#VonHierNachJerusalem
Mit ihrer Wanderharfe auf dem Rücken machte sich Anja Bakker 2022 auf den Weg von Irland nach Jerusalem – zu Fuß. 15 Monate ist sie unterwegs. 2010 war die 55-Jährige bereits auf diese Weise nach Santiago de Compostela und 2018 nach Rom gepilgert.
ast eineinhalb Jahre lang war sie für mich der
Punkt auf der Landkarte in meinem Handy.
Langsam, so langsam rückte er vorwärts. Am
2. April 2022 ging es los; in Irland war es noch kühl
und feucht. »Zum Einlaufen, weil der Rucksack sich
noch so schwer anfühlt,« lief Anja an diesem Tag nur
die 15 Kilometer von ihrem Heimatort Clonakilty an
der irischen Südküste landeinwärts nach Ballygurteen.
Mit dem Auto fährt sich die Strecke in 13 Minuten.
Mit der Zeit verlangsamte sich auch mein Blick auf
mein Handy, wenn ich ihr folgte: Nach 39 Tagen hatte
sie Irland durchquert und erreichte Dublin. Dann
kamen Wales, England, die Niederlande. Nach 82 Tagen
erreichte sie Amsterdam, die Stadt, in der sie aufgewachsen
war. Nach 101 Tagen überquerte sie nahe
Nijmegen die Grenze nach Deutschland.
Mehr als 394 Wandertage sollten es werden. Dazwischen
lagen noch Österreich, die Slowakei, Ungarn,
Serbien, Bulgarien, die Türkei und Griechenland. Dazwischen
lagen auch Sommer, Herbst, Winter, dann wieder Frühling und Sommer. Und dazwischen lagen
Straßen, Fußwege, Trampelpfade, Flachland, Berge
und Flusstäler. Regen, Schnee und Sonne. Kälte und
Hitze bis knapp 40 Grad Celsius. Und immer auf ihrem
Rücken Sean, ihre Harfe, und in der Hand Jerry,
ihr Wanderstab. Insgesamt 23 Kilogramm Gepäck.
Von hinten sieht Anja mit ihrem sperrigen Rucksack
aus wie ein kleiner Schrank, der sich auf zwei dünnen
Beinen fortbewegt.
»The old Irish harper, he comes to me. He takes my hand, we walk by the sea …«
Auf meinem Handy war sie der kleine Punkt, den ich
begleitete. Auf ihrem YouTube-Kanal »The Flauting
Harper« – #FromHereToJerusalem – folgten ihr Hunderte
von Menschen. Nahezu täglich postete sie dort
ihre Updates. »Good morning, good morning«, fingen
sie meist munter an, stets unterlegt von ihrem Gesang
zur Harfe: Den Folksong »The Old Irish Harper« komponierte sie, als sie zwischen Dublin und der irischen
Hafenstadt Bray unterwegs war. Das Lied, so sagt sie,
sollte ein Echo nicht nur ihrer Pilgerschaft sein; es
sollte auch an Irlands wohl berühmtestem Harfenspieler,
Turlough O‘Carolan (1670-1738) erinnern, der
als blinder Harfenist 50 Jahre lang Irland durchwanderte.
In ihren You-Tube-Posts strahlt sie eine gewisse
Unverwüstbarkeit aus, doch dort zu posten fiel ihr
nicht immer leicht – und ihre Berichte erzählten auch
nicht alles. Wie geht es ihr wirklich, fragte ich mich
manchmal. Kann der Voyeurismus der sozialen Medien,
der immer alles teilen und an allem teilhaben
will, überhaupt nachvollziehen, was sie da tut? Kann
ich sie wirklich verstehen und nachempfinden, was es
heißt, so unterwegs zu sein?
Anja lacht, als ich sie danach frage, – und wird
dann ernst: »Ich habe immer gesagt, dass Pilgern an
sich eigentlich völlig sinnlos ist. Man bewegt sich ja
einfach nur. Aber natürlich steckt viel mehr dahinter.«
»Pilgern ist zugleich total einsam – in gewisser
Weise sogar sehr egozentrisch – und total gesellig,«
erzählt sie. »Du bist den ganzen Tag mit Dir selbst
unterwegs: Du musst Deinen Rhythmus finden, auf
Deinen Körper hören, es ist Deine Geschichte, die Dich
auf den Weg gebracht hat«, erklärt sie. »Und gleichzeitig
teilst Du Dich ständig mit anderen, weil Du ja auf
sie angewiesen bist.«
«…The old Irish harper, he comes my way. We walk together, from Dublin to Bray …”
Wenn Anja morgens loslief, wusste sie oft noch nicht,
wo sie abends übernachten würde. Mit einer Crowdfunding-
Kampagne hatte sie – zusätzlich zu ihren
eigenen Ersparnissen – knapp 1.500 Euro an Unterstützung
eingesammelt, doch dieses Budget sollte ihr
vor allem für Notfälle und Unterkünfte in den kalten
Jahreszeiten dienen. Die Liste ihrer Quartiere reichte
schließlich von Couchsurfing über Klöster und religiöse Gemeinschaften, Freunde, Freunde von Freunden
und Freunde von Freunden von Freunden, Gastgeber,
die sie an Bekannte entlang der Strecke weiterempfahlen,
Schulen- und Gemeinderäume, sowie ab und zu ein
Hostel, eine Pension oder ein Fremdenzimmer. »Und
wenn es warm – und sicher – genug war, habe ich meist
draußen übernachtet.« Mit im Gepäck hatte sie dazu ein
leichtes Zelt und später im Sommer eine Hängematte.
Manchmal artete ihre Suche nach einer Unterkunft
auch in Verzweiflung aus, vor allem in den kalten Wintermonaten
2022/23: »Ich habe jetzt alle Bürgermeister
und Pfarrer auf der Strecke angemailt und noch
nichts gehört…«, klang sie ab und zu durchs Telefon,
als sie zu der Zeit in Südosteuropa unterwegs war.
»Ungarn war hart«, erinnert sie sich: »Da gab es weniger
religiöse Gemeinschaften und die Urlaubs- und
Pilgersaison war ab November vorbei. Es war einfach
alles zu, und es war kalt.« Eine bittere Erkenntnis
zu dieser Zeit ist auch: »Wenn Du Dich entlang der
Flüchtlingsroute bewegst und als Fremder zu Fuß
und mit Rucksack unterwegs bist, dann ist die Gastfreundschaft
Dir gegenüber geringer …«
«… He says, lift your feet, for that’s what we need. We need dance, we need song, so keep playing strong …”
«Aber ich habe natürlich eine Harfe und das hilft«,
schiebt sie dann lachend nach. Immer und immer
wieder übernachtete Anja bei Menschen, die sie traf,
wenn sie auf Marktplätzen, in Kirchenräumen, Cafés,
Kneipen oder wo auch immer ihre 26-saitige, keltische
Wanderharfe der Manufaktur Dusty Springs aus Seattle
auspackte. Anjas Repertoire – sie hat neben Harfe
auch Gesang und Blockflöte an der Universität Cork in
Irland studiert – umfasst Jazz, Blues, Mittelalter- und
Renaissance-Musik sowie levantinische und keltische
Volksmusik. Unterwegs jedoch waren es meist Balladen,
irische und südamerikanische Folkmusik sowie
eigene Kompositionen und Improvisationen, die sie spielte. An so manchem Ort folgten auf das Spiel am
Wegesrand spontane Kammerkonzerte – in privaten
Runden, oft auch in Kirchengemeinden.
»Musik schafft einen sicheren Raum: Sie bringt
Menschen zusammen«, sagt Anja. »Da entsteht plötzlich
ein Raum, in dem die Menschen ihre eigenen
Träume und Sorgen ausbreiten und Dir mitgeben.«
Für einen Moment ist sie still. »Du wirst dann wirklich
der bardische Harfenspieler«, sagt sie dann und
erinnert an die keltischen Spielleute, die bis in die
frühe Neuzeit in Irland, Schottland und Wales durch
Gemeinden und Adelshöfe zogen und mit ihren Liedern
und ihrer Musik Geschichten, Nachrichten und
Legenden weitergaben.
«… That’s your gift, so that’s how you must live. That’s how it must be. It will set a soul free …”
Häufig, so erzählt Anja, hätten Menschen ihr unterwegs
kleine Dinge auf ihre Reise mitgegeben – ob religiöse
Andenken oder persönliche Souvenirs. Und dann
sprudeln zahllose Geschichten von Begegnungen am
Wegesrand aus ihr hervor. Zuweilen hören sie sich
an wie eine Kette wundersamer Fügungen, die schon
kurz nach ihrem Aufbruch begann und sich über die
vielen Hundert Kilometer fortspann.
Ihren Wanderstab etwa erhielt sie als Geschenk von
einem langjährigen Pilgerfreund, wie sie in ihrem Update
»Wandertag 34« auf YouTube berichtet. Sein Anruf
kam, als sie schon unterwegs war. Er traf sie schließlich
an einer Flussschleuse des Barrow irgendwo bei
Carlow. Der Wanderstab aus Haselnussholz, den er
ihr überreichte, war verziert mit einer versilberten Jakobsmuschel,
die in der 900 Jahre alten Holy Cross Abtei
im irischen Tipperary geweiht worden war. Ebenfalls
in den Schaft eingesetzt war ein Stück Holz aus
der »Naomh Gobnaitin (Saint Gobnait)«, einem traditionellen
irischen Curragh-Ruderboot. Mit diesem knapp
acht Meter langen, selbstgebauten Holzboot waren
fünf irische Künstler – ein Dichter, ein Maler und drei
Musiker, allesamt erfahrene Bootsleute – zwischen
2014 und 2016 von Dublin über 2.500 Kilometer weit
bis nach Spanien gerudert; abschließend hatten sie ihr
Boot noch 80 Kilometer weit über Land nach Santiago
de Compostela getragen. Tragischerweise gerieten die
Männer später auf der Rückreise vor der Küste Nordspaniens
in einen Sturm, den Danny Sheehy, der Skipper,
nicht überlebte. Unter dem Titel »Camino Voyage«
entstand 2017 ein preisgekrönter Dokumentarfilm über
die Bootspilger und ihre tragische Heimreise.
”… The old Irish harper, he comes to me. He takes my hand. He says, we are free …”
Fast 4.000 Kilometer sollte der Pilgerstab mit der Erinnerung
an die »Camino Voyage« Anja auf ihrer Wanderung
in Richtung Jerusalem begleiten. Doch zunächst
traf sie selbst ein Schicksalsschlag. Wandertag
145, 25. August 2022: Anja hatte gerade einige Tage in
Frankfurt »bei Freunden von Freunden von Freunden«
verbracht, als sie in Aschaffenburg von ihrem Bruder
die Nachricht erhält, dass ihre Mutter im Sterben
liegt. Sie lässt ihre Harfe in Deutschland und fliegt
nach Hause.
Zwei Wochen später geht ihr Videoblog weiter. »Ich
brauche das Laufen, um hiermit klarzukommen; ich
fühle mich unterwegs innerlich sicherer«, erzählt sie
mir, als ich sie spontan im Kloster Triefenstein im
Spessart treffe. Dort wird sie von der evangelischen
Christusträger-Bruderschaft beherbergt, die in dem
ehemaligen Augustiner-Chorherren-Stift ihren Sitz
hat. Draußen sind es glühende 36 Grad Celsius. Wir
sitzen auf der Treppe im Garten der barocken Klosteranlage
und rauchen. Am nächsten Morgen besuchen
wir gemeinsam das Morgengebet. Anja läuft weiter.
»Pilgern heißt, dass Du weitergehst, ob Dir der Weg
klar ist oder nicht«, erklärt sie mir.
”… The old Irish harper, he comes to me. He holds my hand, as we walk into Bray …”
Am 1. Januar 2023, Wandertag 255, überquert Anja
ihre siebte Grenze, diesmal von Ungarn nach Serbien.
Das heißt für sie auch: Keine EU-Sim-Karte mehr, zunehmend
Polizeikontrollen. Endlos zieht sich der Winter
hin, habe ich manchmal den Eindruck, wenn ich
mit ihr telefoniere. Wenn ich auf den kleinen Punkt auf
meinem Handy schaue, kann ich mir kaum vorstellen,
dass sie bereits quer durch Europa gelaufen ist.
Ihre Videoblogs sind oft nachdenklich – und voller
kleiner Freuden: Ein leckeres Frühstück. Neue Gerichte.
Ein Rosenkranz, den ihr jemand geschenkt hat. Ein
schönes Gespräch, mit oder ohne Worte. Immer wieder
sind es von nun an alte Frauen, die sie in kleinen
Dörfern und Orten zum Essen einladen. »Und stell Dir
vor: Ich kann mich vollfuttern und Bier trinken und
nehme nicht zu!«
Anja erzählt begeistert davon, nun auf der alten
»Via Militaris«, der antiken Heerstraße zwischen Belgrad
und Kleinasien unterwegs zu sein. Sie entdeckt
die Gastfreundschaft der orthodoxen Kirche. Immer öfter taucht nun das Pilgerschild »Jerusalem Way« am
Wegesrand auf. Und auch das Wetter wird langsam
wieder besser.
Am 18.05.2023 – Wandertag 381 in ihrem You-Tube-
Blog – setzt sie von Gelibolu (Gallipoli) über die
Dardanellen über und erreicht Asien. Fünf Wandertage
später ruft sie mich per WhatsApp an, fast trunken
vor Ehrfurcht und Begeisterung. Sie ist in Tevfikiye,
einem kleinen Dorf nahe Canakkale angekommen.
Und direkt neben dem Dorf liegt das antike Troja, der
mythische Ort von Homers Ilias und den griechischrömischen
Sagen, die wir beide als Schülerinnen verschlungen
haben. »The Old Irish Harper« erklingt an
diesem Tag zwischen jahrtausendealten Steinmauern
– und ich bin einfach nur glücklich, dass sie dies mit
mir teilt.
Jerusalem scheint näher zu rücken – und zugleich
ferner. Am 6. Februar 2023 hat ein verheerendes Erdbeben
die Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien
verwüstet und mehr als 60.000 Menschen getötet.
Laut Schätzung des Entwicklungsprogramms der
Vereinten Nationen (UNDP) haben fast vier Millionen
Menschen in den beiden Ländern ihr Zuhause verloren.
Es ist auch die Region, durch die Anja muss, wenn
sie nach Jerusalem weiterwill.
Anja zweifelt. Auch die Hitze macht ihr zu schaffen.
Ihre rechte Hand ist verstaucht und sie kann die Riemen
ihres Rucksacks kaum halten. Immer öfter legt
sie jetzt Pausen zwischen ihren Wandertagen ein. Es
geht ihr nicht gut. Es falle ihr immer schwerer, Entscheidungen
zu treffen, erzählt sie mir. Das Pilger-Update
»Wandertag 393« aus Assos ist das letzte, das sie
auf ihrem You-Tube-Kanal hochlädt, auch wenn sie
noch drei Wochen bis Ephesos an der südlichen Ägäis-
Küste weiterläuft. Ihre Follower auf YouTube fragen:
»Wo ist Anja?«
«… He shows me the stars, the sun and the moon. He says, don’t fret, we meet again soon. …”
Sie ist in Griechenland. Der Punkt auf meinem Smartphone
ist auf Rhodos gelandet, wo Anja sich erst einmal
erholt. Wir überlegen: Von Rhodos aus per Schiff
nach Jerusalem? Eine Bekannte will ihr ein Flugticket
nach Israel spendieren. Aber das ist nicht Anja.
Sie setzt schließlich nach Italien über und nimmt
eine Reihe von Überlandbussen zurück nach Irland.
Die Strecke, für die sie zu Fuß 15 Monate gebraucht
hat, überwindet sie nun in drei Tagen. »Pilgern heißt,
sich einzulassen auf den Weg, der kommt«, sagt sie, »und im Moment ist er noch nicht gekommen.«
Angesichts der neuen Gewalt im Nahen
Osten seit dem 7. Oktober 2023 ist sie heute
froh, dass sie ihre Pilgerwanderung unterbrochen
hat. »Zu Ende ist sie noch nicht«,
sagt sie. Sie will von genau der Stelle aus
weiterlaufen, an der sie Halt gemacht hat.
»Ich bin noch auf Pilgerschaft«, erklärt sie
und ergänzt. »This is pilgrims’ grace. Der Segen
der Pilger: Es liegt in Gottes Hand. Der
Weg wird sich öffnen.«
Zur Person
Eva-Maria McCormack
ist seit 25 Jahren
mit Anja Bakker befreundet. Sie arbeitete als
Journalistin unter anderem für den SWR, die
BBC, die irische RTÉ und die Deutsche Presse
Agentur dpa. Zuletzt war sie Geschäftsführerin
für strategische Kommunikation bei der
European Climate Foundation (ECF) und der
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik
(DGAP). Seit 2022 leitet sie die von ihr gegründete
gemeinnützige Organisation »Talking
Hope gUG«.