Im Anfang war die Flucht...
Flüchtlinge sind die Pioniere des 21. Jahrhunderts.
Als wir zum Termin nach Andernach fuhren, räumten wir beide ein, dass wir noch nie bewusst Menschen getroffen haben, die in der Presse global als »Flüchtlinge« bezeichnet werden. Vielleicht ist diese unsichere Unkenntnis typisch für Bewohner Westeuropas; daher die Maskerade einer exorbitanten Informiertheit, die blind macht.
Jedenfalls: Wir fuhren nach Andernach um »Flüchtlingen« zu begegnen. Die Menschen, die sich bereit erklärt hatten, sich mit uns für Interviews und Fotos zu treffen, waren alles andere als das, was wir erwartet hatten: Ihre Geschichten und Pläne klangen nicht bedrückend, sondern waren eine Schockbehandlung mit Herzenswärme.
Frau Mahnaz Loosen suchte vor 27 Jahren mit ihrem Kind in Deutschland Asyl. Durch ihre ehrenamtliche Arbeit ermöglicht sie Menschen aus völlig unterschiedlichen Situationen zusammenzukommen, um ihre Flucht nicht als einen Abbruch, sondern als eine Chance wahrzunehmen. Sie und andere am Tisch helfen in ehrenamtlicher Tätigkeit anderen Menschen, die eine ähnliche Situation durchmachen wie sie – unabhängig von deren Herkunft, Hautfarbe oder Religion.
Die Biographie der Iranerin Loosen ermöglicht vielen eine Identifikation, auch ein Vorbild, weshalb sie von vielen als »Mutter Loosen« oder »Schwester« angesprochen wird. Jalal Kasouha schaut gerade noch auf seinem iPad, wann der nächste Bus fährt, denn er muss zu einem Termin: Er erzählt, dass er in Syrien in der Tourismus-Branche arbeitete. Vor dem Krieg hatte er in einem Projekt gearbeitet, das die Zahl der Touristen von zwei auf fünf Millionen erhöht hatte. »Ich will hier eine Karriere in Tourismus machen«.
In deutschen Debatten kursieren häufig Begriffe wie »Flüchtlingsdrama« oder »Flüchtlingsproblematik«. Diese (teilweise widerlichen) deutschen Debatten, auch in katholischen Kreisen, dachten wir, stinken nach einem gönnerhaften Paternalismus. Doch das charmante Paar Salam und Valentina Ali sieht dort ihre Zukunft, wo die behäbige Imagination Europas leer gelaufen ist und sich nur noch selbst gefällt. Flüchtlinge sind die Pioniere des 21. Jahrhunderts.
Salam Ali arbeitete zunächst in einem Logistikzentrum in der Nachtschicht. Seine Frau Valentina schaut forsch durch ihre Designerbrille und erzählt, welche Anstrengung es war, als sie – gerade eine junge Familie geworden – sich nur eine Stunde am Tag sehen konnten, da sie, nachdem Alis Asylantrag bewilligt wurde, buchstäblich Tag und Nacht arbeiteten.
Valentina, die selbst die Tochter von syrischen Einwanderern ist, ist stolz darauf, dass Ali inzwischen in einem Supermarkt eine Ausbildung absolvierte und jetzt über ein Angebot als Marktleiter nachdenken kann. Auch freuen sie sich, dass sie bald erneut Nachwuchs haben werden – keine Spur von Existenzangst. Alis Motiv ist ein wohlbekanntes: Er arbeitet, damit seine Kinder es besser haben werden.
An solchen Tischen, meint man, und in solchen Biographien,wird sich die Zukunft Europas entscheiden. Es ist daher Zeit auf diese Biographien zu blicken, zu staunen und sich von der Energie, dem Vertrauen inspirieren zu lassen: Denn diese Menschen haben Lust auf Zukunft im Offenen, auch im Unentschiedenen, im Unbekannten und im Neuen – sehr viel Lust.
Parvana Babzazadeh, Aserbaidschan
»Habe in Aserbaidschan als Lehrerin für Literatur gearbeitet. Ich möchte diesen Beruf auch hier ausüben und anderen Menschen unsere Literatur nahe bringen. Ich wünsche mir eine bessere Bildung für meine Tochter. Für meine Heimat wünsche ich mir mehr Gleichberechtigung und weniger Korruption. Ich will, dass die Besatzung in meinem Land aufhört.«
Salam Ali, Syrien
»Ich habe eine Ausbildung hier in Deutschland absolviert. Ich will irgendwann einen eigenen Markt betreiben. Ich will eine bessere Zukunft für unsere Kinder schaffen.«
Valentina Ali, Syrien
»Bin eigentlich zufrieden mit meinem Leben. Ich will Leuten helfen, die eine ähnliche Erfahrung hatten wie ich selbst. Wenn ich meine Landsleute oder auch andere Asylbewerber unterstütze, Fuß zu fassen, hoffe ich, dass ihr Mut und Zusammenhalt auch auf die Einheimischen überspringen kann.«
Josias Küppers, Ecuador
»Ich habe IT studiert. Ich möchte hier Ingenieur werden und Robotik studieren. In Ecuador habe ich geholfen den Analphabeten das Lesen beizubringen. In Deutschland unterstütze ich derzeit die Arbeit mit Senioren. Ich will diese Arbeit auch ehrenamtlich weiterverfolgen.«
Hanim Demir, Türkei
»Ich habe meine Familie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Ich will sie wieder in die Arme nehmen. Ich wünsche mir, dass die Türken auch andere Völker innerhalb ihrer Grenzen anerkennen. In meiner Arbeit für die PKK versuchte ich mehr reale Demokratie in meinem Land zu fordern. Die Deutschen sollten keine Verbrecher in den Regierungen anderer Staaten dulden. Ich wünsche mir aber auch in Deutschland mehr gleichberechtigte Augenhöhe und die Anerkennung des ehrenamtlichen Engagements von Ausländern für Ausländer. Ich baue mir hier eine friedliche Zukunft auf, denn ich bin eine Kämpferin!«