Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Bild V »Ich mache alles neu!« aus dem Wiesbadener Schöpfungszyklus (1989-1994) von Reinhard Daßler, Pfarrkirche »Heilige Familie« Wiesbaden

Über Wunder und Wunden des Wirklichen

Mit seinem fünfteiligen »Wiesbadener Schöpfungszyklus« schuf Reinhard Daßler ein bedeutendes Werk moderner sakraler Kunst und zugleich ein Bild der Caritas. Welche künstlerischen und religiösen Überzeugungen bilden den gedanklichen Hintergrund?

Biografisches

Reinhard Daßler wurde am 8. Juni 1933 in Elbing
(Westpreußen) geboren, floh 1945 nach Zwickau und
besuchte eine Malerschule. Von 1955 bis 1963 studierte
er an der »Akademie der bildenden Künste« in
Karlsruhe. Dort waren seine Lehrer Wilhelm Schnarrenberger
(1892-1966), ein Vertreter der »Neuen Sachlichkeit
«, der insbesondere für seine Holzschnitte
berühmte HAP Grieshaber (1909-1981) sowie Emil
Wachter (1921-2012), der viele Kirchenfenster entworfen
und die bekannte Autobahnkirche Baden-Baden
gestaltet hat. Sicherlich haben diese akademischen
Lehrer Daßlers Option für den »Realismus« bestärkt.
Zwischen 1969 und 1978 arbeitete er als Restaurator
in Kirchen und Schlössern, was sein Verständnis für
Bildwerke im (sakralen) Raum geschärft hat. Seit 1979
wohnt der Grafiker und Maler in Karlsruhe. Die meist
großen Bilder des autonomen Künstlers waren zwischen
1962 und 2019 in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen
zu sehen. Das letzte signierte Bild
Daßlers stammt von 2013, seit drei, vier Jahren hat er
das Malen aufgegeben; eine Wandarbeit für eine Kapelle
bleibt unvollendet.

Realismus

Der Terminus Realismus (von lat. realis = real, wirklich)
bezeichnet ganz allgemein »eine wirklichkeitsgetreue,
der sinnlichen Wahrnehmung verpflichtete Darstellung
der sichtbaren Welt« und wurde etwa von
der Kunst der Renaissance angestrebt. »Realismus«
als ein kunstgeschichtlicher Stilbegriff bezeichnet
eine »Gegenbewegung zur Romantik ab den 1840er
Jahren«, für die insbesondere der französische Maler
Gustave Courbet steht. Die »Neue Sachlichkeit« der
Weimarer Republik setzt sich mit ihren wirklichkeitsnahen
Sujets in altmeisterlicher Lasurtechnik von der
expressiven Malerei ab.

Mit seiner an der sinnlichen Anschauung der ihm
begegnenden Wirklichkeit orientierten Kunst steht
Daßler ganz in dieser realistischen Tradition – und
damit im Gegensatz zur (scheinbar) zeitgemäßen abstrakten
Kunst der Nachkriegszeit. In einem mit Helmut
Goettl, Klaus Langkafel und Ulrich J. Sekinger verfassten
»Manifest« aus dem Jahr 1984 bezeichnen sich die
vier Künstler als »die Unzeitgemäßen«: »Wir malen
unzeitgemäß. Handwerk im ursprünglichen Sinn ist
unsere Kunst. Die alten Meister verpflichten uns.«

Bilder von realen Menschen

Konsequenterweise malt der Karlsruher Künstler keine
idealisierten Gestalten, sondern Freunde und Bekannte,
die eigene Frau und sich selbst in verschiedenen
Lebensphasen; immer wieder sind reale Personen
der Zeitgeschichte einbezogen. Auf einem Stillleben
mit dem Titel »Waschmaschine« (2008) arrangiert er
auf dem Deckel dieser banalen Maschine alltägliche
Requisiten wie beispielsweise einige Plastiksprühflaschen,
einen kleinen Spiegel oder ein Paar Gummihandschuhe.
Die Bildkomposition und die Farbigkeit
zeigen Daßlers handwerkliches Können, das sich
exemplarisch an einem Detail – einem zerknüllten
Päckchen Papiertaschentüchern mit der Aufschrift
»Tempo« – studieren lässt. Der Maler findet Schönheit
in den einfachen Dingen des Alltags! Dennoch wäre
es falsch, seine Kunst schlicht als naturalistisch zu
charakterisieren, weil in seinen Bildern symbolische
(allegorische) Motive wie z.B. ein Tierschädel oder ein
Ei zu entdecken sind. Daßlers Realismus bewegt sich
zwischen Naturalismus und Symbolhaftigkeit.

»Daßler findet Schönheit in den
einfachen Dingen des Alltags«

Thomas Menges

In den Mittelpunkt seines Werks hat Daßler den
Menschen gestellt: »Das Portrait (Menschenbild) steht
im Zentrum meiner Arbeit.« In dem bereits zitierten
»Manifest« heißt es: »Der Mensch ist uns unersetzlich.
Wir hängen an seinem Bildnis und an seinem
Tun«, was für Daßler heißt, »den Menschen in seiner
zeitlichen und gesellschaftlichen Verflochtenheit (zu)
schildern.« Hinzu kommen die Bildgattungen Landschaft
und Stillleben, die ja einen »Teil des menschlichen
Umfeldes« bilden. »Die Darstellung«, heißt es im
»Manifest«, »spiegelt Wunder und Wunden des Wirklichen.
« Die dabei eingesetzten künstlerischen Mittel
sind kein Selbstzweck, stehen sie doch im Dienst der
Darstellung, hinter die die Künstlerpersönlichkeit
zurückzutreten hat. Die Lust moderner Kunst an der
Provokation lehnt Daßler ab.

Sein »Programm«, sich ohne ein vorgefertigtes Programm
der Ereignishaftigkeit der Wirklichkeit auszusetzen,
bedeutet, sich ihren Ambivalenzen zu stellen:
Wir streben nach Gutem – und verursachen doch Gegenteiliges;
die Technik erleichtert unser Leben – doch
die menschenbedingte Zerstörung der Welt bedroht uns. Der »unzeitgemäße« Künstler kritisiert
den verantwortungslosen Umgang mit Natur
und Mensch; im Karlsruher »Manifest«
heißt es: »Die ‚Größe‘ unseres Jahrhunderts
wird uns zu groß für die Provinz Erde. Wir
koppeln uns aus der Perfektion des Schneller,
Besser, Schöner aus.« »Die Gegensätze«,
so Daßler jüngst im Gespräch, »knallen aufeinander
« – und dieses Aufeinanderknallen
hat er ins Bild gesetzt, wobei er von ihm
selbst nicht Verstandenes aufgreift und unverbunden
nebeneinanderstehen lässt. Diese
bildinterne Offenheit autorisiert den Betrachter
geradezu, im Dialog mit dem Bild
seine eigene subjektive Deutung zu finden.

Architektur und Kunst

Als Restaurator war Daßler, so der Kunsthistoriker
Franzsepp Würtenberger, »in den
großen Räumen der Kirchen … künstlerisch
voll zu Hause.« Hier konnte er »den architektonischen
Zusammenhang von Wänden und
Decken als homogene Einheit« erleben und
»sich in gemalten Räumen … bewegen.«
Aufgrund dieser Erfahrungen ist der Künstler
davon überzeugt, dass ein Bild in die
Architektur eingebunden werden muss. Deshalb
schafft er durch zum Teil aufwändige
gemalte Rahmungen »Architekturzellen im
Bild«. Kein Wunder, dass dieser Maler etliche
Aufträge zur Ausstattung von Kirchen
erhielt (siehe Übersicht).

In einem längeren Brief (vom 20.5.1978)
zur Ikonografie der drei von ihm gemalten
Altäre in der Katholischen Pfarrkirche St.
Gallus in Hofweier thematisiert Daßler »die
Frage nach der eigenen Gläubigkeit«. Zur
»Wahrhaftigkeit der eigenen Existenz in
Bezug zu Gott« gehöre es, den »Zweifel des
heutigen Menschen« als Weg zu einer »neuen
Gläubigkeit« zu akzeptieren. Ohne jeden
Zweifel ist christlicher Glaube heute nicht
mehr zu haben, denn Glaube ist zur Option
(Hans Joas) geworden. In der Haltung eines
nachdenklichen Zweiflers blickt der Maler
aus einer der Architekturzellen auf dem V.
Bild des »Wiesbadener Schöpfungszyklus«.

Beim Gestalten sakraler Werke – sei es
ein Altar, eine Kirchendecke oder, wie im
Fall der Friedhofskapelle in Gernsbach-Staufenberg, eines ganzen Raums – habe der
Künstler die eigene Subjektivität zurückzustellen.
Ihm muss es vielmehr darum gehen,
so Daßler in dem zitierten Brief von 1978,
»die Aussagen der Bibel (zu) interpretieren«
oder, so in einem Text von 2000 zu seinem
Abendmahl-Altar in der Kirche von Niedermodern/
Elsass, »in Bildern die in der Bibel
geschilderten historischen Ereignisse aus
heutiger Sicht zu interpretieren«. Seine bildhafte
Bibelexegese, mit der er die christliche
Ikonografie aktualisiert und fortschreibt,
hat kontroverse Diskussionen in Gemeinden
und kirchlichen Behörden provoziert.

Wiesbadener Schöpfungszyklus

Auf einem gemalten Zettel des V. Bildes steht
geschrieben: »Unter Pfarrer Bruno entstand
der Wiesbadener Schöpfungszyklus 1990-
1994 von Reinhard Dassler.« Wie ist dieses
ungewöhnlich große Bildwerk in die Kirche
»Heilige Familie« gelangt?

1956 wurde die von Martin Braunstorfinger
als weite Halle entworfene Kirche konsekriert.
1988 erfolgte aus heizungstechnischen
Gründen eine gravierende Veränderung des
Raums, indem an der Nordseite die Marienkapelle
durch eine Metallständerwand vom
übrigen Kirchenraum abgetrennt wurde.
Unter Karl W. Bruno (1926-2007), der von
1985 bis zu seiner Pensionierung 1994 Pfarrer
in der Wiesbadener Gemeinde war, entstand
die Idee, die Trennwand mit einem
Bilderzyklus zu versehen. Im Zentrum sollte
das bereits in den 1980er Jahren drängende,
heute die politische Agenda bestimmende
Thema der Gefährdung der Schöpfung
stehen, wobei Flora und Fauna eigens berücksichtigt
werden sollten. Nach einem begrenzten
Wettbewerb erhielt Daßler im Januar
1990 den Auftrag. Der »Wiesbadener
Schöpfungszyklus« wurde am 6. März 1994
feierlich eingeweiht – und hat wegen seiner
Aktualisierung auch Anstoß erregt.

Die fünf Bilder haben folgende Themen:
I. Das Bild von der Schöpfung, II. Sintflut,
Untergang und Neubeginn, III. Die Menschwerdung
Christi, IV. Jesus stirbt in Wiesbaden und V. Ich mache alles neu! Der Zyklus ist überaus
erzählfreudig, die gemalten Personen sind reale Menschen
aus dem Bekanntenkreis des Malers, die bereit
waren, ihm Modell zu stehen. Und hinter dem Gekreuzigten
auf Bild IV. ist ein Straßenzug von Wiesbaden
mit Marktkirche zu identifizieren. Die Maße der Bilder
I. bis IV. sind 3,30 x 5,16 Meter, das die Nordwand des
Altarraumes ausfüllende V. Bild ist 4,83 x 6,73 Meter
groß; die bemalte Fläche beträgt 121 Quadratmeter.
Das gesamte Werk entstand in Karlsruhe im Atelier
Daßlers und wurde mit Acryl auf Leinwand gemalt.
Die Bilder wurden in kluger Voraussicht derart auf
die Wände geklebt, dass sie wieder abgelöst und anderswo
angebracht werden können. Dieses Problem
stellt sich für den Fall eines Verkaufs der Kirche. Betrachten
wir mit Blick auf die Thematik »Caritas« genauer
das V. Bild.

Ich mache alles neu!

Blau, die Farbe des Himmels, ist die alles dominierende
Farbe des V. Bildes. Es ist symmetrisch aufgebaut:
Je sieben Architekturzellen auf der linken und rechten
Seite flankieren das große, mittlere Bild. Es zeigt
Daßler als ein Meister der Bildstaffelung.

Der aus der Johannes-Offenbarung Joh 21,5 entlehnte
Bildtitel »Ich mache alles neu« legt ein eschatologisches
Verständnis nahe: Die
Mitte des gesamten Bildes bildet
der auferstandene Christus. Von
der hageren Gestalt (ohne Seitenwunde)
ist der Oberkörper bis
zum Lendentuch zu sehen; an den
herabhängenden Händen sind die
Wundmale deutlich erkennbar. Der Auferstandene
befindet sich vor einer roten, mit blauen Elementen
durchsetzen Phantasiearchitektur mit seitlich vier
rechteckigen Kästen, aus denen Wasser quillt; auf deren
oberem Rand stehen die Namen der vier Paradiesflüsse
(Gen 2,11-14). Die stigmatisierten Hände Christi
weisen auf den sich unter ihm befindenden Altar mit
Christusmonogramm, auf dem ein gebrochenes Brot
liegt und ein Glas mit rotem Wein steht. Die Aussage
ist offensichtlich: In Brot und Wein ist der auferweckte
Christus gegenwärtig.

Hinter Altar und Christus ragt ein oben abgesägter
Baumstamm ins Bild, dessen Äste wieder ausschlagen
und auf denen Vögel sitzen. Dieser Baum ist ein
Symbol für den Tod am Kreuz und das mit der Auferstehung
von Gott geschenkte neue Leben; doch
macht das Wunder der Auferstehung die Wunde des Todes nicht ungeschehen. Hinter dem Kreuzesbaum
kommt eine liebliche Landschaft
mit Bäumen und Bergen in den Blick. Die
Wirklichkeit ist eine andere geworden, denn
Kultur – symbolisiert durch die Architektur
– und Natur sind wieder versöhnt.

»Daßlers endzeitliche Vision fügt
sich unter dem Leitstern der Caritas,
der Nächstenliebe, zusammen«

Thomas Menges

Vor dem Altar steht links eine schwangere
Frau, rechts vor einer Sonnenblume eine
Frau mit einer Kiste Früchte im Arm. Im
Bildvordergrund ist eine Szene zu sehen, die
sich auf das Patronat der Kirche »Heilige Familie
« bezieht: Zu sehen ist eine junge Mutter,
die ihr kleines Kind stützt, das auf einem
Balken balancierend von den ausgestreckten
Armen seines Vaters erwartet wird. Der sitzt
auf dem Balken – und es hat den Anschein,
dass sein linkes Bein in den Altarraum hineinragt.
Die beiden Frauen und die Familie
repräsentieren die intakte, lebengebende
Schöpfung.

In jeder Architekturzelle befindet sich gemasertes
Holz und im Hauptbild zeichnet
sich ein Gebäude mit Dachstuhl und unterschiedlichen
Räumen ab. Ist hier gerade eine
neue Kirche im Entstehen? Auf den Dachbalken
haben die unterschiedlichsten Vögel
Platz genommen. Ganz oben im Gebälk ist
ein Dreieck errichtet, das als ein Verweis auf
den trinitarischen Gott verstanden werden
kann. In den beiden Feldern rechts und links
daneben befindet sich ein von Vögeln aufgesuchtes
hölzernes Alpha und Omega, was
auf Gott als den Herrn der Zeit verweist.

Diese neue Kirche zeigt keine gleichgeschalteten
Menschen. In einer Architekturzelle
kauert ein sinnierendes Mädchen mit
einer kräftig roten Handtasche. Darunter
ist in Rückenansicht ein junger Mann zu sehen,
dessen Blick sich vom Auferstandenen
abwendet. Ihm gegenüber weist ein älterer
Mann mit aufgeschlagenem Buch mit seiner
rechten Hand auf Christus, wobei die beiden
ausgestreckten Finger an Johannes den Täufer auf dem Isenheimer Altar erinnern; hinter dem
zeitgenössischen Johannes schaut der grüblerische
bärtige Künstler aus seinem Bild heraus. In diesem
Hause Gottes gibt offenbar genügend Wohnungen –
für gläubige und nicht ganz so gläubige, für suchende
und zweifelnde Menschen!

Auf dem schon erwähnten Blatt in der Zelle neben
dem Vater steht weiter: »Im Chor: St. Franziskus /
Mutter Theresa / die vier Jahreszeiten und / die vier
Elemente / von / Hansjörg Eder«. Es ist der ehemalige,
1956 geborene Schüler Daßlers, der links Franziskus
gemalt hat, der den Tieren predigt, und rechts Mutter
Theresa, die Hilfsbedürftigen beisteht. Diese beiden
Heiligen verkörpern grundsätzliche Eigenschaften in
Daßlers Kirchenvision: die Versöhnung mit der Natur
und die Caritas, die insbesondere den Bedürftigen
gilt. In den vier äußeren Zellen sind oben links
Luft und rechts Feuer, unten links Wasser und rechts
Erde verbunden mit Allegorien der Jahreszeiten dargestellt;
eine solche Welt ist nicht Chaos, vielmehr
sinnvoll geordnete Schöpfung Gottes.

In Daßlers endzeitlicher Vision knallen die Gegensätze
nicht länger unvermittelt aufeinander, sondern
fügen sich zu einem differenzierten Ganzen, das – wie
die Familienszene verdeutlicht – unter dem Leitstern
der Caritas, der Nächstenliebe, zusammengehalten
wird. Zu Beginn der 2020er Jahre ist diese Vision angesichts
von menschengemachten Klimawandel und
einer in sich zerrissenen Kirche von abnehmender gesellschaftlicher
Bedeutung aktueller denn je.