Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Zeichnungen von Volker Schlecht, Foto: Cornelia Steinfeld

»Und wenn die Wahrheit mich vernichtet«

Die erweiterte Ausgabe der Graphic Documentary zu Pater Richard Henkes führt Jugendliche auf Grundlage historischer Geschehnisse und überlieferter Briefe das Leben und Wirken des Pallottinerpaters lebendig vor Augen.

Richard Henkes gehört zu den Personen,
die das christliche Menschenbild
gegen die Ideologie der
Nationalsozialisten verteidigt haben. Nach
der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten
geriet der Pallottinerpater aufgrund
seiner kritischen Äußerungen über
das Nazi-Regime zunehmend ins Visier der
Gestapo. Als Lehrer, Exerzitienmeister und
Seelsorger bezog Richard Henkes offensiv
Stellung zur antichristlichen Propaganda,
beteiligte sich an der Vervielfältigung und
Verbreitung der Enzyklika „Mit brennender
Sorge“ sowie der regimekritischen Predigt
des Münsteraner Bischofs Clemens August
Graf von Galen zum sogenannten „Euthanasie“-
Programm. Richard Henkes sagte, was
nicht mehr gesagt werden durfte. Mehrfach
zeigte man Pater Henkes an, bis er am 8. April
1943 verhaftet und nach über sieben Wochen
in Einzelhaft ins Konzentrationslager
Dachau deportiert wurde. Als Ende 1944 im
Lager eine Flecktyphus-Epidemie ausbrach,
meldete er sich freiwillig für die Pflege der
Kranken. Dabei infizierte er sich und starb
am 22. Februar 1945 nur wenige Wochen
vor der Befreiung des Lagers. Pater Richard
Henkes blieb bis zuletzt seinem Ideal treu:
„Meine stärkste Seite ist ja die opferwillige
Hingabe aus Liebe. Ich … will Opferpriester
werden, Kreuzträger für andere.“ Papst
Franziskus hatte im Dezember 2018 Richard
Henkes als Märtyrer anerkannt. Am 15. September
2019 wurde der Pallottinerpater
Richard Henkes im Limburger Dom seliggesprochen.

Graphic Documentary – ein Comic?

Pünktlich zur Seligsprechung erschien die
Graphic Documentary mit dem Titel „Und
wenn die Wahrheit mich vernichtet – Pater
Richard Henkes im KZ Dachau“. Ein Comic
über das Leben von Richard Henkes im
KZ-Dachau? Und Richard Henkes als Comic-
Held? Geht so etwas? Bei der Graphic
Documentary zu Pater Henkes handelt es sich um eine neue Literaturform, eine Art
„Hybridtext“. William Erwin Eisner, ein
US-amerikanischer Zeichner von Comics, gilt
als Begründer dieser comicähnlichen Werke,
die ursprünglich als Graphic Novel bekannt
wurden. Eisner bezeichnete sie als „a form of
comic book“. Sprech- und Gedankenblasen
sind am Comic angelehnt, während die Bilder
– mit oder ohne Text – die Handlung erzählen.
Dabei werden die Möglichkeiten von
Bild-Text-Kombinationen, wie z.B. in Bilderbüchern
oder Comics, überschritten. Die
Graphic Novel schafft etwas Neues: Sie verbindet
die Vielschichtigkeit des Erzählens
mit den Bildern zu einer illustrierten Erzählung
mit komplexer Handlung. Anstelle der
stereotypen Charaktere in Comics tauchen
nun vielschichtige und wandelbare Figuren
auf. Längst schon hat die Graphic Novel in
allen Altersgruppen Leserinnen und Leser
gefunden, denn neben unterhaltsamen Themen
werden auch ernste und gesellschaftlich
bedeutsame Ereignisse behandelt und
dokumentiert, wie bei Pater Richard Henkes.
Die Orientierung an historischen Fakten und
die Einbeziehung überlieferter Quellen führt
zu einer stark dokumentarischen Illustration
über das Leben und Wirken des Pallottinerpaters,
weshalb es sich um eine Graphic
Documentary handelt.

Konzept und Gestaltung

Die Berliner Illustratoren Volker Schlecht
und Alexandra Kardinar, die den Künstlernamen
„Drushba Pankow“ (www.drushbapankow.
de) führen, erstellten die Graphic
Documentary. Das Storyboard und die Illustration
entwickelte Volker Schlecht, während
die Kolorierungen von Alexandra Kardinar
stammen. Die Autoren haben sich vor
Beginn ihrer Arbeit über Monate intensiv in
die Biografie und das nicht einfache Thema
eines katholischen Märtyrers eingearbeitet.
Mit beeindruckender Ernsthaftigkeit gehen
die Künstler der Frage nach, was zur Verhaftung
von Richard Henkes führte und ihn
motivierte, seinen Worten bis in letzter Konsequenz
Taten folgen zu lassen. Die fiktionalen
Figuren des Erzählers und seiner Frau,
die auf beeidigten Zeugenaussagen beruhen, leiten in die Handlung ein, die im Konzentrationslager
Dachau spielt. In mehreren
Rückblenden, die sich aus dem Gespräch
des fiktiven Erzählers und Richard Henkes
entwickeln, werden verschiedene Lebensabschnitte
von Pater Henkes thematisiert: die
Pflege des kranken Mitbruders Franz Xaver
Salzhuber, der Soldat Henkes während des
Ersten Weltkriegs, seine Krisenzeit im Priesterseminar,
sein Wirken in Frankenstein und
Branitz, die Verhaftung und schließlich die
Zeit im KZ Dachau bis zu seinem Tod.

Richard Henkes mit Schülern behandeln

Für den Einsatz im Unterricht eignet sich
insbesondere die „erweiterte Ausgabe“ der
Graphic Documentary. In acht Kapiteln
können sich die Schülerinnen und Schüler
den verschiedenen Lebensabschnitten von
Richard Henkes nähern, wobei jedes Kapitel
durch thematisch vertiefende Texte oder
Briefe des Pallottinerpaters erweitert ist.
Die Texte stellen eine überarbeitete Fassung
der biografischen Erzählung „Ein Lebensbild“
von Pallottinerpater Alexander Holzbach
dar.

Die Graphic Novel hat mittlerweile als
Adaption von großen literarischen Werken
oder als eigenständige Form erzählender Literatur
in den Unterricht Einzug gehalten,
wie beispielsweise die Graphic Novels „Anne
Frank“, „Sophie Scholl“, Goethes „Faust“ oder
„Die Verwandlung“ von Kafka zeigen. Wenngleich
sich manchem buchaffinen Lehrer
Sorgenfalten bilden angesichts der Textfülle
bedeutender literarischer Werke im
Verhältnis zur Graphic Novel, so birgt doch
die graphische Erzählung einen Eigenwert,
indem die visuelle Ebene einbezogen wird,
wodurch sich neue Deutungsmöglichkeiten
eröffnen. Zudem wachsen die Kinder und
Jugendlichen angesichts der modernen Medien
und Kommunikationsformen heute in
einer stark von Bildern geprägten Welt auf.
Bei der Lektüre einer Graphic Novel sind Sehverstehen, lesendes Verstehen und die Wahrnehmung
der Farben und Formen von großer Bedeutung.
Ebenso müssen die Panel-Sequenzen und Kompositionen
erkannt und verstanden werden. Die multiliterale
Auseinandersetzung zwischen Bild und Text verlangt
von den Schülerinnen und Schülern ein gewisses Verständnis
von Intertextualität. Zudem kann eine ansprechende
Darstellungsweise in der Graphic Novel
auch „Lesemuffel“ motivieren, sich eingehender mit
dem Inhalt zu befassen.

»In Rückblenden werden
verschiedene Lebensabschnitte von
Richard Henkes thematisiert«

ANDREAS THELEN-EISELEN

Die Auseinandersetzung mit dem Unrecht und den
Verbrechen des Nazi-Regimes im Dritten Reich führt
im Religionsunterricht zu der Frage nach dem Verhältnis
von Kirche und Christen zur Ideologie und
dem Staat der NS-Zeit. Dabei bietet die Behandlung
des Themas den Jugendlichen Lernchancen, politische
Missstände zu entlarven und Beispiele für Zivilcourage
und großen persönlichen Mut zu entdecken.
Die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass und
warum Christen ihrem Gewissen als „Ruf der Stimme
Gottes“ folgten und aktiv Widerstand leisteten. Der
Pallottinerpater Richard Henkes ist ein Beispiel solchen
christlichen Bekennermuts und handelte bis zuletzt
nach seinem Glauben und Gewissen. Früh schon
wählte Henkes ein hohes persönliches Ideal: „aut
Caesar – aut nihil“, alles oder nichts. Kritisch überprüfte
er die Aussagen der nationalsozialistischen
Propaganda und entlarvte die menschenfeindliche Ideologie des
NS-Regimes. Auf der Kanzel, in Vorträgen und bei
Exerzitien prangerte Henkes die Verbrechen der Nazis
an, verurteilte die Tötung von Behinderten und psychisch
Kranken, verteidigte die Freiheit und Würde
aller Menschen und pflegte freiwillig die schwerkranken
Häftlinge nach Ausbruch der Typhusepidemie im
Konzentrationslager Dachau.

Über die singuläre historische Situation hinaus
können die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass
auch gegenwärtig in Zeiten von Krisen, Konflikten und
Flucht extremes Gedankengut an Popularität gewinnt.
Die rechtsextreme Szene weiß das für sich zu nutzen, indem sie mit den Ängsten, Sorgen und Befürchtungen
mancher Menschen spielt und ethnische Gruppen
für die gesellschaftlichen Missstände verantwortlich
macht. Umso wichtiger ist es, die Jugendlichen
für die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu
sensibilisieren und zu verdeutlichen, dass es in der
Verantwortung jedes Einzelnen liegt, diese Werte zu
verteidigen.

Lehrerhandreichung zur erweiterten Ausgabe

Das Arbeitsheft „Und wenn die Wahrheit mich vernichtet“
setzt sich mit dem Leben und Wirken von
Pater Richard Henkes auseinander. Anhand von 6
Bausteinen bietet die Lehrerhandreichung abwechslungsreiche
Unterrichtsvorschläge für die Sekundarstufe.
Alle Arbeitsmaterialien beziehen sich auf die
erweiterte Ausgabe der Graphic Documentary, die als
Lektüre und Grundlage für die Arbeit mit Schülerinnen
und Schülern dient. Aufgrund der Thematik sowie
der Literaturform der Graphic Documentary bietet
sich insbesondere das fächerverbindende Lernen mit
den Fächern Religion, Geschichte und Deutsch an, sodass
die Inhalte und Themen der einzelnen Fächer in
einen Sinnzusammenhang gestellt und aufeinander
bezogen werden können. Auf diese Weise können sich
die Jugendlichen über einen Zeitraum hinweg intensiv
und differenziert mit dem Themenbereich befassen
und lernen gleichzeitig die Besonderheiten des
jeweiligen Fachs kennen.

Der erste Baustein konfrontiert mit den unmenschlichen
und lebensbedrohlichen Umständen im
Konzentrationslager Dachau. Trotz der unvorstellbaren
Verhältnisse wird deutlich, dass der Glauben vielen
eine Kraftquelle war und dabei Trost sowie Zuversicht
in der lebensfeindlichen Umgebung spendete.
Im zweiten Baustein steht die Geschichte des Konzentrationslagers
Dachau von 1933 bis zur Gegenwart
im Mittelpunkt. Dabei richtet sich der Blick auf die
angrenzenden Gedenkorte, das ehemalige Außenlager
Mühldorf, die Geistlichen im KZ Dachau, die Aussagen
von Zeitzeugen und die Märtyrer des Glaubens.

Der dritte Baustein lenkt den Blick auf die Person
Richard Henkes und sein Verständnis vom Priester-
Sein als Kreuzträger für andere. Im Mittelpunkt
stehen die Erlebnisse im Ersten Weltkrieg, die Studienjahre
in Limburg, die Pflege des kranken
Mitbruders Franz Xaver Salzhuber und die
Krisenzeit vor seiner Priesterweihe. Im vierten
Baustein steht die Auseinandersetzung
mit dem Reichskonkordat, welches das Verhältnis
zwischen dem Deutschen Reich und
dem Heiligen Stuhl regeln sollte, und der Enzyklika
„Mit brennender Sorge“ im Fokus, in
der Papst Pius XI. gegen die Konkordatsbrüche
protestierte und dem NS-Regime eine
kirchliche Absage erteilte. Pater Henkes hat
die Enzyklika am 21. März 1937 dreimal von
der Kanzel verlesen. Ebenso protestierte er
öffentlich gegen das sogenannte „Euthanasie“-
Programm der Nazis und verurteilte die
Mordaktion. In Hadamar, unweit des Heimatorts
von Pater Henkes, befand sich eine
von insgesamt sechs Tötungsanstalten, die
im Rahmen des „Euthanasie“-Programms
der Nationalsozialisten errichtet wurden.
Daher befasst sich der fünfte Baustein mit der NS-Rassenhygiene, der Ersten und Zweiten
Mordphase, dem Protest des Münsteraner
Bischofs von Galen, der Tötungsanstalt
Hadamar sowie den Tätern und Opfern. Der
sechste Baustein blickt auf den Lebensweg
von Richard Henkes bis zu seinem
Tod zurück, seine persönliche Spiritualität,
die Kraft seines christlichen Glaubens und
sein Gottvertrauen. Gleichzeitig richtet sich
der Blick in die Zukunft: Was ist Rechtsextremismus?
Welche Gefahren gehen vom
Rechtsextremismus aus? Wie kann damit
umgegangen werden und welche Verantwortung
trage ich als Staatsbürger und Christ?

»Richard Henkes ist
ein Beispiel christlichen
Bekennermuts«

ANDREAS THELEN-EISELEN

In der Auseinandersetzung mit Pater
Richard Henkes können die Schülerinnen und Schüler erkennen, weshalb es auch heute
noch von Bedeutung ist, sich als Staatsbürger
und Christ für politische Gerechtigkeit
und die Einhaltung der Menschenrechte
mit persönlichem Engagement einzusetzen:
„Wir sollten uns bemühen, unseren berechtigten
Stolz anders zu verstehen als in Aufmärschen
und kraftvollen Demonstrationen,
in Uniformen, und überheblichen Parolen,
gesichert in der stumpfen Ballung der Massen
… Das Leben ist der Ernstfall.“