»Das Tattoo ist ein Zertifikat deiner Pilgerreise«
Wassim Razzouk ist in 26. Generation Inhaber des familien-geführten Tattoo-Studios Razzouk in der Jerusalemer Altstadt. Die Familie Razzouk beansprucht für sich, auf eine lange Tradition der Pilgertätowierung zurückschauen zu können.
Tätowieren ist sowohl Handwerk als auch Kunst und wird schon seit vielen Generationen in deiner
Familie als Beruf gepflegt. Sprich ein bisschen darüber.
Tätowieren ist eine Kunst, die bereits seit Jahrhunderten überall auf der Welt existiert
und in zahlreichen Kulturen praktiziert wird. In unserer Familie kam diese Praxis als Teil
der koptischen Kultur, wie sie unter den ägyptischen Christen üblich ist. Der Familienlegende
nach reicht dies bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts zurück, als Priester diese
Tätigkeit ausübten, um an die osmanische Unterdrückung zu erinnern. Während dieser Zeit
der Unterdrückung musste man, wollte man weiterhin Christ bleiben, eine Steuer an die
Osmanen abgeben und, nachdem man die Steuer abgeführt hatte, wurde man am Handgelenk
– also einer sichtbaren Körperstelle – mit einem Kreuz tätowiert als Zeichen dafür,
dass man gezahlt hat. Als die osmanische Herrschaft zu Ende gegangen war, wandelte sich
dieses Zeichen der Unterdrückung und Verfolgung in ein Zeichen der Erinnerung und des
Glaubens. Später galt das tätowierte Kreuz am Handgelenk auch als Eintrittszeichen oder
In-Group-Zeichen, das man brauchte, um die Kirchen betreten zu können, wohl um sicher
zu gehen, dass nur Christen und keine Feinde dort Eingang gefunden hatten. Was meine
Vorgeborenen angeht: Als Mitglieder der Kirche lehrte man sie dieses Handwerk, das wir
seither Generation für Generation ausüben. Inzwischen bin ich das 26. Glied in dieser Generationenfolge.
Ich tätowiere noch immer und trage die Tradition. Irgendwann – wohl im 17. Jahrhundert – hat sich einer meiner Vorfahren dazu entschlossen,
ins Heilige Land auszuwandern. Er ging zunächst als Pilger,
wo er in Berührung mit der Pilgertätowierung gekommen
ist, die ja hier im Heiligen Land mindestens seit den Kreuzzügen
praktiziert wird. Weil er das Handwerk beherrschte, hat er
sich offenbar entschlossen, zu bleiben. Dabei hat dieser, mein
Vorfahre, zwei wesentliche Änderungen in der Tätowierung im
Heiligen Land bewirkt: Erstens führte er kleine mit Schnitzgravuren
versehene Holzklötzchen mit lokaler, das heißt, mit
koptischer Kunst ein. Dies führte zu neuen Variationen innerhalb
der Erinnerungskultur der Pilgertätowierungen. Zweitens
war es dieser Gebrauch von vorgefertigten Motiven, der eine
damals wohl noch relativ grobe Freihandtätowierung ablöste.
Dies markiert den Anfang des Gebrauchs von Matrizen und der
dazugehörigen Stichtechnik. Ansonsten ist es natürlich auch
so, dass viele koptische Pilger, wenn sie ins Heilige Land reisen,
meistens nach der Familie Razzouk fragen, um sich ihr Memento
stechen zu lassen.
Warum ist deiner Meinung nach eine Tätowierung ein besonderes
Andenken an eine Pilgerreise?
Die Erfindung der Pilgertätowierung dient ursprünglich einem
Zweck, nämlich zu beweisen, dass man dort war. Natürlich war
ja eine Pilgerreise ins Heilige Land früher extrem beschwerlich.
Während des Mittelalters war die Gefährlichkeit dieser Reise
allen bewusst, denn man konnte von Dieben überfallen werden
oder von anderen Gruppen attackiert werden. Das ist ja auch
ein Grund, weshalb Orden wie die Templer oder die Johanniter
hier in Jerusalem so zahlreiche Aufgaben fanden, um beispielsweise
den Pilgern Schutz und Obdach zu bieten. Als diese mittelalterlichen
Pilger nach allen Strapazen endlich an den Toren
der Stadt angekommen waren und endlich etwa die Grabeskirche
besuchen konnten, war es für sie eine Ehre, mit einem
Kreuz heimzukehren, das symbolisch für dieses anstrengende
Unterfangen stand. Jacob Razzouk sagte immer: »Das Tattoo ist
ein Zertifikat deiner Pilgerreise.« Natürlich stellten auch kirchliche
Behörden solche Zertifikate aus, weil die Pilgerreise eben
so bedeutsam war für die Reisenden. Das Tattoo ist, wenn man
so will, das ultimative Zertifikat. Heutige Pilger tragen dieses
Erbe weiter – orthodoxe Christen (assyrisch, chaldäisch, koptisch
…) und auch Armenier praktizieren es ja schon immer, die
Katholiken kommen allmählich wieder zurück. Papst Hadrian I.
hat ja bekanntlich 787 ein Verbot ausgesprochen, was natürlich
später die Kreuzzügler, die Mönche, Laien und Priester selbst
nicht daran hinderte, sich trotzdem zu tätowieren. Es kommt
jüngst auch eine junge Generation an Pilgern, die sich von Papst
Franziskus bestärkt fühlen, weil er ja auch in einem Statement
sagte: »Ein Tattoo gibt Anlass, um sich miteinander zu unterhalten.
Es ist ein Zeichen, das dem Priester helfen kann, auf die
Person zuzugehen.«
Sprich doch bitte noch etwas über diese Holzmatrizen. Zahlreiche Pilger, die hier hergekommen
sind, erwähnen sie. Welche Rolle spielen sie für deine gegenwärtigen Arbeit?
Diese Holzmatrizen sind natürlich der größte Schatz der Familie und momentan bemüht
sich die Familie darum, alle wieder zusammenzubringen. Ursprünglich waren es ja etwa
180 verschiedene Matrizen. Die Klötzchen zeigen koptische Motive und Formen, die in Olivenholz
geschnitzt sind. Sie zeigen wichtige christliche Ereignisse wie zum Beispiel: die
Geburt des Herrn, die Taufe Jesu, die Kreuzigung, die Auferstehung und Himmelfahrt oder
den Löwen Judas. Außerdem sind zahlreiche Szenen aus dem Alten und Neuen Testament
genommen: Veronika, die Jungfrau Maria, Johannes der Täufer, Jesus als Lamm Gottes, Abraham,
eine ganze Schar an unterschiedlichen Engeln sowie den heiligen Georg. Manche
der Matrizen haben eher eine dekorative Funktion und manche von ihnen zeigen Motive aus
der koptischen Kultur: die zwei schnäbelnden Tauben, die Wassernixe vom Nil, der Adler,
das Schwert sowie zahlreiche typisch koptische Muster und florale Formen. Einige dieser
Klötzchen wurden weither aus Ägypten hier her gebracht, aber die Mehrzahl der Matrizen
wurde im Heiligen Land geschnitzt. Man kann auch
den Fortschritt und die Entwicklung der künstlerischen
Form deutlich erkennen. Momentan wird meistens das
Jerusalemkreuz sowie der Dreikönigsstern gewünscht;
die Formen, die wir dazu verwenden, lassen sich dokumentarisch
bis in das Jahr 1659 zurückverfolgen. Also
die Großzahl unserer Aufträge geht auf diese antiken
Matrizen zurück. Ich finde es selbst immer wieder erstaunlich,
wenn ich sehe, wie Menschen diese alte Kunst
wirklich zu schätzen wissen.
»Es ist schon eine
große Verantwortung,
die auf uns
ruht, denn wir sind
die letzten Kustoden
der alten Pilgertätowierung
im
Heiligen Land«
Worüber sprichst du mit den Pilgern? Kannst du mir vielleicht
ein paar denkwürdige Beispiele erzählen? Was motiviert sie?
Wie nehmen sie Bezug auf das Tattoo?
Wenn du mit unzähligen Menschen arbeitest, gibt es
natürlich kein Ende an Geschichten, die berührend und
einzigartig sind, oder über Designs, die eine besondere
Funktion oder Bedeutung erfüllen. Aber natürlich gibt
es auch jene, die sich einfach tätowieren lassen, weil
es für sie zum Pilgern gehört. Die Mehrzahl der Pilger
verbindet ihre Tätowierung natürlich mit der Tatsache,
dass sie im Heiligen Land gestochen worden ist. Sie verbinden
es mit einer spezifischen Reise. Natürlich spielt
unsere Lage in der Jerusalemer Altstadt eine wichtige Rolle. Aber es gibt doch einige Geschichten,
die für mich wirklich denkwürdig bleiben. Ich erzähle sie der Reihe nach. Die
erste Geschichte ist diese: Eine Frau Ende 60 kam vor vielen Jahren mit ihrer Tochter, um
sich hier tätowieren zu lassen; die Tochter war zu jung und hatte Angst davor, sodass diese
schließlich damals nicht tätowiert worden ist. Sie reisen zurück. Denn während des Sechstagekrieges
war das Reisen für viele Menschen erschwert worden, sodass die beiden Frauen
– sie waren Irakerinnen mit armenischen Wurzeln – nicht mehr zurückkommen konnten für
eine weitere Pilgerreise. Es vergehen dann Jahre und die Tochter heiratet einen Australier
und zieht mit ihm zusammen. Da sie nun einen anderen Pass besitzt kommt sie zurück nach
Jerusalem, um die Tätowierung nachzuholen, die sie als junge Frau nicht mit ihrer Mutter
hat machen lassen. Sie hat die ganze Zeit über geweint und darüber berichtet, wie sie es bereut,
ihrer Mutter diesen Wunsch der gemeinsamen Tätowierung damals verwehrt zu haben. Die zweite Geschichte trug sich in der Weihnachtszeit
2014 zu. Eine dreiköpfige Familie kam zu mir, um eine
Tätowierung machen zu lassen, die sie nur von einem
Christen gemacht haben wollten. Warum? Weil sie den
Buchstaben »Nūn« ( نون ) tätowiert haben wollten, der
ja »naṣrānī« (also: Nazarener, ينارصن ) bedeutet und von
der Terrormiliz ISIS verwendet worden ist, um die Häuser
der Christen auszuzeichnen. Sie wollten damit ihre
Solidarität zu den Menschen in Syrien ausdrücken.
Während wir sie tätowierten erzählte ich ihnen von
den koptischen Tätowierungen, ihrer Bedeutung und
der Ähnlichkeit zu dieser Situation. Daraufhin wurden
sie sehr emotional und dankbar. Es war wirklich
etwas sehr Besonderes. Die dritte Geschichte, die ich
dir erzählen will, betrifft eine Gruppe von koptischen
Christen aus Äthiopien, die jedes Jahr zu Ostern hierher
kommen. Während ich eine der Frauen tätowierte,
begann sie ein altes äthiopisches Gebet auf aramäisch
zu singen. Sie sagte mir, sie bete und danke Jesus, der
Schmerzen auf sich genommen hat, während sie mit
Freude diese kleinen Schmerzen in Kauf nehme, denn
sie wolle Blut lassen in Jerusalem, wo der Herr starb
und auferstanden ist.
»Die Familientradition
überdauerte so viele
Jahrhunderte, dass
ich es nur als eine
Mission begreifen
kann, sie nicht nur
aus Profit zu pflegen,
sondern um die
Tradition zu tragen
und weiterzugeben«
Wie ist es mit jenen Kunden, die immer wiederkehren?
Kannst du mir sie beschreiben.
Ja, glücklicherweise haben wir solche Kunden. Es sind oft regelmäßige Pilger. Manche von
ihnen tragen die Daten von zehn oder mehr Jahren als Tattoo unter dem ursprünglichen
Kreuzsymbol. Normalerweise besteht ja die einfache Pilgertätowierung aus dem Kreuz mit
der Jahreszahl darunter. Viele kommen auf Empfehlung von Kunden, die selbst bei uns tätowiert
worden sind. Weil unser Studio nicht so wie ein typisches Tattoo-Studio ist, kommen
bei uns auch viele Ärzte, Anwälte, Priester, Nonnen, Pastoren, Bischöfe, die sich halt nicht
vorstellen können, in ein gewöhnliches Tattoo-Studio hineinzugehen. Sie fühlen sich in diesem
einzigartigen Umfeld einfach wohler. Manchmal kommen auch Tattoo-Sammler in unser
Geschäft. Das ist wirklich immer sehr interessant, denn einige von ihnen sind selbst
Tätowierer und können die Kunst wirklich schätzen. Es ist immer sehr respektvoll. Manche
Kunden kamen mit einer völlig anderen Vorstellung und kommen immer wieder her. Da ist
zum Beispiel ein Polizist aus Texas, der schön zwölf Mal hier war und immer eine andere
Matrize ausgewählt hat.
Empfindest du deine Arbeit als eine persönliche Mission?
Das auf jeden Fall. Ich glaube, es ist schon eine große Verantwortung, die auf uns ruht, denn
wir sind die letzten Kustoden der alten Pilgertätowierung im Heiligen Land. Die Familientradition
überdauerte so viele Jahrhunderte, dass ich es nur als eine Mission begreifen
kann, sie nicht nur aus Profit zu pflegen, sondern um die Tradition zu tragen und weiterzugeben.
Der zweite Grund besteht in den Menschen selbst: Sie kennen den Namen, die
Person, sie kommen hier ins Geschäft, weil es so etwas auf der Welt nicht nochmal gibt.
Unsere Mission ist im Dienst begründet, den wir an denen tun, die hierher kommen, um ein
historisches Siegel aus dem Heiligen Land auf ihren Körper zu empfangen, das wir ihnen als
Tätowierung geben und noch über viele weitere Generationen hin geben werden.
Wie haben sich die Kunden in den letzten Jahren verändert?
Ich habe das Geschäft vor etwa zehn Jahren von meinem Vater übernommen.
Es gibt definitiv eine Veränderung hinsichtlich der Klientel und
der Art Mensch, die das Studio besucht. Sogar unter den Pilgern gibt es
eine Veränderung. Das hat natürlich auch mit der politischen und religiösen
Situation der Christen überall auf der Welt zu tun. Christen suchen
wieder ihre Wurzeln. Bei manchen liegt es einfach an den politischen
Umständen in ihrer Heimat wie etwa bei den Assyrern. Es gibt
mehr und mehr junge Menschen, während früher die Kunden älter waren
und es aus Gründen der Identität und Tradition machten. Es ist tatsächlich
herzergreifend zu sehen, wie junge Menschen sich in diese Praxis
einfinden und darin etwas erkennen können, das jenseits der Mode und
Schönheit reicht. Eine weitere Entwicklung ist wirklich eine große Menge
an Katholiken, die kommen. Manchmal besuchen uns auch Protestanten
und sogar Born Again Christians, um sich ihre Tinte abzuholen.
Ist für dich persönlich das Tätowieren eine spirituelle Erfahrung?
Absolut. Schon weil ich es im Wissen meiner Familientradition tue, aber
auch weil ich merke, wie es anderen Menschen Bedeutung in ihrem Leben
gibt. Für sich genommen ist ja das Tätowieren ein Akt des Schenkens.
Man schenkt jemandem etwas, das diese Person für immer hat. Das ist
wirklich eine tiefe Sache, es bedingt Verantwortung und deshalb ist es
spirituell. Natürlich ist es besonders intensiv, wenn Kunden aus einem
besonderen Anlass zu mir kommen, wenn die Tätowierung eine Bedeutung
in ihrer persönlichen Geschichte trägt. Dann merke ich es besonders.
Klar, schon der Besuch des Heiligen Landes ist eine einzigartige
und große Erfahrung, die oft Menschen verändert und eine besondere
Markierung in ihrer Seele hinterlässt. Eine Tätowierung ist dann ein physisches
Zeichen dieser Veränderung in ihrer Seele. Sie feiern diese Wandlung
auf ihrer Haut. Und ich glaube, so einfach es klingt, das ist eine tiefe
spirituelle Erfahrung.
Zur Person
Paul-Henri Campbell
ist Theologe und Schriftsteller und lebt in Wien. Für seinen
Gedichtband »nach den narkosen« wurde er mehrfach ausgezeichnet. Das
hier gekürzte Interview erschien zuerst in seinem Buch: »Tattoo & Religion. Die
bunten Kathedralen des Selbst« (2019). Für die Zeitschrift COMMUNIO schreibt
er die Kolumne »Gott in 99 Objekten«.