Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Foto (c) Matthias Cameran

"Es ist ein Gedenkbild"

Das Foto des toten Aylan Kurdi wurde zum Symbol der Füchtlingskrise. Die beiden Frankfurter Künstler Justus Becker und Oğuz Şen sprechen über ihre künstlerische Rezeption des Fotos an der Friedensbrücke in Frankfurt.

Die Frage stellte Matthias Cameran

Oğuz, würdest Du das, was du machst, als Kunst bezeichnen?

Oğuz Şen > Stünde ich auf und sagte, dass das, was ich mache, Kunst ist, wäre es gelogen, weil es nicht dem Gefühl entspricht, das ich bei der Entstehung eines Werks hatte. In vielen Fällen ist der Auslöser das Empfinden, dass viele Dinge einfach ungerecht sind. Dann ist es schon so, dass ich gezielt auf die Themen hinarbeite, weil ich das Gefühl habe, dass auf der Erde einiges gehörig schief läuft. Das belastet mich. Anschließend arbeite ich mich daran mit bestimmten Materialien ab. Wann es zu Kunst wird, kann ich nicht sagen.

Wie entsteht die Auswahl der Materialien?

Oğuz Şen > Die Entscheidung über Material kommt in einem Prozess zustande. Es ist nicht so, dass ich direkt sage, damit will ich jetzt unbedingt arbeiten. Beispielsweise haben wir uns bei dem Bild von Aylan Kurdi bewusst für den Einsatz von Sprühdosen entschieden, da es technisch schneller umzusetzen war.

In Deinen Projekten stehen häufig gesellschaftliche Fragen im Zentrum. Ist das essentiell für Dich?

Oğuz Şen > Gesellschaftskritik ist der Kern meines Tuns; da kommt meine Motivation her. Ich kann nicht einfach aufstehen und irgendein Bild malen. Ausgangspunkt ist das Gefühl, dass auf dieser Erde so viel schief läuft und so viel Hass ist. So vertrete ich eine radikale Position, was das Thema Flüchtlinge angeht: Es kann nicht sein, dass wir in Europa auf Kos-
ten der Menschen in anderen Teilen der Welt leben und uns wundern, dass diese Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben sind.

Das Ganze hat mit der Herkunft meiner Eltern zu tun, dadurch habe ich nochmal eine ganz andere Art, auf die Dinge zu blicken. Ich bin als Bornheimer groß geworden, aber ich sehe anders aus als Justus. Was Diskriminierung heißt, habe ich als Jugendlicher am eigenen Leib erlebt. Meine Eltern waren Gastarbeiter, weder schulisch noch künstlerisch geprägt und sehr früh verstorben. Der Tod hat in meinem Leben eine große Rolle gespielt, und ich musste mich schon früh mit ihm alleine auseinandersetzen.

Ich möchte anderen Menschen Zugang zu meinen Werken oder zur Kunst allgemein schaffen. Aber vor allem versuche ich Menschen dazu zu bewegen, positiv zu denken und sich mit den Fragen zu beschäftigen, die alle Menschen betreffen. Noch ein Wort zur Street Art, von der ich mich distanzieren möchte. Street Art ist gerade ein großer Hype mit wenig Inhalt.

Wie hat sich die öffentliche Kunst in Frankfurt in den vergangenen Jahren verändert?

Justus Becker > Früher konnten wir mit unserer Kunst noch gegen die Elterngeneration rebellieren. Das hat sich verändert, weil man mit Graffiti nicht mehr rebellieren kann. Sie ist gesellschaftlich akzeptiert, im Establishment angekommen und erwachsen geworden. Die Jugendlichen heute können mit Graffiti nicht mehr rebellieren, weil die Eltern das selbst cool finden. Die Szene ist auch sehr kommerziell geworden. Man muss es hinnehmen und sich auf die eigene Kunst konzentrieren. Politischer ist die öffentliche Kunst damit auf gar keinen Fall geworden. Zwar gibt es einzelne Künstler, die am Politischen interessiert sind und deren Arbeiten wahrgenommen werden, doch das ist eher die Ausnahme. Andere wollen möglichst hip sein und machen deswegen Street Art. Im Grunde verrät das die eigentlichen, kritischen Wurzeln; hierbei geht es nur noch um Anerkennung.

Ich bin der Auffassung, dass wir nicht nur von der Politik erwarten können, dass sie etwas verändert. Wir bewegen nur etwas durch ein Umdenken in der Gesellschaft. Man überwindet den Politikverdruss, indem man im Kleinen anfängt, also lokal etwas verändert. Die Aktion mit dem Bild Aylan Kurdis hat große politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit erzeugt; es sind vor allem die kleinen Sachen, die etwas Positives bewirken.

Kann Kunst Auslöser für gesellschaftliche und politische Veränderungen sein?

Justus Becker > Ich wünsche mir, dass Kunst Menschen ermutigt, etwas Eigenes zu machen, sie inspiriert und ihnen durch den angeregten Dialog die Angst nimmt. Warum schafft es die Politik nicht, den Menschen hierzulande die Angst in der Flüchtlingsfrage zu nehmen? Sicher, es ist anmaßend zu denken, dass Kunst alleine das schaffen könnte, aber es ist ein Wunsch. Ich traue mich, das Bild Aylans an die Hafenmauer zu malen – setze du dich mit der Thematik auseinander.

Oğuz Şen > Politische Kunst konfrontiert Menschen mit Themen, denen sie sonst vielleicht ausweichen würden – wie ein Schlag ins Gesicht. Das ist es, was ich mit einem Werk beitragen kann. Ob ich damit etwas verändere, das weiß ich nicht. Gleichzeitig macht es viel mit mir; denn es bewegt auch mich. Und ich bin froh, dass ich umsetzen kann, was mich bewegt.

Justus Becker > Erstaunlich war die Rückmeldung der Kinder, die an der Friedensbrücke immer Fußball spielen. „Wir spielen hier Fußball – und ihr malt hier so etwas Schreckliches hin, so dass man Albträume bekommt.“ Das hat sich dann ganz gedreht: Je länger sie es angesehen haben, desto mehr haben sie es verstanden. Sie haben begriffen, um welche Botschaft es uns in diesem Bild ging, und sich anschließend damit identifiziert. Das hat uns schon sehr bewegt, dass Kids ohne großen Bildungshintergrund das verstanden haben.

Die Stelle, an der euer Bild entstand, befindet sich unweit der Europäischen Zentralbank. War das Teil der Idee?

Justus Becker > Ich hätte das Bild niemals auf eine Leinwand gemalt und in eine Galerie gehängt. Leute hätten das dort ganz beeindruckend gefunden – und dabei Sekt geschlürft. Ich erlaube mir, ein totes Kind zu malen; darin steckt eine gesellschaftskritische Bombe, weil es sich am Main, direkt an der EZB befindet. Die Nähe zur EZB weist darauf hin, dass wir lieber Banken retten als Kinder aus dem Meer. Wir sind bereits so manipuliert, dass wir nicht wahrnehmen, dass wir Banken in Griechenland retten – und das Kind liegt tot am Strand auf der anderen Seite des Meeres.

Aber: Dieses Bild ist nicht nur eine politische Provokation. Es ist ein Gedenkbild, stellvertretend für alle ertrunkenen Kinder im Mittelmeer. Meis-
tens haben wir Applaus bekommen, weil Menschen die politische Provokation hervorgehoben haben. Aber mich freuten vor allem die emotionalen Reaktionen von Menschen, die mit ihrem Herzen denken. Das berührt mich und ist der Grund, wieso ich es, nachdem es beschmiert wurde, auch zehnmal ausbessern werde. Es ist ein Gedenkbild für mich, kein politischer Comic oder eine politische Illustration. So erst ist es interessant und mehrdeutig geworden. Das betrifft auch die Dauer des Kunstwerks. Die Leute fragen sich, ob es nur temporär oder für immer dort zu sehen ist – direkt an dem Ort ihres Erholungsspaziergangs.

Oğuz Şen > Die Entscheidung, das Bild zu malen, lag auch darin begründet, dass der Vater einverstanden war, dass Kunstwerke über seinen Sohn entstanden. Er sieht dessen Geschichte als eine Geschichte, die für unzählige andere steht.

Während der Entstehung, Justus war gerade daran, das Gesicht zu malen, wurde die Darstellung plötzlich ziemlich realistisch und unvermittelt. Mir wurde richtig schlecht, und da habe ich mich selbst hinterfragt, wieso machst du das? An diesem Tag brachen wir das Malen ab. Es waren solche Gefühlsschwankungen, die ich nicht wiedergeben kann; es war ein schwieriger Prozess. Als das Bild fertiggestellt war, wurde mit klar, dass es richtig war, das Projekt fertigzustellen. Wir konnten neben den vielen Befürwortern auch den Hass anderer spüren. Zu Beginn hatte ich Zweifel, wie weit man gehen darf. Dennoch glaube ich: Kunst muss nichts, Kunst schuldet niemandem etwas – auch nicht zu gefallen. Kunst kann zu vielen Dingen etwas Positives beitragen.

Es wurde diskutiert, ob die Darstellung des ertrunkenen Kindes zu rechtfertigen ist.

Oğuz Şen > Ich lebe in einem christlich geprägten Land und respektiere jeden gläubigen Menschen. Sehr gut kann ich mich an meinen ersten Kirchenbesuch erinnern. Ich war zu einer Tauffeier in der Ostermesse eingeladen. In der Kirche hängt ein übergroßer leidender Jesus am Kreuz, komplett mit Blut verschmiert. Wieso darf das und nicht das Leiden anderer Menschen gemalt oder gezeigt werden? Der kleine Junge Aylan Kurdi war Mensch – auch er hat gelitten, er ist ertrunken.

Ein Vorteil an unserem Bild besteht darin, dass man es nicht einfach wegklicken kann: Du musst beim Sonntagsspaziergang genau daran vorbeilaufen. Wenn es dich stört, beschwer dich, beschmiere es.

Es wurde tatsächlich beschmiert, wie hast Du darauf reagiert?

Oğuz Şen > Ich war überrascht, dass die Presse daran so interessiert war. Nach den Reaktionen im Internet hatten wir uns gedacht, dass etwas passieren könnte. Aber es wird irgendwann ausgebessert, und wir entscheiden, wann wir das machen. Darin besteht unsere Freiheit. Wir sind im Vorteil: Der Schmierer kann nur zerstören, wir können erschaffen.