Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Caravaggio „Die Opferung Isaaks“ (1603), Uffizien, Florenz, Foto: Wikimedia

Die Pflicht, Kinder Abrahams zu sein

Die Geschichte Abrahams zeigt, dass Glauben auch immer heißt, sich entscheiden zu müssen. Nicht nur in Demut, sondern auch im Widerstand. Eine islamische Perspektive.

Die Genese des Islams ist doppelbödig. Als
eine Religion, die einerseits die überlieferte
abrahamitische Tradition reformuliert und
andererseits einen genuin eigenen, selbstständigen
theologischen Standpunkt mit einem universellen
Anspruch vertritt, beruht sie auf Demut und Widerstand.
Es ist dieser Doppelcharakter, den Muhammad
in seiner Haltung zur eigenen Prophetie übersetzt hat.
Ein Prophet zu sein, heißt für ihn, in Demut allem zu
widerstehen, allem voran seiner eigenen Überhöhung,
denn er ist kein Gottessohn, kein Engel, kein Unfehlbarer,
sondern ein Gottsucher. Dabei bleibt selbst die
Quelle seiner Prophetie, die Wirklichkeit Gottes, davon
nicht unberührt. Gott zu widerstehen, darf somit als
das erste Gebot des Islams gelten. Nicht irgendeinem
Gott, sondern allen Göttern, die wir sooft selbst sind.
In diesem Widerstehen stellt sich bei Muhmmad der
Glaube als Armut (faqr) ein. Die Erfahrung der tiefen
Armut in Bezug auf Gott macht erst die Gotttrunkenheit
Muhammads möglich. Wenn Armut Bedürftigkeit
bedeutet, dann ist der Anfang des Glaubens Gottbedürftigkeit,
die sich als Sehnsucht kundtut. Er ist
Gesandter und Prophet. Seine Gesandtschaft beruht
in Demut auf dem reinen Empfangen der göttlichen
Botschaft, seine Prophetie auf Widerstand zu diesem
Wort, das nicht einfach gilt, sondern mit Leben gefüllt werden soll. Die Geltung des Wortes muss das Wort
zum neuen Wort werden lassen. Indem er den Koran
lebte, interpretierte, konkretisierte, das Allgemeine
zum Besonderen und das Ewige zum Zeitlichen generierte,
ging seine Demut in Widerstand über. Demut
und Widerstand aus dieser Perspektive charakterisieren
im Kern eine dreifache Haltung, die sich jeweils
auf das eigene Selbst, auf die Welt und auf Gott beziehen.
Jeder dieser Widerstände werden dem Propheten
Muhammad durch den Koran vermittelt; aber die Vermittlung
des Korans hat eine eigene Narration, die allen
voran in Erzählungen und Motiven der biblischen
Tradition, aber mit einer dezidiert eigenen Botschaft
artikuliert wird.

Zur Aporie der hingebenden Demut

Der Islam fordert vom Menschen die vollkommene,
hingebende Demut. Wie kann diese hingebende Demut
aber gelingen? Und wie können wir heute die vollkommene
Hingabe verstehen? Weil die hingebende Demut
den Kern der Botschaft des Korans ausmacht, gilt Abraham
als ein herausragendes Beispiel, ein schönes
für die Muslime. Stets ist Abraham aber verstrickt in
Konstellationen, die Ursprünglichkeit bedeuten: Ursprünglich
ist sein Glaube, ursprünglich sein Gottvertrauen
und ursprünglich seine Geduld. Im Koran wird er als ein Mensch vorgestellt, der eine ursprüngliche,
reine, nahezu natürliche Gläubigkeit
(ḥanīf) repräsentiert. Abraham gilt zugleich
als ein Vorbild und „Freund Gottes“:
Als sein Vater ihn mit Steinigung droht, weil
er die alten Götter verschmäht habe, reagiert
Abraham nicht mit Widerstand gegen seinen
ungläubigen Vater, sondern bemerkenswert
demütig, indem er für ihn um Vergebung
bittet: „Friede auf dich! Ich werde Vergebung
erbitten für dich bei meinem Herrn. Er ist
mir gnädig zugeneigt.“ Und der Ewige belohnt
ihn, wenn es im Koran heißt: „Als er
sich entfernte von ihnen und von dem, dem
sie dienen außer Gott, da schenkten Wir ihm
Isaak und Jakob und machten sie beide zu
Propheten.“ Den Widerstand wendet Abraham
nicht gegen die anderen, sondern gegen
sich selbst, gegen die eigene „Feigheit“ und
„Faulheit“, um die zwei Kriterien zu nennen,
die Immanuel Kant in seinem berühmt gewordenen
Essay über die „Beantwortung der
Frage: Was ist Aufklärung?“ als Ursache der
selbstverschuldeten Unmündigkeit identifizierte.
Abraham ist ein Topos. Außergewöhnlich
seine Person, außergewöhnlich sein Leben
und außergewöhnlich seine Haltung.
Im Koran wird er in vierundzwanzig Suren
thematisiert. Es gibt jedoch kaum eine andere
biblische Figur, die derart herausfordernd
ist wie er, Abraham, der Zartfühlende,
der Sanftmütige. Die Prüfungen, die Gott
ihm zuteilwerden lässt, übersteigen nahezu
die Grenzen der Vorstellungskraft. Insofern
bleibt er uneinholbar und doch allzu
menschlich. Die Komposition seines Lebens
gleicht nicht selten dem Leben des Propheten
Muhammad.

Inwiefern ist aber Abraham im Leben
des islamisch-religiösen Menschen als ein
authentisches Leben gegenwärtig? Oder
bleibt er doch uneinholbar – als Abraham,
der Ideale, der Übermensch? Nein, Abraham
sind wir, jede/r von uns. Denn auch für uns
ist Gott Sehnsucht oder: Gott bleibt eine
Frage, vielleicht „die“ Frage des Menschen.
Damit ist eine der zentralen Bedeutungen
dessen angezeigt, was die Haltung der Muslime
prägt: Muslim/in ist, wer sich als ein
Fragender begreift. Sein Leben nicht von endgültigen, unverrückbaren Dogmen beherrschen
zu lassen, in Ohnmacht des Fatalismus,
sondern in Sehnsucht nach dem
zu trachten, was einen trägt, tröstet und erhebt,
stellt in aller Kürze das religiöse Leben
der Muslime dar. In diesem Akt des Fragens
ereignet sich zugleich diese Gegenwart
Gottes: „Nah bin Ich. Ich höre den Ruf des
Rufenden, wenn er mich anruft“, lässt Gott
im Koran erklingen. Nicht nur in Demut, im
Akt des fraglosen Hinnehmens ist Gott mit
uns, sondern auch in unserem Widerstand,
indem wir uns selbst widerstehen im Antlitz
eines Anderen, wie einst der Pallottiner-
Pater Richard Henkes, der in Dachau
Typhus-Kranke freiwillig gepflegt hat und
durch eine Ansteckung verstorben ist.

»Gott zu widerstehen, darf somit als
das erste Gebot des Islams gelten«

AHMAD MILAD KARIMI

Was tun wir indes, wenn wir glauben?
Wir hadern mit Gott – unaufhörlich. Denn
allein dieser Widerstand befreit uns als
Menschen, gibt unserem Antlitz die Würde,
die kein blasses Wort, sondern tätiges Engagement
bedeutet. Abraham als Sinnbild der Demut, der im Akt des äußersten Gehorsams im Glauben frei entlassen wird, hat
eine tragende Bedeutung. Frei ist allein der
sich Hingebende. Abraham ist Gegenwart;
immer dann, wenn er überholt geglaubt
wird, scheint er als Alter Ego der Gläubigen
auf. Abraham ist vor allem eine ambivalente
Figur, eine, die uns nicht fern und fremd sein
dürfte. Abraham kann nicht warten, um das
Bewahrheiten des göttlichen Versprechens,
dass er mit Sara einen Sohn bekomme, zu
erleben; er kann nicht widerstehen, denn
er zeugt mit der ägyptischen Magd Hagar
einen Sohn, den er aber mit seiner Mutter
verstößt (und zwar nicht nur einmal) und
buchstäblich in die Wüste schickt. Ist er
„unser“ Abraham? Oder lässt er sich nicht
vereinnahmen? Im Angesicht Abrahams
erfahren wir jedenfalls, dass Glaube auch
immer heißt: sich entscheiden zu müssen.
Aber warum? Und welches Menschen- und Gottesbild liegen hier zugrunde? Geht es bei
der Demut um die Bereitschaft zum bedingungslosen
Gehorsam gegenüber Gott? Die
abrahamitischen Religionen ringen mit dieser
Herausforderung.

Abraham wird von der Nachricht überwältigt:
„Wir verkünden dir einen Jungen,
einen klugen.“ Er sagte: „Verkündet ihr es
mir, obwohl mich das Alter erfasst? Was
verkündet ihr denn?“ Sie sagten: „Wir verkünden
dir in Wahrheit. So sei nicht einer
der Verzagten!“ Als ihm Ismael und Isaak
zuteilwerden, wird ihm sein Kind zur Prüfung
seines Lebens. Demnach wird das Thema
„Kind“ Abraham dreifach mit Demut und
Widerstand verstricken, und das immer in
existenzieller Hinsicht. Erstens muss er sich
zwischen Demut und Widerstand gegen seinen
Vater entscheiden, zweitens ist er herausgefordert,
in Demut darauf zu vertrauen,
dass er Vater werden wird, obgleich alles dagegen
spricht, sodass er nicht widerstehen
kann, sein Glück vom Versprechen Gottes
zu emanzipieren, und drittens, weil er sein
eigenes Kind opfern soll. Wobei die eigene
Note, die im Koran im Unterschied zur Bibel
enthalten ist, darin besteht, dass Abraham
seinem Kind nicht seine wahre Absicht verbirgt,
sondern in dieser prekären Grenzsituation
seinem Sohn die Wahrheit mitteilt: „O
mein Sohn, ich sah im Traum, dass ich dich
schlachte. So schau, was meinst du dazu?“
Er sagte: „O mein Vater, handle, wie dir befohlen.
Du wirst mich, so Gott will, unter den
Geduldigen finden.“ Insofern verkörpert
Abraham vor allem gehorsamsvolle Demut.
Erschüttert ist sein Herz von dem Befehl, der ihn im Traum heimsucht, und zugleich von seinem
Willen, den er zurücknimmt vor dem Willen Gottes.
Der Atem bleibt still. Und der Sohn zögert nicht, sich
seinem Vater in Demut und ohne Widerstand anzuvertrauen,
indem er sich der Geduld verschreibt.

Fordert Gott Menschenopfer? Will Gott blinde Hingabe
um jeden Preis? Bedeutet Demut die Umwertung
aller Werte? Ist nichts heilig im Angesicht Gottes,
außer seinem eigenen Befehl? Hätte nicht Abraham
entschieden „Nein!“ sagen können? Wäre der Schutz
seines Sohnes nicht heiliger als alles andere und zugleich
die eigentliche Prüfung, die er nicht bestanden
hat? Die Frage ist daher, ob Gott Demut oder Widerstand
gefordert hat. Kinder sind, wie der Koran mehrfach
daran erinnert, als Prüfung im Leben zu sehen.
Doch welche Prüfung? Abraham besteht indes in seinem
reinen Glauben die Prüfungen Gottes, so heißt
es im Koran: „Als sie beide ergeben waren und er ihn
auf die Stirn legte, da riefen Wir ihm zu: ‚O Abraham,
du hast bereits bewahrheitet das Traumgesicht.‘ (…)
Wahrlich, das war eine Prüfung, eine offenkundige!
Und Wir lösten ihn aus mit einem Schlachtopfer,
einem gewaltigen. Und Wir hinterließen für ihn bei
den Späteren: Friede über Abraham!“ Die Frage ist,
worin genau die Prüfung bestand. Oder besteht er die
Prüfung gerade nicht, weil ihn Gott nicht vollenden
lässt, wozu er bereit zu sein scheint?

Dem Widerstand widerstehen?

Der arabische Terminus für einen gebotenen kämpferischen
Widerstand ist ǧihād. Aber weder bedeutet
ǧihād Krieg noch heiliger Krieg; der Missbrauch dieser
Idee ist evident. Dahinter steht nicht der Islam als Religion,
weil der Islam kein Handlungssubjekt ist, sondern
ein ganz bestimmtes Verständnis des Islams, genauer
eine ganz reduzierte Gottesvorstellung und ein
verengtes Menschenbild. Widerstand besteht nicht in der Zerstörung und im Gefügigmachen des anderen,
der nicht meine Vorstellung oder meinen Glauben
teilt, sondern er ist eine verteidigende, abwehrende,
lebensschützende Haltung, wenn er sich auf die anderen
bezieht. Es darf unter keinen Umständen eine aktive,
aggressiv verletzende Gewalt im Sinn des Islams
geben. Der ǧihād ist eben Widerstand, keine Gewalt,
sondern die Reaktion darauf. Die Pervertierung dieser
Idee, die uns in der konkreten Gestalt des militanten
Islamismus begegnet, stellt bei aller Offenheit und aller
Berechtigung für Ambiguität keine legitime Leseart
des Islams dar, denn Hass und Verbrechen haben
an sich selbst keine Legitimität, weil ihnen eine innere
Instabilität innewohnt. Der gebotene Widerstand soll
den Menschen selbst erfassen, sodass es dabei allen
voran um eine individuelle Abmühung geht, um Kultivierung
des Selbst, um Einsatz für den anderen, um
Schutz des Lebens, um die Beherrschung des Zorns.

Der spirituelle Kern dieses Widerstandes besteht
darin, den Unglauben nicht außerhalb seines Selbst
zu verorten, denn der Ungläubige ist immer in uns
selbst, dem wir mit Widerstand begegnen sollen. Die
koranische Aufforderung gilt daher einem geistigen
Kampf, einem Ringen mit uns selbst: „Und müht euch
ab um Gott in rechtem Abmühen! Er hat euch erwählt
und euch nichts auferlegt, was euch in der Religion
bedräng.“ (Koran 22,78) Insofern darf in Abraham
nicht nur der Entwurf des reinen und wahren Glaubens
erblickt werden, sondern im gleichen Atemzug
auch der Gegenentwurf desselben. Seine Demut ist
janusköpfig. Worin besteht der Wert des Lebens, des
Menschen, der Freiheit im Angesicht Abrahams? Zum
einen stellt die Demut eine Tugend dar, bedingungslos
auf Gott zu vertrauen; dies tat Abraham und sein Vertrauen
wurde nicht enttäuscht. Zum anderen trägt die
Demut auch eine subtile Note der Passivität und Unfreiheit.
Deshalb ist die Demut in den religiösen Kontexten
in Verruf geraten – vielleicht zu Recht. Selbstbestimmung
und Autonomie scheinen keinen Raum
für einen Habitus bereitstellen zu können, der gerade als Gehorsam Realität findet. Besteht aber nicht
gerade darin die Missdeutung der Religion? Schlägt
nicht jede Aufklärung in Verklärung, wenn der Befehl
Gottes seine eigene Göttlichkeit in Frage stellt? Oder
besteht gerade in dieser Verklärung der eigentliche
Reiz des Religiösen, des Göttlichen? Der muslimische
Dichterphilosoph Muhammad Iqbal sagte einmal
eindrücklich: „Ich zittere, wenn ich sage: Ich bin ein
Muslim“. Von welchem Zittern ist hier die Rede? Worüber
verfügen wir? Bedeutet Demut einfach blinde
Unterwürfigkeit, militärische Unterwerfung? Wo ist
der adäquate Ort des Zweifelns im Glaubensgefüge?
Und welche Aktualität hat die Demut heute?

»Abraham ist die Stimme, die erklingen muss,
wenn der Widerstand zum Glauben gehört«

AHMAD MILAD KARIMI

Wir erleben die Demut vor allem in der Gestalt der
religiösen Ideologie. Gerade in unserer Gegenwart ist
die Abart des religiösen Wahns, des religiösen Fundamentalismus,
der unser Leben in Angst und Zittern
versetzt. Die Geste der Ideologie ist dabei der Form
nach fromm. Denn Leben wird als automatisierte
Dienstleistung für Gott gestaltet; Leben bedeutet
demnach, dieses zu opfern im Dienste Gottes. Nichts
ist heilig, nicht der Mensch, nicht die Schöpfung, ja,
alles ist wert, dass es zugrunde geht, wenn Gott will.
Aber die Pervertierung der religiösen Demut ohne
Widerstand beginnt dort, wo der Wille Gottes, was
Gott in Wahrheit will, als eindeutig verstanden gilt.
Die WillensvollzieherInnen Gottes, die Nietzsche als
„Truthähne Gottes“ bezeichnen würde, meinen Gott
internalisiert zu haben, als
würde das Blut Gottes in deren
Adern fließen. Gegenüber
dieser Haltung kann deshalb
keine Toleranz ausgeübt werden,
weil sich dann die Toleranz an ihr selbst verraten
würde. Hier fehlt allen voran die Einsicht in die
eigene Fehlbarkeit und damit auch der erste Grundsatz
der Toleranz nach Voltaire, der schreibt: „Was ist
Toleranz? Sie ist Menschlichkeit überhaupt. Wir sind
alle gemacht aus Schwächen und Fehlern; darum sei
erstes Naturgesetz, dass wir uns wechselseitig unsere
Dummheiten verzeihen.“ Diese „epistemische Demut“
besteht darin, erstens um seine Fehlbarkeit zu wissen
und zweitens mit der eigenen Fehlbarkeit in Demut
zu leben. Wie konnte Abraham sicher sein, dass
es Gott war, der ihm im Traum zur Kindesopferung gerabewegte?
Auch hier scheint Abrahams blinde, hörige
Demut wirksam zu sein. Aber das ist bloß der Schein.
Das zersetzende Element der religiösen Ideologie ist
dabei der entgöttlichte Gott, dessen Name so tief ins
Herz eingebrannt ist, wodurch das Herz nicht mehr
pulsiert. Gott symbolisiert nämlich den Schlachthof
des Lebens. Allein darin ist uns „der“ Abraham ein
Vorbild, der abgehalten wird, zu opfern, was es zu
schützen gilt.

Was heißt es, Kinder Abrahams zu sein?

Das ist eine Frage, die sich allen voran der Prophet
Muhammad stellte, als ihm der Koran ans Herz legte,
sich dem Glauben Abrahams zu widmen. Dabei ist die
Perspektive des Kindes von großer Bedeutung. Sind
nicht Kinder von Natur aus Wesen des Widerstandes,
die wir dann zur Demut disziplinieren wollen – und
nicht selten glücklicherweise daran scheitern? Das
Kind Abraham, das um Vergebung für seinen Vater
bittet, das Kind Ismael, das mit seiner Mutter Hagar
verstoßen wird, das Kind Isaak, das geopfert werden
soll, das Kind Josef, das verraten, verkauft und
versklavt wird, das verlassene Kind Mose im Korb im
Meer, das Kind Jesu, Sohn der Maria, das vaterlos geboren
in der Wiege spricht, das Kind Muhammad, das
als Waise leben muss – von ihnen allen können wir
lernen, an ihnen allen haben wir ein Gleichnis, sofern
wir uns als Kinder Abrahams begreifen, die mit Abraham
nicht in Demut, sondern in Widerstand leben.

Kinder Abrahams zu sein bedeutet, die Kinderrechte
zu beachten, uns für die Rechte der Kinder zu
erheben, nicht wegzuschauen, wenn Kinder misshandelt,
sexuell missbraucht werden, nicht hinzunehmen,
wenn Kinder für kriegerische Zwecke instrumentalisiert
werden! Kinder Abrahams zu sein, heißt, dafür
zu kämpfen, dass es keine Kriegskinder mehr geben
soll, dass Kinder auf der Flucht humanitär behandelt
werden, dass kein Kind an irgendeiner Grenze stehen
bleiben und verhungern darf! Kinder Abrahams
zu sein, heißt, dass kein Flüchtlingskind tot am Ufer
eines Meeres atemlos von Wellen durchnässt wird!
Kinder Abrahams zu sein, heißt, dass keine Frau von
keiner Organisation als Mensch zweiter Klasse systematisch
hinter den Männern deklassiert wird, dass
jede Frau in jeder Hinsicht gleichberechtigt ist! Kinder Abrahams zu sein, heißt zu brennen,
wie einst Abraham, wenn eine Synagoge
verbrannt wird, und verfolgt und vertrieben
zu sein, wie einst Hagar und Ismael, wenn
Christen verfolgt werden. Kinder Abrahams
zu sein, heißt, dass nicht die blinde Nachahmung
und toter Gehorsam unsere Hingabe
tragen, sondern das Vertrauen darauf,
dass nicht allein Gott, sondern auch sein
Werk für heilig erachtet werden müssen,
um dem lebendigen Glauben Abrahams gerecht
zu werden. Abraham ist deshalb keine
Vergangenheit, keine alte Erzählung, die als
Sinnbild einer unreflektierten Demut gelten
soll, sondern die Stimme von morgen, die
erst zum Erklingen kommen muss, wenn der
Widerstand zum Glauben gehört.