Briefmarke widmet.

Wir leben in einer Zeit und in einer Region der Welt,
in der wir elementare Gefahren in kalkulierbare Risiken
transformiert zu haben meinen. Wir haben die
Natur im Griff – auf fast alle Herausforderungen der Menschheit eine technologi sche Antwort.
Wir haben uns die Erde untertan gemacht
und uns gegen natürliche Gefährdungen immunisiert.
So dachten wir. Die Pandemie hat
uns in dieser Gewissheit tief erschüttert.

Wir wissen inzwischen: Wir hätten besser
vorbereitet sein können. Der Bericht zur
Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012
enthielt sehr genaue Szenarien der Bedrohung
durch eine »Pandemie durch Virus Modi-
SARS« und dazu, was zur Abwehr dieser
Bedrohung zu tun sei. Offenkundig überwog
das politische Unverletzlichkeitssyndrom,
sodass der größte Teil der empfohlenen Vorkehrun
gen unterlassen wurde. Umgekehrt
waren 2020 Bereitschaft und Fähigkeit,
spontan alle Kräfte zu mobilisieren, um die
Todesgefahren des Virus zu bannen, wahrhaftig
beeindruckend groß. Den Traum der
Unverletzlichkeit wollten wir uns nicht allzu
schnell zerstören lassen!

»Wir hätten besser
vorbereitet sein können«

Eva M. Welskop-Deffaa

Wiederholte Lockdowns mit erheblicher
Gefährdung der Wirtschaft, Schulschließungen
mit erheblichen Gefährdungen für
die Entwicklung der Kinder, Abschottung
von Altenhilfeeinrichtungen mit erheblichen
Gefährdungen unserer Kultur des Abschiednehmens
und Sterbens – das alles waren »wir« bereit in Kauf zu nehmen, um die
durch das Virus verursachten Sterberaten zu
begrenzen.

Ebenso wurden die Produktion von
Schutzkleidung und die Entwicklung und
Produktion von Tests und Impfstoffen in
atemberaubender Geschwindigkeit vorangetrieben.
Wer hätte je gedacht, dass gegen
eine neue Krankheit ein neuer wirksamer
und sicherer Impfstoff weltweit in so kurzer
Zeit und in großer Menge verfügbar sein
würde? Das Virus sollte nur einmal die verletzliche
Stelle der hochzivilisierten Gesellschaft
getroffen haben, darin waren sich
Politik und Bevölkerung offenkundig einig! So schnell
wie möglich war die neue Nibelungen-Rüstung fertig.

Was nun könnte das Learning aus dieser Siegfried-
Geschichte sein? Vielleicht: Wir brauchen etwas mehr
Demut im Lichte unserer fortbestehenden Verletzlichkeit.
Der selbstbestimmte Mensch ist auch im postindustriellen
Zeitalter auf der nördlichen Halbkugel den
Gefahren der Natur weiter ganz elementar ausgesetzt.

Die Flutkatastrophe an Ahr und Erft hat diese Botschaft,
wenn man so will, noch einmal wiederholt und
zugespitzt. Die Gefahren der Natur sind omnipräsent,
unberechenbar, wahrhaftig akut. Und: Die Gefahren
der Natur sind vielerorts menschenge macht. So wie
das SARS-Virus eine Pandemie erst erzeugen konnte,
indem der Sprung vom Tier auf den Menschen in dicht
besiedelten Regionen so leicht und indem der Siegeszug
um die Welt mit Flugzeugen im touristischen und
beruflichen Pendelverkehr so einfach wurde, so konnten
die Starkregen dieses Sommers und die Hochwasser
nur in Folge eines menschengemachten Klimawandels
entstehen.

Es braucht Einsicht in die fortbestehende Verletzlichkeit,
Einsicht in die Gefährdungen, die wir mit
unserer Lebensweise für unsere Lebensweise selbst erzeugen und ebenso strategische Vorsorge, strategische
Umkehr – neben dem, was wir erkennbar schon
können: einem sowohl schnellen, als auch abwägenden
Auf-Sicht-Fahren in der Krise. Wir brauchen nicht
nur gutes Krisenmanagement, sondern größeren Respekt
vor der Krise, bessere Krisenvorsorge. Das heißt
für mich auch: Es braucht in der sozialen Daseinsvorsorge
und im Katastrophenschutz Risikopuffer – so,
wie wir sie bei der Feuerwehr für selbstverständlich
erachten. Die freie Wohlfahrtspflege sollte in diese
Vorsorge-Infrastruktur umfassend eingebunden sein.

Globale Schicksalsgemeinschaft

Eine der wichtigsten Lehren aus der Krise lautet: Wir
leben in einer globalen Schicksalsgemeinschaft. Wir
brauchen eine globale Solidargemeinschaft. Die Pandemie,
die Klimakrise und auch das Afghanistan-Drama
sind – bei aller Unterschiedlichkeit – Krisen von
internationaler Dimension und Tragweite. Ursachen
und Möglichkeiten der Krisenüberwindung liegen außerhalb
nationalstaatlicher Grenzen.

Dabei hat gerade die Coronapandemie gezeigt, wie
fragil diese Einsicht ist. 186 Länder reagierten im
Frühjahr 2020 mit restriktiven Maßnahmen an ihren
Grenzen, um die Pandemie einzudämmen. Sie schotteten
sich ab und hofften mit der Verhinderung der
Einreise Infizierter der Pandemie Herr zu werden.
»Während der Coronakrise ist die Gesundheitsfrage
wie nie zuvor mit der Grenzfrage verklammert worden
«, so Mau. »Die Grenze ist der Ort der Versicherheitlichung
schlechthin, weil hier Risiken von ‘draußen’
vor der Tür gehalten und ausgeschlossen werden
können«, so noch einmal Steffen Mau. Es zeigt sich
in den Reaktionen auf das Afghanistan-Drama, wie
sehr sich die Ab- und Ausschließungsreaktion auf
große Krisen weit über die gesundheitlichen Krisen
hinaus wiederholt. Obwohl eigentlich offensichtlich
sein sollte, dass diese krisenhaften Entwicklungen
nur international gemeinsam zu bewältigen sind.

Die Pandemie ist erst überwunden, wenn weltweit
genug Menschen geimpft sind. Eine rein nationale
Impfkampagne ist weder sinnvoll noch solidarisch.
Die Caritas fordert seit Monaten eine globale solidarische
Impfstrategie, die die WHO umfassend unterstützt
und nicht zuerst an den Interessen der europäischen
Pharmaindustrie ausgerichtet wird.

Auch die menschenrechtlichen Dramen an den
Grenzen Afghanistans, über die sich jene in Sicherheit
bringen, die von den Taliban unmittelbar bedroht
sind – weil sie mit den westlichen Kriegsparteien kollaboriert
haben, weil sie als Frauen in der Öffentlichkeit
sichtbar sein wollen, weil sie Verwandte im Westen
haben … –, auch diese Dramen können nicht von
den Nachbarstaaten Afghanistans allein bewältigt
werden! Gerade in diesen Tagen setzen wir uns als
Teil eines breiten Bündnisses dafür ein, alle Wege zu
nutzen, um in Deutschland und Europa unserer Verantwortung
für die Aufnahme der Flüchtlinge gerecht
zu werden.

Für die Caritas ist seit vielen Jahren das Miteinander
von nationaler und internationaler Solidarität
selbstverständlich. Die Gründungsidee des Deutschen
Caritasverbandes sprang noch zu Lebzeiten Lorenz
Werthmanns wie ein Funke auf andere Länder über
und mündete in der weltweiten Bewegung der Caritas
Internationalis, die unter dem 1921 in Deutschland
entworfenen Flammenkreuz als gemeinsamem
Logo nationale und internationale Liebestätigkeit
verbindet. In Deutschland versteht sich Caritas international
mit gutem Grund als Hilfswerk der Caritas
und damit als integraler Bestandteil des katholischen
Wohlfahrtsverbandes. Caritas international war es,
die unverzüglich Krisenhilfe für die Flutkatastrophe
in NRW und Rheinland-Pfalz organisieren konnte und
dabei internationale Katastrophenhilfeerfahrung mit
nationalen Netzwerkstrukturen verband. Caritas international
war es aber auch, die im ganzen letzten
Jahr kontinuierlich und konsequent die Verbreitung
der Coronakrise weltweit beobachtete und immer
wieder auf die vergessenen Dramen in den Ländern
des Südens hinwies.

»Wir brauchen etwas mehr
Demut im Lichte unserer
fortbestehenden Verletzlichkeit«

Eva M. Welskop-Deffaa
Sozial braucht digital

Die Coronakrise hat in allen Lebensbereichen zu einer
mehr oder weniger erzwungenen Dynamisierung der
Nutzung digitaler Tools geführt. Wir haben mit Zoom-
Konferenzen unseren Besprechungsalltag bewältigt
und mit Online-Beratung unsere Erreichbarkeit für
Klientinnen und Klienten gesichert. Wenn digitale Unterrichtsformate
nicht zu Beschleunigern der sozialen
Spaltung werden sollen, braucht es bei der digitalen
Ausstattung der Schülerinnen und Schüler und den
digitalen Kompetenzen der Lehrenden erhebliche Anstrengungen.
Wenn Online-Beratung datenschutzkonform
und sicher erfolgen soll, braucht es eine passgenaue
technische Infrastruktur, deren Refinanzierung
nicht dauerhaft über schmale Projektbudgets gewährleistet
werden kann. Wenn Caritas die Chancen
ebenenübergreifender Vernetzung, wie wir sie 2020
intensiv gestaltet haben, dauerhaft nutzen will, brauchen
wir eine Digitalstrategie.

Auch das Generationen-Thema ist heute als Corona-
Lerngeschichte ernsthaft wahrgenommen. Da
das Virus alte Menschen so viel früher und tödlicher
bedrohte, waren die Schutzmaßnahmen der ersten
Monate extrem auf die älteren Menschen fokussiert.
Kinder und Jugendliche standen mit ihren Bedürfnissen
freiwillig und unfreiwillig zurück, um den
Schutz ihrer Großeltern zu gewährleisten. Die Jungen
standen in der Impfreihenfolge zurück, weil zuerst
die geimpft wurden, deren Mortalitätsrisiko am
größten war. Gleichzeitig sind die Folgen des Lockdowns
– die fehlenden Begegnungen mit Gleichaltrigen,
die improvisierten Unterrichtsstunden, die
ausgefallenen Betriebspraktika, die einsamen Starts
an der Uni, der fehlende körperliche Ausgleich im
Sportverein, die ungeschützte Nähe in gewaltbelasteten
familiären Kontexten … – für die Jungen besonders
folgenschwer – mit erheblichen nachhaltigen
Lebenslaufeffekten.

Diese Generationeneffekte der Pandemie gehen
mit Geschlechtereffekten einher: Gerade junge Mütter
und Frauen in Care-Berufen haben in der Pandemie
doppelte Belastungen getragen; vor allem Frauen
mit Migrationshintergrund, Frauen mit Behinderung,
Frauen aus einkommensarmen Familien …

Wir fordern von der Politik, auf diese strukturellen
Effekte mit einer Stärkung sozialer Infrastrukturangebote
zu antworten: Beratungsangebote, Jugendhilfeeinrichtungen,
Schulsozialarbeit, Mütterkuren und
Kinder- und Jugendreha – das alles muss gesichert
und gestärkt werden.

Der dritte Typus des Dienstes

Der tschechische Religionsphilosoph Tomás Halík hat
vor wenigen Monaten bei der Vollversammlung des
Zentralkomitees der deutschen Katholiken im Angesicht
der coronabedingt leeren Kirchen an Sätze erinnert,
die Papst Franziskus am Abend vor seiner Wahl
gesagt hat: Christus steht an der Tür und klopft an. Er
klopft von innen an die Kirchentür und will hinausgehen
– und wir müssen ihm folgen.

Halík nimmt den Satz als Ermutigung, jetzt in der
Coronakrise damit ernst zu machen und die bisherigen
institutionellen und mentalen Grenzen des Christentums
zu überschreiten. Es gehe darum, einen dritten
Typus des Dienstes zu entwickeln, so Halík: die
geistliche Begleitung der Suchenden.

Für mich hat die Trauerfeier für die Flutopfer im
Aachener Dom erkennen lassen, dass wir vielleicht
tatsächlich die Kraft haben, diesen neuen Dienst zu
entwickeln. Der Ahr-Psalm von Stefan Wahl hat die
Gedenkfeier schmerzzerrissen eröffnet. »Wo warst Du
Gott, Ewiger? Hast Du uns endgültig verlassen?« Ja,
das sind die Fragen der Menschen, wenn sie die an
Corona Sterbenden begleiten, die über Wochen einen
so grausamen Erstickungstod sterben. Das sind die
Fragen der Menschen, wenn sie in Sinzig unter den
Schlammlawinen Menschen bergen, die sich aufgrund
ihrer Behinderung selbst nicht in Sicherheit bringen
konnten. Und es sind die Fragen der Menschen, die
fassungslos vor den wöchentlich neuen Informationen
über Missbrauch durch Priester und dessen Vertuschung
stehen. Die Theodizee-Frage ist mitten in
der Kirche angekommen. »Wo warst Du Gott?«

Stefan Wahls Ahr-Psalm endet mit der Erfahrung
der Caritas: »Ich schaue auf und sehe helfende Hände,
die jetzt da sind, ohne Applaus, einfach so.« Diese
Hände sind es, die den Verzweifelten schließlich sagen
lassen: »Gott unendlich fern, so will ich dennoch
hoffen auf deine Nähe an meiner Seite.«

In der Flutkatastrophe ist aber – nach meinem Eindruck
– in einer Trauerfeier, die das konkrete helfende
Tun der Katastrophenseelsorger und der Malteserhelferin
ins Zentrum stellte, in der die Frage nach dem
verschwundenen Gott so gründlich zugelassen wurde,
ein Hoffnungszeichen gelungen. Ein Learning aus der
Coronakrise vielleicht. Lassen Sie es uns gemeinsam
als Caritas bewahren. Denn wenn Kirche in der Not
nicht mehr als nah empfunden wird, ist ihr keine Zukunft
beschieden.