Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Illustration: © Jedi Noordegraaf / Psalm 131: Geborgenheit in Gott

Unterwegs sein. Von den Erfahrungen des Pilgerns

Von den Erfahrungen des Pilgerns

Pilger

»Und weiter gehn die Tage,
Sie werden schnelle alt;
Vielleicht kommt schon der letzte bald,
Indes ich steh und frage.

Sie sind mit mir gegangen
Wie Brüder Hand in Hand,
Sie trieb und mich von Land zu Land
Dasselbe Heimverlangen.«

Hermann Hesse

Wege und Umwege. Unterwegs zum Tod

Menschen sind, solange sie leben, unterwegs, auf dem
Weg, in Bewegung. Mensch zu sein, bedeutet, Mensch
zu werden. Nie ist man schon der, der man sein kann
oder sein soll. Solange man lebt, kann man Möglichkeiten
verwirklichen. Man muss es sogar. Der Aufgabe,
sich auf die Fahrt zu begeben und neue Erfahrungen zu
machen, kann man nicht entgehen. Gar keine weitere
Möglichkeit zu ergreifen, wäre nichts anders als genau
dies: eine Möglichkeit zu verwirklichen. Mit anderen
Menschen lebt man daher nie in einer ein für alle Mal
gültigen Weise zusammen. Beziehungen zu anderen
Menschen verändern sich immer wieder, ob zum Besseren
oder zum Schlechteren. Ähnlich verhält es sich
mit dem Verhältnis, das man zur Natur hat. Auch dieses
wandelt sich immer wieder, ist in fortwährendem
Fluss. Man kann auf einer Wanderung plötzlich eine
tiefe Einheit mit der Natur verspüren. Trotzdem kann die Natur einem auch, wenn man sie länger betrachtet
oder sich in ihr für mehrere Tage aufhält, wieder zutiefst
fremd werden. In ihr gibt es nämlich auch Leid,
Ungeordnetes, Wildes, das unverstanden bleibt und erschrecken
kann. Wer sich der Natur hingegen rein wissenschaftlich
nähert, kann immer mehr erklären, ohne
je mit seinen Erklärungen an ein Ende zu gelangen. Jeder
Erklärungsversuch führt zu neuen Fragen. Es gibt
immer mehr zu erkunden und zu erforschen. Nie kann
man stillstehen und Halt machen. Und wenn Menschen
an Gott glauben, werden sie eine ähnliche Beweglichkeit
auch in ihrer Gottesbeziehung finden: Diese verändert
sich immer wieder und ist mal intensiver, mal
schwächer, mal ganz sicher, mal nahezu zerbrochen.

Menschliches Leben ist daher ein kontinuierliches
Bewegtsein: auf sich selbst und die Möglichkeiten der
eigenen Existenz hin, anderen Menschen entgegen, in
der Natur und auf die natürliche Umwelt zu und auch
Gott entgegen. Weil das so ist, gerade weil Menschen
sich bewegen und auf diese Weise in den verschiedenen
Welten, in denen sie leben, sich einrichten und
Heimat finden, können sie sich auch von sich selbst,
anderen Menschen oder der Natur wegbewegen. Das
Vertraute kann fremd werden; das Nahe in die Ferne
rücken; der lichte und offene Horizont sich radikal verdunkeln;
die Lebensziele können fraglich werden. Der
Mensch kann sich sogar – im Extremfall – derart in
sich selbst verschließen, dass er unbeweglich wird und
in dieser Starrheit auch sein eigenes Leben mit seinen
vielen Möglichkeiten verfehlt. Wer derart erstarrt lebt,
nicht(s) mehr wird, ist innerlich tot. Nichts feuert ihn
mehr an. Er ist ausgebrannt, ermattet, erschöpft. Kein Leben ist mehr in ihm. Mitten im Leben lebt er, als sei
er schon gestorben. Der Tod – als Stillstand, als Ende
jeder Beweglichkeit, als Schlusspunkt der Erfahrungen
– zeigt manchmal daher schon im Leben eine unheimliche
Präsenz.

Dabei spielt der Tod, das Ende jeder Lebensbewegung,
ansonsten nicht etwa keine, sondern eine zentrale
Rolle: als jenes Lebensziel, auf das alle Menschen
sich in allem, was sie tun, hinbewegen: als leibliche
Wesen, als lebende »Leiber«, die sich fortwährend verändern,
die entstehen, wachsen, »blühen« und schließlich
schwächer werden, vergehen und sterben. Menschliches
Leben ist nämlich endlich. Jeder Bewegung ist
der Tod als Ziel des irdischen Lebens eingeschrieben.
Nicht an jedem Tag denkt man daran, dass die eigenen
Tage gezählt sind. Das muss man auch nicht. Doch
kann gelegentlich das Wissen um den Tod einem bewusst
werden oder ganz plötzlich, unvorhergesehen,
mit gewaltiger Kraft ins Leben einbrechen. Ein Freund,
so hört man, sei in der Blüte seines Lebens gestorben.
Am Abend sei es ihm noch gut gegangen. In der Nacht
habe er einen tödlichen Herzinfarkt erlitten. Das Leben,
so zeigt sich dann, hängt an einem seidenen Faden.
Ein Unglück, eine kleine Unachtsamkeit, ein böser
Wink des Schicksals kann dem Leben des Menschen
jederzeit ein Ende bereiten.

Alles, was lebt, muss sterben. Nicht nur Menschen.
Aber Menschen müssen sich zu ihrem Tod, dazu, dass
sie sterben werden, irgendwie verhalten. Das ist zunächst
keine abstrakte, theoretische Angelegenheit.
Es geht um das eigene Leben, um konkrete, praktische
Fragen: Was bedeutet es, dass ich sterben muss? Wie
kann ich einen eigenen Tod sterben? Wie könnte es gelingen,
gut zu sterben? Was bedeutet es, dass ein anderer,
ein geliebter Mensch sterben muss? Wie kann
dieser Mensch gut sterben? Was könnte das überhaupt
bedeuten? Die Frage nach dem guten Sterben lässt sich
allerdings von der Frage nach dem guten Leben nicht
trennen. Sterben ist ein Moment des Lebens. Und umgekehrt
bedeutet zu leben in all seinen Bewegungen immer
schon zu sterben. Wer gut zu leben versucht, kann
daher vielleicht auch gut sterben. Und wer zu sterben
weiß, sich auf den Tod gut vorbereitet, kann vielleicht
auch deshalb ein gutes Leben führen. Das Nachdenken
über den Tod als Ziel des Lebens führt daher zurück
zur Frage nach dem Leben, nach dem Unterwegssein
und der eigenen Zukunft: Wie kann man gut unterwegs
sein? Wie verhält man sich an Wegscheiden? Welche
Wege sollte man begehen? Welche sollte man meiden?
Woran kann man sich orientieren? Was kann man tun, wenn man sich auf Ab- oder Irrwegen findet?
Und könnten sich die Umwege nicht manchmal
als die eigentlichen Wege zeigen?

Die Grenze des Todes liegt vor einem. Hinter
einem liegt die Grenze der Geburt. Doch
bleibt auch diese Grenze im Leben von Bedeutung.
Sie ist nicht passé. Denn Menschen
stehen nicht einfach in der Zeit wie ein Ding,
das einmal hergestellt wurde, dann genutzt
wird und irgendwann zerfallen wird. Das
haben schon die Überlegungen zum Sterben
und zum Tod gezeigt. Sie leben in einer eigenen
Weise der Bewegung, nicht nur in der
Zeit, als sei diese ein äußerlicher Rahmen,
sondern als zuinnerst bewegliche, als zeitliche
Wesen. Sie werden die Vergangenheit, die
ihre je eigene Vergangenheit ist, daher nicht
los. Sie können und müssen sich auch zu ihr
in ein Verhältnis setzen. Das ist konstitutiv
für die eigene Identität. Aus diesem Grund
beantwortet man die Frage, wer man sei, zumeist
damit, dass man erläutert, wie man der
geworden ist, der man ist, und wer man vor
dem Hintergrund der eigenen Geschichte sein
und werden will. Menschen tauschen daher
gerne Erinnerungen aus. Jede Geburtstagsfeier
zeigt das eindrücklich. Oder sie sammeln
um sich herum kleine private Denkmäler
ihrer Vergangenheit: Mitbringsel aus dem
Urlaub, Erbstücke, Fotos, Bücher und so vieles
andere, das oft keinen materiellen, aber
einen unschätzbaren Erinnerungswert hat.
Dies sind Zeugnisse des eigenen Unterwegsseins,
Zeichen der menschlichen Geschichte
und Geschichtlichkeit, die es auch im gesellschaftlichen,
kulturellen oder religiösen Bereich
in unüberschaubarer Zahl gibt.

Als jene Wesen, die in einer besonderen
Weise auf dem Wege, unterwegs sind, können
Menschen sich auch auf eine Wallfahrt
begeben. Wallfahrt kommt von »wallen«. Das
bedeutet: wandern, umherziehen, unterwegs
sein. Insofern geschieht auf einer Wallfahrt
das, was das Leben ohnehin ausmacht. Aber
vielleicht geschieht es in einer besonderen,
einer verdichteten oder ungewöhnlich eindringlichen
Weise. Könnte es daher sein, dass,
wer wallfährt, in besonderer Weise Mensch
ist? Und dass man vielleicht, wenn Menschen
besonders intensiv unterwegs sind, auch von einer Wallfahrt sprechen kann? Dass es also nicht nur
religiöse Wallfahrten gibt, sondern auch ganz andere
wallfahrende Momente oder Phasen des verdichteten,
außerordentlich beweglichen und bewegenden Lebens?

Abstand und Wandel. Unterwegs zur Hoffnung

Es gibt viele Formen überlieferter Frömmigkeit, die
heute seltsam und fremd erscheinen. Die Geschichte
des religiösen Lebens ist voller Skurrilitäten. Auch
diese Geschichte ist immer in Bewegung: Während das
eine verblasst, entwickelt sich etwas Neues. Auch die
Frömmigkeit ist Moden und Trends und manchmal
geistlosen Innovationen und problematischen Restaurationen
unterworfen. Doch zeigen sich auch manche
Konstanten, die über Zeiten hinweg Menschen ansprechen
können. Dazu gehört das Pilgern. Es spricht nicht
nur über Zeiten, sondern auch über religiöse Differenzen
hinweg Menschen an. Muslime wie Mouhanad
Khorchide können sich auf den Jakobsweg begeben.
Man muss noch nicht einmal besonders religiös sein,
um zu pilgern. Auf Pilgerfahrten treffen sich alle: die
ganz Frommen, die »Mitläufer« und Pilger aus Gewohnheit
oder Tradition und die, die suchen, neugierig
sind, zweifeln oder Antworten auf ihre großen Fragen
suchen. Pilger gibt es auch in nicht-religiösem Gewande.
Die großen politischen Ideologien oder kulturellen
Bewegungen kannten und kennen auch ihre Pilgerfahrten
zu Geburtshäusern, Gräbern und Denkmälern. Wer
ein Fan ist, macht sich auch oft auf den Weg, um seinem
Idol oder Star nahe zu kommen. Jedes Jahr fahren
Tausende nach Bayreuth, um Wagners Opern zu hören
– auf einer »Pilgerfahrt ins Ich«.

Katholiken pilgern nach Rom oder nach Jerusalem,
nach Santiago de Compostela oder zu einem der unzähligen
Marienwallfahrtsorte. So besucht man die Maria
von Altötting, Tschenstochau oder Kevelaer. Heinrich
Heine – selbst kein Christ – hat dichterisch-bewegend
der Wallfahrt einer besorgten Mutter mit ihrem herzkranken
Sohn nach Kevelaer ein Denkmal gesetzt. Beide
richten große Hoffnungen auf ihre Wallfahrt. Die
Mutter fordert ihren Sohn voller Zuversicht auf: »‘Steh
auf, wir wollen nach Kevlaar, / Nimm Buch und Rosenkranz;
/ Die Muttergottes heilt dir / Dein krankes Herze
ganz.‘” Und der Sohn wendet sich vor dem Gnadenbild
innbrünstig an Maria: »‘Heil Du mein krankes Herze – /
Ich will auch spät und früh / Inbrünstiglich beten und
singen: / Gelobt seist du, Marie!‘”

Eine allzu aufgeklärte Religiosität kann sich über
diese Frömmigkeit lustig machen oder sie für archaisch
oder naiv erachten. Ist das nicht ein allzu kalkulierendes Verhältnis zu Gott und seinen vermittelnden
Helfern und Helfershelfern? Reduziert die Mutter nicht
den Glauben auf einen frommen Handel? »Die Mutter
nahm ein Wachslicht«, so heißt es bei Heine, »Und bildete
draus ein Herz. / ‚Bring das der Mutter Gottes, /
Dann heilt sie deinen Schmerz.‘«6 Es ist in der Tat nicht
schwer, an Wallfahrtsorten Fehlformen des Glaubens,
Aberglauben und vielerlei magische Missverständnisse
zu finden. Sie sind Orte der Frömmigkeit, aber
auch des Kitsches, des Konsums und, manchmal auch
das, der geistlichen Manipulation. Gerade weil an diesen
Orten der »Verdichtung« so Bedeutendes geschehen
kann, führen diese Orte auch zu Missverständnissen
oder Missbräuchen, deren Wurzeln teils tief in
der Religionsgeschichte oder Psychologie liegen. Ein
Pilgerort ist jedoch kein göttliches Auftragsbüro, das
Wünsche des Menschen entgegennimmt, die, wenn die
entsprechenden Opfer vollbracht sind, vom göttlichen
Herrscher auch zu erfüllen sind. Sie sind Gnadenorte
und keine Geschäftsorte. Das Wort »Gnade« verweist
auf etwas, das ganz umsonst ist, das nicht bezahlbar
ist, das man einfach so, aus Liebe, empfangen darf und
das sich der Logik des Tausches entzieht.

Die Schattenseiten rauben daher dieser Frömmigkeit,
den Wallfahrten nicht ihren zutiefst menschlichen
Kern. Und sie nehmen ihnen auch nicht ihre Bedeutung
für so viele Menschen, die manchmal gar nicht bewusst
wahrnehmen, was an oder mit ihnen auf ihrem
Weg zum Wallfahrtsort geschieht. Das kann sehr viel
sein. Denn der Pilgerweg ist kein bloßes Mittel, sondern
selbst ein Zweck. Das Unterwegssein zum Pilgerort
hat als Bild oder Verdichtung des menschlichen
Unterwegsseins eine eigene Bedeutung. Es geht daher
nicht darum, möglichst schnell zum Ziel zu gelangen.
Die alltägliche Hetze wird auf einer Pilgerfahrt oft bewusst
unterbrochen. Auch wenn man fliegen oder mit
dem Auto fahren könnte, bewegt man sich gerne per
pedes, zu Fuß, oder mit dem Fahrrad fort. Leiblich, mit
allen Sinnen ist man auf dem Weg. Aus eigener Kraft.
Schritt um Schritt. Die großen Wallfahrten sind daher auch körperlich herausfordernd und erschöpfend:
Weil man selten noch so lange Strecken läuft, schmerzen
einem die Füße. Es strengt an, das Gepäck auf dem
Rücken zu tragen. Die Hitze ermüdet. Man sehnt sich
nach einer noch so kurzen Pause. Am Abend gelingt es
nicht, noch viel anderes zu machen. Man isst und trinkt
etwas, wäscht sich und fällt todmüde ins Bett. Wie der
Weg selbst weist auch diese abendliche Erschöpfung
über sich hinaus: auf die Endlichkeit menschlicher
Kräfte, auf die Grenzen dessen, was Menschen aus
eigenem Antrieb tun können, auf die Sterblichkeit. Ist
daher eine Pilgerfahrt nicht oft mit einer besonderen Erfahrung, einer »Er-innerung« des Todes verbunden?

»Pilgern spricht nicht nur über
Zeiten, sondern auch über religiöse
Differenzen hinweg Menschen an«

Holger Zaborowski

Mutter und Sohn nehmen auf ihrer Wallfahrt nach
Kevelaer den Rosenkranz mit. Nicht ohne Grund ist
das Rosenkranzgebet ein beliebtes Gebet für Pilger –
weil der Rhythmus der Wiederholungen der Gebete den
Rhythmus der leiblichen Bewegung unterstützen kann
und weil man irgendwann nicht mehr denken muss,
sondern wie beim Laufen in einen Trott, einen Flow,
eine ganz fließende Bewegung hineinfällt. Das Leibliche
und das Geistliche, Gang und Gebet verschränken
sich. Dabei meditiert das Ave Maria nicht nur Maria
und das Leben ihres Sohnes. Es ist auch eine große
Todesmeditation. Denn man bittet, immer wieder, alle
paar Minuten, dutzende Male: »Bitte für uns Sünder
jetzt und in der Stunde unseres Todes.«

Vor dem Tod stehen Menschen als Sünder. In ihrem
Gebet werden Mutter und Sohn auch daran erinnert.
Diese Erinnerung wird auch durch das Wallfahren
unterstützt. Denn indem die Pilgerreise zu einer geographischen
Distanz von der Heimat führt, schenkt
sie Abstand vom Alltäglichen. Was am Tag zuvor noch
Sorgen bereitet hatte, hat plötzlich keine Bedeutung
mehr. Je mehr Stunden oder Tage vergehen, umso ferner
rückt die heimatliche Welt. Doch zugleich kann aus
dieser Ferne heraus eine neue Nähe entstehen. Man
kann endlich einmal kritisch in den Blick nehmen, was
einem im Alltag viel zu nahe ist. Führt man ein gutes
Leben? Ist es das Leben, das man wirklich führen
möchte? Gibt es Schuld gegenüber Mitmenschen, die
man auf sich geladen hat? Welche weiteren Pläne hat man noch? Soll man vielleicht sogar anders leben und,
falls ja, wie genau? Gerade indem der Pilger sich von
seiner vertrauten Welt entfernt, wird er auf sich selbst
zurückgeworfen. Das besondere Unterwegssein wirft
ein Licht auf die gewöhnlichen und vertrauten Wege.
Diese erscheinen dann nicht nur in positivem Lichte.
Aus der Distanz zeigt sich, was schlecht läuft, was verbessert
werden könnte, wo die eigenen Grenzen liegen,
wie sehr man auch dies ist: ein Sünder, der des Beistandes,
der Reue und der Umkehr – eines neuen Weges
also – bedarf.

Auch wenn man sich der Worte des Ave Maria und
ihrer Bedeutung irgendwann gar nicht mehr bewusst
ist, wenn man einfach mitspricht, wenn »es« in einem
spricht und betet, bleiben diese alten Worte nicht ohne
Wirkung. Ganz im Gegenteil verankern sie den Blick
auf die eigene Fehlbarkeit und die eigene Todesstunde
tief im eigenen Innern. Könnte die Bedeutung des
Pilgerns nicht auch in dieser Konfrontation mit den
dunklen Seiten der eigenen Existenz und der eigenen
Sterblichkeit liegen? Und in der Hoffnung, dass die
gläubigen Bitten erhört werden?

Auf die Dunkelheit der Nacht folgt der nächste Tag.
Erholt setzt man nach dem Frühstück den Weg fort.
Auch am Ende einer Pilgerreise kann die Erholung stehen
– nicht nur in einem körperlichen, sondern auch
in einem geistlichen Sinne. Gestärkt kann man sich
zuweilen wie neu geboren oder zumindest ein wenig
anders fühlen und den Alltag wieder meistern. Denn
wer weg war, kommt als ein anderer Mensch zurück:
mit neuen Erfahrungen, verwandelt und, vielleicht,
auch irgendwie geläutert. Manchmal sind diese Veränderungen
kaum wahrnehmbar. Nicht wenige Menschen
lassen sich kaum berühren, wohin auch immer sie sich
begeben. Doch manchmal ändert sich, wenn man es gewagt
hat, sich wirklich auf einen Weg zu begeben, ein
ganzes Leben. Oder es erscheint in verändertem Licht.
Wo Trauer war, meldet sich zaghaft wieder eine kleine
Hoffnung. Wo Verzweiflung herrschte, fühlt man sich
getröstet. Die Pilgerfahrt ist dann wie ein Scharnier,
das das alte mit dem neuen Leben verbindet, ein Tor,
durch das man gegangen ist, um neue Kraft für die
Wege des Lebens zu schöpfen. Weil man aber – auch
das ist zutiefst menschlich – immer wieder in das alte
Leben zurückfällt, die schlechten alten Gewohnheiten
wieder Macht über einen gewinnen, die nagenden
Zweifel sich wieder melden, die Ängste und Befürchtungen,
die das Gehen so schwer machen, einen wieder
packen und erstarren lassen, haben viele Wallfahrten
selbst einen bestimmten Rhythmus. Sie gliedern das Jahr und das Leben vieler Menschen wie die
großen Feste und Feiertage als Zeichen der
Hoffnung, dass letztlich alles, so beschwerlich
die Lebenswege auch sind, gut wird.

Gnade und Sinn: Unterwegs zu Gott

Pilgerorte sind Orte der Gottesnähe. Auf der
einen Seite verwundert diese Aussage. Gott
existiert nicht unter den Bedingungen von
Zeit und Raum, sondern jenseits von Zeit und
Raum. Er ist als Schöpfer der Herr von Zeit
und Raum. Und bedeutet das nicht, dass er,
wenn er überhaupt irgendwo oder irgendwann
anzutreffen wäre, überall und immer
da ist? Wenn es einen Gott gibt, dann ist er
in allem, das ist, gegenwärtig und erfahrbar.
Und doch gehört es nicht nur zur Geschichte
des Christentums, sondern zu den Grunderfahrungen
des Menschen, dass es besondere
Verdichtungen göttlicher Gegenwart geben
kann. Bestimmte Orte und Zeiten scheinen in
besonderer Weise von göttlicher Gegenwart
zu zeugen, und zwar nicht, weil Menschen
dies festgelegt oder sich darauf geeinigt
hätten, sondern weil an diesen Orten oder
zu diesen Zeiten etwas geschieht, was sich
menschlicher Verfügungsmacht entzieht. Die
Zeugnisse vieler Pilger, dass sie an Marienwallfahrtsorten
eine besondere Gnade verspüren,
sind ernst zu nehmen. Gnade, das ist
nicht nur eine diffuse Gegenwart Gottes, sondern
die Erfahrung einer konkreten Präsenz,
eines Segens, einer Güte, eines Friedens, für
den die rechten Worte fehlen.

Die Erfahrung der Gnade kann auch darin
liegen, dass nicht das geschieht, was man
sich so sehnlich erwünscht hat, sondern dass
etwas ganz anderes geschieht, etwas, das
positiv überraschen, aber auch irritieren und
verstören kann. Eine Pilgerfahrt kann daher
Menschen auch aus der gewohnten, erwarteten
oder erhofften Bahn werfen. Vertraute
Wege zeigen sich als Irrwege. Neue Wege
können sich eröffnen. Die Gnade kann darin
liegen, dass man eine Nähe oder Gegenwart
Gottes erfährt, an die man sich immer wieder
erinnern wird und die auch im Alltag noch
trägt. Sie kann allerdings auch darin liegen,
dass man sich mit dem Schicksal, so hart es
erscheint, so unveränderlich es bleibt, aussöhnt und es als Ausdruck des unergründlichen göttlichen
Willens annimmt. Unzählige Menschen sind
todkrank und mit dem Wunsch nach Heilung nach Kevelaer,
Lourdes oder anderswohin gepilgert. Sie haben,
nachdem die Schulmedizin mit ihrem Latein am Ende
war, alles auf diese eine, diese letzte Karte gesetzt. Sie
haben gefastet, gewacht, gebetet, und trotzdem ist, auf
den ersten Blick, nichts geschehen. Krank, vielleicht sogar
kränker, sind sie wieder nach Hause gefahren. Aber
war es falsch, dass sie nach Kevelaer oder Lourdes gefahren
sind?

Diese Frage lässt sich nicht von außen beantworten,
sondern nur von innen. Denn wenn auch das äußerliche
Ziel oder Anliegen verfehlt wurde, so kann eine
Pilgerfahrt auf einer tieferen Ebene doch lebensverändernd
gewesen sein: weil ein Mensch die Fürsorge anderer
Menschen erfahren hat, weil er anderen kranken
Menschen begegnet ist und allein diese Gemeinschaft
schon tröstlich war, weil sich Gott ihm gerade in seiner
Krankheit und Verletzlichkeit als nahe gezeigt hat, weil
er sich mit seiner Endlichkeit versöhnen konnte. »Und
dann der Schmerz, nach so großer Hoffnung nichts erhalten
zu haben,« so Joris-Karl Huysmans in seinem
immer noch bewegenden, Anfang des 20. Jahrhunderts
verfassten Bericht über die Wallfahrten nach Lourdes,
»das Bedauern abzureisen, während man sich sagt, die
Jungfrau hätte sich vielleicht erweichen lassen, wenn
man länger geblieben wäre. Zum Verrücktwerden!«
Doch bleibt, wie Huysmans feinsinnig beobachtet, dem
Glauben das letzte Wort: »Aber nein, selbst wenn die
Jungfrau ihre Gebete zugestandenermaßen nicht erhört,
wird sie bei ihr wie bei den anderen und mehr als
bei den anderen als Gegengabe für ihren derartig großen
Glauben, ihre Geduld und ihren Mut mit anderen
Gnaden ihren Misserfolg gut machen!«

Man empfängt zuweilen, was man gar nicht erbeten
hat. Gerade darin kann ein tieferer Sinn liegen. Das erfährt,
so Heines berührendes Gedicht, auch die Mutter,
deren kranker Sohn auf der Pilgerfahrt nach Kevelaer
stirbt: »Da lag dahingestrecket / Ihr Sohn, und der war
tot; / Es spielt auf den bleichen Wangen / Das lichte
Morgenroth.« Doch verzweifelt die Mutter nicht. Sie
tut, was sie zuvor schon getan hat: Maria loben: »Die
Mutter faltet die Hände, / ihr war, sie wußte nicht wie;
/ Andächtig sang sie leise: / Gelobt seist du, Marie!«
Auch im Sterben des Sohnes kann sie das Wirken der
Gnade finden. Auch angesichts dieses Todes, ja, für diesen
Tod kann sie Maria nur loben. Eine solche Frömmigkeit
lässt sich nicht verordnen. Sie ist selbst ein
Geschenk. Eine Pilgerfahrt ist, so zeigt sich immer wieder, kein Ausflug in eine Therme mit einer Erholungsgarantie,
keine medizinische Behandlung mit einer
statistisch feststellbaren Erfolgsquote. Auch wenn viele
Pilgerfahrten wie ein Urlaub wirken, wie eine Freizeittätigkeit
oder wie ein kultureller Ausflug, so geht es
letztlich nicht um planbare oder erwartbare Aspekte,
sondern um etwas anderes.

Das Wort Pilger geht auf das lateinische peregrinus
zurück geht. Peregrinus ist jener, der über den eigenen
Acker hinausgeht, der also das vertraute Feld verlässt
und in die Fremde geht. Das aber bedeutet, dass jede
Pilgerfahrt in eine radikale Fremde führt. Wirkliches
Pilgern sprengt die Erwartungen, die man an es haben
kann. Die alltägliche Welt wird radikal fremd: all die
Erwartungen des Nutzens, die Berechnungen und Planungen.
Eine Pilgerfahrt ist eine Hingabe an die göttliche
Gnade. Wer wirklich pilgert, geht daher ins Unbekannte.
In die Nacht. In die Wüste. Ins Ungewisse.
Aber er bezeugt, wenn er wirklich pilgert, ob ihm dies
bewusst ist oder nicht, dass es einen tieferen Sinn der
Welt, einen Grund für Zuversicht und Hoffnung gibt –
auch wenn es anders erscheinen mag, wenn die Plausibilität
auf der Seite des Unsinns liegt, wenn alles, aber
auch wirklich alles dagegen zu sprechen scheint.

Als der jüdische Schriftsteller Franz Werfel auf seiner
Flucht vor den Nationalsozialisten sich in Lourdes
aufhielt, als ihn kein Plan oder Wille, sondern, wie er
es formulierte, »die Vorsehung nach Lourdes« führte,
legte er ein Gelübde ab: »Werde ich herausgeführt aus
dieser verzweifelten Lage und darf die rettende Küste
Amerikas erreichen – so gelobe ich –, dann will ich als
erstes vor jeder andern Arbeit das Lied von Bernadette
singen, so gut ich es kann.« Werfel wurde gerettet –
und er setzte mit Das Lied von Bernadette dem frommen
Mädchen aus den Pyrenäen, Maria und Gott ein
berührendes Denkmal über alle Grenzen von Religion
und Weltanschauung hinweg. Dieser Roman, so Werfel,
»ist ein jubelnder Hymnus auf diesen geistigen Sinn
der Welt. An einem holden, einfachen Beispiel wird
gezeigt, wie selbst mitten in unserm skeptischen Zeitalter
die göttlichen Kräfte wirken und ein unwissendes
aber geniales Geschöpf hoch über das gewöhnliche
Maß hinausheben. Obwohl die Geschichte unterm
katholischen Volke spielt, bleibt sie nicht gebunden an
den Katholizismus, sondern geht gleichermaßen alle
an, Protestanten und Juden, alle Menschen, deren Herz
offen ist für den Anhauch der göttlichen Kraft in der
Wirklichkeit des Lebens.« So wird das Lesen selbst zu
einer geistigen Wallfahrt nach Lourdes, zu einem Zeichen
und Mittel des Trostes: »Eines aber,« so Werfel weiter, »weiß ich gewiß: Der Leser wird durch das Verdienst
und Mittlertum meiner Heldin Bernadette Soubirous
Gaben des Trostes und der Aufrichtung empfangen,
die er in einem andern und vielleicht besseren
Roman nicht finden würde.«