Fremdes besitzt eine provozierend elementare Kraft. Fremdes irritiert. Fremdes ängstigt auch bisweilen. Vertrautes wird in Frage gestellt. Das Eigene kann durch die Begegnung mit dem Fremden plötzlich sogar selbst fremd erscheinen. Die Flüchtlinge aus der Fremde stellen unsere europäische Lebensweise in Frage und erinnern uns an das humanitäre, universale Versprechen der europäischen Idee. Gleichzeitig setzen sie ihr Leben dafür ein, Teil unserer Kultur zu werden. Statt solidarisch die moralisch-politische Herausforderung der Zeit mutig anzunehmen, schottet sich Europa ängstlich ab und schlittert in eine nie für möglich gehaltene Identitätskrise.
Europa läuft Gefahr, seine Seele zu verlieren. Wird durch das tägliche Drama auf dem Mittelmeer im Grunde eine schon länger schwelende Krise unserer europäischen Gesellschaften nicht gerade erst aufgedeckt? Dabei sollte Europa doch seine Wurzeln besser kennen. Flucht und Vertreibung durchziehen Europa als Erinnerungsspur von der Antike bis in die Gegenwart. Der Mensch ist ein homo migrans. Gerade die Bibel weiß das nur zu gut. Sie liest sich als eine große Erzählung von Flüchtlingsschicksalen: „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder ...“, heißt das älteste Glaubensbekenntnis Israels (Dtn 26,5). Die Bibel ist sicher kein Rezeptbuch für die aktuelle Krise. Sie führt uns aber in eine Kultur der Barmherzigkeit ein, die im Fremden den Gast und im Flüchtling den Nächsten sieht.
Papst Franziskus führt diesen Gedanken weiter aus, indem er betont: „Ich darf die anderen nicht katalogisieren, indem ich entscheide, wer mein Nächster ist und wer nicht. Es hängt vielmehr von mir ab, ob ich der Nächste bin – oder nicht – für den Menschen, dem ich begegne und der Hilfe braucht. Auch wenn er ein Ausländer ist oder feindlich gesinnt.“
„Dieses Bild ist nicht nur eine politische Provokation. Es ist ein Gedenkbild, stellvertretend für alle ertrunkenen Kinder im Mittelmeer.“
Justus COR Becker und Oğuz Şen sind freischaffende Künstler aus Frankfurt am Main.
Der großformatige Anblick der an den türkischen Strand gespülten Kinderleiche ist nur schwer zu ertragen. Nur drei Jahre ist Aylan Kurdi alt geworden. Kanada verweigerte seiner Familie wegen fehlender Pässe ein Visum. Die vierköpfige Familie wagte die Flucht über das Mittelmeer. Das Schlepperboot kenterte. Nur Aylans Vater überlebte. „Europa tot – Der Tod und das Geld“ ist der Titel des Graffitos von Justus Becker und Oğuz Şen unweit der Europäischen Zentralbank – mitten in Frankfurt. Das europäische Versagen in der Flüchtlingsfrage wird uns unausweichlich auf 120 Quadratmetern vor Augen geführt. Die „schlimmste humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Papst Franziskus) erhält ein menschliches Gesicht – vor unserer Haustür.