Digital pilgern!
Videospiele haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem transformativen Medium entwickelt. Mit diesem Spiel tritt der Spieler in die Rolle eines Pilgers und begibt sich auf eine spirituelle Reise, die sowohl Geist als auch Sinne anspricht
Bereits in den ersten Minuten des Spiels wird
deutlich, dass hier nicht actiongeladene Explosionen
oder hektische Interaktionen im
Vordergrund stehen, sondern das kontemplative Erleben
eines inneren Pfades, der den Spieler tiefer in eine
Welt der Reflexion und des katholischen Glaubens
eintauchen lässt. Eine der ersten Szenen, die dies veranschaulicht,
zeigt den Pilger auf einem stillen Waldpfad,
umgeben von den sanften Geräuschen der Natur.
Der Spieler entdeckt eine kleine, heruntergekommene
Kapelle am Wegesrand, zündet eine Kerze an und hält
inne, bevor er seinen Weg fortsetzt. Diese Szene symbolisiert
die meditative und reflektierende Atmosphäre,
die das gesamte Spiel durchzieht. »Wanderlight«
unterscheidet sich damit maßgeblich von den dominanten
Spielmustern der kommerziellen Spieleindustrie
und bietet eine alternative Form der Spannung:
jene der introspektiven Entdeckung und der spirituellen
Einkehr.
Begleiter auf einer spirituellen Reise
»Wanderlight« wurde von Loyola Press, einem katholischen
Verlag aus Chicago, entwickelt, der sich auf
die Vermittlung religiöser Bildungsinhalte spezialisiert
hat. Das Spiel erhebt nicht den Anspruch, lediglich
zu unterhalten, sondern vielmehr, den Spieler auf
eine Reise zu begleiten, die tiefgreifende Fragen des
Daseins aufwirft – Fragen nach Leben, Glauben, Gemeinschaft
und der Suche nach Sinn. Anstatt einen
Endgegner zu besiegen oder ein explizites Ziel zu erreichen,
fungiert das Spiel als Metapher für eine spirituelle
Pilgerreise, die es dem Spieler ermöglicht, zu
reflektieren und mögliche Antworten auf fundamentale,
existentielle Fragen zu finden: Was bedeutet es, zu
glauben? Aber auch Formen und Inhalte der Tradition
des katholischen Christentums zu begegnen.
Die inhaltliche Reise konfrontiert den Spieler mit
universellen Fragen, die grundlegende Wahrheiten
des Menschseins berühren: Wie gehe ich mit Konflikten
um? Was bedeutet Vertrauen in andere Menschen?
Diese Fragen sind nicht exklusiv für gläubige Menschen relevant, sondern betreffen universelle Aspekte
der menschlichen Existenz. »Wanderlight« möchte
eine introspektive Erfahrung schaffen, bei der der
Spieler durch das Lösen kleinerer Herausforderungen
Antworten auf wesentliche Fragen des Lebens entdecken
kann. Es bietet eine Plattform, auf der der Glaube
als ein offener, sich entwickelnder Prozess verstanden
wird – ein Prozess, der sich durch Symbole, Geschichten
und Herausforderungen entfaltet.
Der Protagonist des Spiels, der Pilger, bleibt bewusst
anonym – ohne definierte Hintergrundgeschichte
oder spezifische Identität. Diese Neutralität
ermöglicht es den Spielern, sich individuell in die
Figur hineinzuversetzen und die Erfahrung als eine
persönliche Reise zu empfinden. Die Reise führt den
Pilger durch verschiedene Landschaften, darunter
Dörfer, Felder, Wälder und Kirchen. Jede Szenerie ist
sorgfältig gewählt und hat eine spezifische symbolische
Bedeutung. Der Spieler begegnet anderen Figuren,
die ihn unterstützen, Fragen aufwerfen oder aus
ihren eigenen Glaubenserfahrungen berichten. Diese Begegnungen sind wie einzelne Puzzleteile, die am
Ende ein Gesamtbild von Gemeinschaft, Vertrauen,
Vergebung und Hoffnung ergeben.
Symbole spielen eine große Rolle
Die Symbolik spielt im Spiel eine zentrale Rolle. Immer
wieder tauchen Kerzen, Brücken oder Kreuze auf,
die Hoffnung, Verbindung oder den Glauben symbolisieren.
Diese Symbole sind nicht nur dekorative
Elemente, sondern tragen zur Tiefe der narrativen
Erfahrung bei und laden die Spieler dazu ein, deren
Bedeutung eigenständig zu interpretieren. Dieser Prozess
der Entschlüsselung geschieht subtil und ohne
Druck, wodurch die Spieler motiviert werden, sich aktiv
mit den zugrunde liegenden Werten, Glaubensinhalten
und Traditionen auseinanderzusetzen.
Die ästhetische Gestaltung von »Wanderlight« erinnert
an illustrierte Kinderbücher, die bewusst einfach
gehalten sind, um den Fokus auf das Wesentliche zu
lenken und den Entdeckungsprozess zu erleichtern.
Auch die Spielmechanik ist auf diese Einfachheit
abgestimmt. Statt hektischer Aktionen setzt das Spiel
auf einfache Point-and-Click-Elemente, die das gemächliche
Tempo unterstreichen. Das langsame Tempo
ermöglicht es dem Spieler, Details zu erkennen und
Entscheidungen zu treffen, die oft symbolischen Wert
haben. Der Spielverlauf ist durch immer wieder auftretende
Unterbrechungen gekennzeichnet, die zur
Kontemplation oder zum Gebet vor dem Bildschirm
einladen. Dies mag auf den ersten Blick befremdlich
wirken, dabei führen diese Elemente das Prinzip der
symbolisierten Pilgerreise konsequent fort: das wiederkehrende
Innehalten auf dem Weg zur inneren
Einkehr.
Die musikalische Untermalung trägt ebenfalls zur
Atmosphäre bei. Sanfte Klänge und Naturgeräusche
erzeugen eine Verbindung zur Umgebung und schaffen
eine introspektive Stimmung. Die Figuren, denen
der Pilger begegnet, sind minimalistisch und ikonisch
dargestellt, sodass ihre symbolische Bedeutung im
Vordergrund steht und der Spieler nicht durch Details
abgelenkt wird. Diese formale Reduktion ist entscheidend,
um das Wesentliche – die innere Reise – in den
Fokus zu rücken.
Dass »Wanderlight« ein Lernspiel ist, zeigt sich an
den zahlreichen Elementen. Die Charaktere, denen
der Pilger begegnet, erzählen Geschichten, die sowohl
biblische Motive als auch allgemeine ethische
Fragestellungen aufgreifen. Themen wie Vergebung,
Vertrauen und die Suche nach Sinn stehen im Mittelpunkt
und bieten besonders im pädagogischen Kontext
unschätzbaren Wert, um Jugendliche auf eine offene
und spielerische Weise an grundlegende Fragen
des menschlichen Lebens und den katholischen Glauben
heranzuführen.
Die Aufgaben, die im Spiel gestellt werden, beinhalten
oft moralische Entscheidungen: Sollte ich jemandem
in Not helfen? Sollte ich vergeben, selbst wenn
ich verletzt wurde? Das Spiel gibt keine direkten Antworten,
sondern lädt die Spieler ein, eigenständig
Lösungen zu finden und mit den Konsequenzen ihrer
Entscheidungen umzugehen. Diese Herangehensweise
bietet eine lehrreiche Reflexion über ethische Prinzipien
und verstärkt die Fähigkeit zur Achtsamkeit –
eine Qualität, die in der modernen Welt häufig zu kurz
kommt.
An dieser Stelle muss jedoch einschränkend hinzugefügt
werden, dass dem Spiel eindeutig die Herkunft
und der Einsatzbereich anzumerken ist. Spieler, die
kirchenfern oder nicht katholisch sozialisiert sind,
vermag die offene Konfrontation mit Spielunterbrechungen zur Ermöglichung des Gebets vor dem Bildschirm
sehr befremden. Das Spiel richtet sich vor allem
an Personen, die kirchlich sozialisiert sind und
eine Offenheit für Glaubensinhalte sowie traditionelle
Formen gelebten Glaubens mitbringen, beispielsweise
in Form von Gebeten. Unter diesen Bedingungen
kann »Wanderlight« nicht nur tief im Glauben
verankerten Menschen, sondern auch jenen, die nach
einer spirituellen Erfahrung oder einer Reflexion über
kulturelle und ethische Fragen suchen, einen Zugang
bieten. Ohne eine gewisse Offenheit gegenüber diesen
religiösen Aspekten, speziell der katholischen
Tradition, könnte das Spiel jedoch eher abschreckend
wirken. So könnte der thematische Schwerpunkt auf
christliche Spiritualität Menschen anderer Religionen
oder säkulare Spieler ausschließen.
»Die ruhige Ästhetik, die entschleunigte
Spielmechanik und die tiefgründigen
narrativen Elemente laden den Spieler zu
einer einzigartigen Erfahrung ein, die weit
über den Bildschirm hinaus Wirkung
entfalten kann«
Das gemächliche Spieltempo und der starke Fokus
auf kontemplative Elemente können Spieler, die nach
schnellen Erfolgserlebnissen oder dynamischer Interaktion
suchen, abschrecken. Eine Ausweitung der thematischen
Bandbreite hin zu universellen spirituellen
Fragen könnte das Spiel für eine größere Zielgruppe
attraktiv machen. Zudem ist die Wiederspielbarkeit
des Spiels begrenzt. Der starke narrative und lineare
Charakter der Reise führt dazu, dass es wenig Anreiz
gibt, das Spiel mehrfach zu spielen.
»Wanderlight – A Pilgrim‘s Adventure« ist kein
Spiel für die breite Masse, sondern richtet sich an eine spezifische Zielgruppe, die Wert auf Spiritualität
und Reflexion legt und gleichzeitig kirchlich sozialisiert,
eine Offenheit für den katholischen Glauben
besitzt. Die ruhige Ästhetik, die entschleunigte Spielmechanik
und die tiefgründigen narrativen Elemente
laden den Spieler zu einer einzigartigen
Erfahrung ein, die weit über
den Bildschirm hinaus Wirkung entfalten
kann. Diese Reise kann, wenn
man sich auf sie einlässt, tiefere Einsichten
bieten. Ferner bietet das Spiel
eine lohnenswerte Ergänzung zu
katechetischen Kursen, um sich mit
Glaubensinhalten und traditionellen
Formen gelebten Glaubens vertraut
zu machen. Für die deutschsprachigen
NutzerInnen muss einschränkend
erwähnt werden, dass das Spiel nur auf Englisch
erhältlich ist und im hiesigen Kontext somit kaum Anwendung
finden dürfte. Abgesehen von den genannten
Grenzen offenbart Wanderlight jedoch das Potential
von Gamification im Bereich der Katechese - denn vor
allen Dingen im deutschsprachigen Bereich gibt es
hier Nachholbedarf.
Zur Person
Matthias Cameran
ist Referent für Religionspädagogik
im Bischöflichen Ordinariat Limburg und Redaktionsmitglied
des Magazins EULENFISCH.