Mit Helden ins Gespräch kommen
„Modelle – Vorbilder – Leitfiguren; Lernen an außergewöhnlichen Biografien“
Die Frage stellte Andreas Thelen-Eiselen
„Modelle – Vorbilder – Leitfiguren; Lernen an außergewöhnlichen Biografien“ lautet der Titel Ihres aktuellen Buches. Es stellt eine Überarbeitung und Neukonzeption des 2005 erschienenen Buches „Lernen an (außer-)gewöhnlichen Biografien“ dar. Dieses Buch ist mittlerweile vergriffen. Kann man hieraus ableiten, dass die Thematik trotz der modernen Ideale von Individualisierung, Autonomie und Selbstverwirklichung eine Renaissance erlebt? Sind Vorbilder wieder „in“?
Tatsächlich war die Vorbildthematik bis zur Jahrtausendwende gesellschaftlich und pädagogisch ziemlich „out“. Das lässt sich sowohl an empirischen Ergebnissen, z.B. den Shell-Studien, als auch am Fehlen entsprechender Bücher und Materialien im Bereich der Pädagogik feststellen. Als der Zeitgeist Emanzipation und Selbstentfaltung forderte, war für Vorbilder kein Platz. Hinzu kommt aber auch ein problematisches Verständnis vom Vorbild, von dem man sich gerade mit dem kritischen Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit in Deutschland distanzierte: die Bewunderung, Verehrung und Nachahmung großer Führer und Helden. So konnte Margarete Mitscherlich 1978 mit Recht „Das Ende der Vorbilder“ proklamieren. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet: Der Mythos der Moderne, der selbstbestimmte Mensch könne sich aus eigenen Kräften eine Identität stiften, hat sich längst verflüchtigt. Der Einzelne braucht in einer schnelllebigen und unsicheren Zeit Orientierungsmarken außerhalb der eigenen Person. Dieses Bedürfnis nach Vorbildern schlägt sich dann in empirischen Daten und in einer zunehmenden Literatur auch auf dem pädagogischen Sektor nieder. Ja, Vorbilder sind wieder in, man muss allerdings genau klären, welche Bedeutung ihnen im Erziehungsprozess zukommt und wie sie didaktisch verantwortlich ins Spiel gebracht werden können! Denn statt Bewunderung und Nachahmung geht es nun um eine konstruktive, kritische und dialogische Auseinandersetzung nach den Modalitäten eines diskursethischen Lernens.
Insbesondere für Kinder nehmen die Eltern und die „größeren“ Geschwister eine bedeutende Rolle als primäre Vorbilder ein. Durch die Beobachtung der Interaktionen in der eigenen Familie und der Nachahmung ihres Verhaltens können die Kinder tagtäglich auf vielfältigen Ebenen lernen. Da die Pluralisierung der Gesellschaft sich auf die „klassische“ Familienform (Vater – Mutter – Kind) auswirkt, stellt sich die Frage, inwieweit oder ob dies überhaupt eine Veränderung der Vorbildfunktion der Familie nach sich zieht.
n der medialen Deutung, wer denn nun die Vorbilder von Kindern und Jugendlichen sind, neigt man dazu, Medienhelden zu benennen. Alle seriösen Untersuchungen, bei denen die Fragestellung nicht auf eine oberflächliche Bewunderung beschränkt, sondern deutlicher auf Beziehungs- und Orientierungsprozesse hin angelegt ist (z.B. „Wem vertraust du?“ oder „Von wem kannst du etwas lernen?“), verdeutlichten, wie wichtig die Menschen aus dem Nahbereich – Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel und Geschwister – als Vorbilder für heutige Kinder und Jugendliche sind. Auch nach dem Ende der Großfamilie spielt der Beziehungsraum Familie die zentrale Rolle im Leben von Kindern und Jugendlichen; wir wissen aus vielen Studien, dass die Familie die Ressource ist, aus der heraus sie leben und auf die sie zusteuern. Problematisch ist sicher, wenn Kinder zuhause massive menschliche Defiziterfahrungen erleiden – da ist die Größe der Familie zweitrangig. Die Mehrzahl der Kinder lebt heute allerdings in irgendwie gearteten Familienkonstrukten – mal ist es die zweite Mutter oder der dritte Vater, aber vielleicht erweitern ja gerade moderne Patchworkfamilien den Beziehungshorizont von Kindern heute. Wenn es beispielsweise alleinerziehenden Vätern oder Müttern gelingt, Beziehungsnetze aufzubauen, dann ergeben sich für die Kinder vielfältige Kontaktsituationen zu anderen Menschen, die in ihrer Weise, Leben zu bewältigen, Orientierungsfiguren werden können. Die Pluralität ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, und wenn Kinder und Jugendliche schon in der Primärsozialisation mit Menschen unterschiedlicher Herkunft und Einstellung Berührungspunkte haben, trägt das zur Entwicklung einer Pluralitätsfähigkeit bei. Das ist allemal besser als manch miefig-enge und sprachlose bürgerliche Kleinfamilie in der Nachkriegszeit, von denen sich Jugendliche mit Recht emanzipieren mussten.
Heilige gelten als Maßstab und Vorbild für ein christliches Leben. Doch gerade die Lebensentwürfe von Heiligen sind für die Kinder und Jugendlichen aufgrund ihrer Alltagsferne kaum greifbar. Zudem sind die christlichen Großgestalten wie z.B. Franz von Assisi oder Mutter Teresa den Schülern schon mehrfach im Religionsunterricht begegnet, sodass ein Interesse an einer weiteren Beschäftigung oftmals gering ist. Bieten nicht (aktuelle) Stars und Idole der Medienwelt Anregungen für den eigenen Lebensentwurf und stellen Möglichkeit zur Nachahmung und Identifikation bereit?
Ich gestehe, dass meine Auseinandersetzung mit der Vorbildthematik durchaus dialektische Züge trägt. In einer ersten Phase erfolgte das Plädoyer für die Bedeutung von „Local heroes“ in Abgrenzung zu den großen Heiligen, die nach meinen Beobachtungen in ihrer Verwendung im Religionsunterricht einige markante Nachteile haben: Sie sind gerade in ihrer religiösen und ethischen Vollkommenheit (so werden sie zumindest häufig präsentiert!) tatsächlich äußerst weit weg vom Alltag heutiger Kinder und Jugendlicher („So kann und will ich nicht werden“ ist dann die Reaktion), sie werden häufig moralisierend im Sinne eines Nachahmungslernens eingesetzt und, wie Sie ganz richtig feststellen, es werden immer wieder dieselben Allzweckheiligen thematisiert. Wenn man allerdings die Patina von den Heiligenlegenden abnimmt, wird deutlich, dass die meisten Heiligen weit spannender sind und gerade in ihrer menschlichen Gebrochenheit, in ihren Zweifeln und in ihren Lebensentscheidungen genug Anlass bieten, um diskursethisch an ihnen zu lernen. An der Person Franz von Assisi bieten gerade seine zahlreichen Ambivalenzen Lernchancen (vgl. dazu KatBl139 (2014), 174-180): seine Schöpfungsliebe angesichts der eigenen körperlichen Gebrechlichkeit, seine Einfachheit bis hin zur Radikalität, seine Gottsuche gerade auch in nonkonformistischer Form. Im Kosmos der klassischen Heiligen gibt es noch Vieles wiederzuentdecken, was sie zu spannenden Personen werden lässt, an denen sich heutige Kinder und Jugendliche spiegeln können! Wenn es gilt, dass jeder Mensch, in seiner Art und Weise zu leben, ein Bild der Anschauung werden kann, dann wird der Himmel Aller-Heiligen, an denen man lernen kann, tatsächlich unermesslich groß; Ja, auch an Medienhelden kann man lernen, an Sportlern, Musikstars, Kinohelden und den Alltagsfiguren der Daily soaps – ebenso wie an gebrochenen Biografien, und sogar an Lehrkräften!
Ein Blick in die aktuelle Fernseh- und Kinowelt offenbart das Heldenimperium der Marvel-Comics. Superhelden wie Spider-Man, Iron-Man, Captain America u.v.m. erzeugen den stillen Wunsch, selbst über phantastische Kräfte und Eigenschaften zu verfügen. Insbesondere Kinder schlüpfen gerne maskiert und verkleidet in die Rolle ihres Superhelden. Können diese fiktiven Helden trotz ihrer überragenden Fähigkeiten, die der Phantasiewelt entspringen, einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung leisten?
Gerade diese Superhelden implizieren ein großes Entgrenzungspotenzial. Der schmal-
brüstige Sebastian, die übervorsichtige Tanja, der ängstliche Ben, die gehemmte Sophie – sie brauchen in der Zeit, wenn die eigenen Kräfte nicht ausreichen, übermächtige Wunschbilder, die „einfach mal die Welt retten“ können. Es mag zwar nicht Christus sein, den sich Kinder und Jugendliche als neues Gewand anlegen (Gal 3,26), aber wenn es gilt, sich Ziele zu setzen, kann das Trikot eines Fußballstars, das man sich als neue Haut überzieht, zeitweilig hilfreich sein – oder das Poster bzw. das Youtube-Video eines Popstars. Bei unseren Unterrichtsversuchen wird hier immer deutlich, wie selbstbewusst und zielgerichtet Kinder und Jugendliche die entsprechenden Medienfiguren benennen, die sie für Teilsegmente des eigenen Lebens als Vorbilder erachten – nicht weniger, aber auch nicht mehr! Gerade die genannten Helden im Einsatz für das Gute in der Welt tragen dazu bei, dass sich bei Kindern und Jugendlichen ein moralisches Universum entwickeln kann. Irgendwann werden diese Helden lebensgeschichtlich wieder verabschiedet. Gerade in der Jugendzeit, wo es um das Ausprobieren von Lebensentwürfen im Sinnzusammenhang geht, sind solche „bedeutsamen Anderen“ („significant other“ nach James Fowler) für die Entwicklung der eigenen Person wichtig. Eine ganz aktuelle Studie ergab, dass Jugendliche durchaus aus Kinofilmen wie „Die Tribute von Panem“ eine identitätsfördernde Funktion generieren können. In diesen Kontext dann die „abgefahrenen“ Extremisten Gottes, die Heiligen, Märtyrer und biblischen Figuren in ihrer Exotik, Menschlichkeit, Gebrochenheit, Außergewöhnlichkeit und Grandiosität didaktisch einzuspielen, erscheint mir dann als unabdingbar und selbstverständlich.
Sie haben die Internet-Datenbank „Local heroes“ ins Leben gerufen, die „Alltagshelden“ bzw. „Heilige der Unscheinbarkeit“ (Romano Guardini) vorstellt. Die (außer-)gewöhnliche Biografie von „Alltagshelden“ kann Kindern und Jugendlichen als Spiegelfolie für orientierendes Lernen dienen. Welche Kriterien müssen die im Internet-Archiv aufgeführten Personen hierfür erfüllen?
Die Personen müssen das Glück haben, dass ich sie während des Frühstücks in der Tageszeitung entdecke. Das ist zugegebenermaßen ein sehr subjektives erstes Selektionskriterium, aber wenn man das über viele Jahre hinweg macht, dann kommt schon ein guter und breiter Grundstock zusammen. Dieser wird durch Zurufe von Usern und geplante Suchprozesse im Rahmen von Seminaren und Lehrerfortbildungen erweitert. Natürlich haben wir im Laufe der Jahre eine mehrfach gestufte Kategorienbildung entwickelt (in meinem neuen Buch „Modelle…“ auf Seite 91f): Inhaltlich geht es um die Zuordnung zu einer ethisch bzw. religiös relevanten Kategorie wie z.B. zu den Werken der Barmherzigkeit, den Antithesen der Bergpredigt, dem Dekalog oder den interreligiös bedeutsamen Tugenden der Achtsamkeit und der Zivilcourage. In der Darstellung erscheint es von einem diskursethischen Gesichtspunkt aus bedeutsam, dass die Menschen vor lebens- und zeitgeschichtlichen Herausforderungen und Entscheidungssituationen standen, weil sich Schülerinnen und Schüler gerade hier mit ihrem eigenen Wertebewusstsein einklinken können. Mein Ziel ist es, abgelöst vom eigenen Frühstückstisch, den Blick zu weiten für die eigenen Helden vor Ort – überall! Das gelingt immer wieder, wenn unsere Ausstellung „Helden auf Augenhöhe“ unterwegs ist oder Lehrerinnen und Lehrer mit der Datenbank arbeiten und merken: Kinder, auch an unserem Wohnort gibt es doch solche Menschen – begeben wir uns doch mal auf eine Spurensuche! Viele Schulprojekte, die auf der Local-Heroes-Homepage zu finden sind, skizzieren solche Prozesse einer Suche nach „Helden des Alltags“ am eigenen Wohnort. Im Unterschied zu den großen offiziellen Heiligen, die qua Definition schon verstorben sein müssen, haben diese lebenden Alltagshelden noch einen großen Vorteil: Man kann mit ihnen unmittelbar in ein Gespräch kommen!
Die „Local heroes“ werden durch Kurzportraits, Reportagen und Zeitungsberichte vorgestellt. Es handelt sich um Menschen „wie du und ich“, die in einer entscheidenden Situation vorbildhaft oder „heldenhaft“ eingegriffen bzw. gehandelt haben. Neben diesen punktuellen Lebensausschnitten erfährt der Leser jedoch nicht mehr über die Person. Inwieweit eignen sich solche Menschen daher besonders gut für orientierende Lernprozesse?
Ja, es handelt sich nie um Gesamtbiografien, sondern immer nur um biografische Schlaglichter: Es sind Menschen wie du und ich, die ganz normal in unserer Wohlstandsgesellschaft leben und doch in einem Lebenssegment punktuell oder längerfristig zeigen, dass es möglich ist, sich für andere Menschen einzusetzen. Vor einiger Zeit erhielt ich den Anruf eines Rechtsanwalts, der sich nach einem Local hero aus meiner Datenbank erkundigte. Mir wurde schon ganz mulmig zu Mute. Die Person, um die es ging, hatte sich augenscheinlich etwas zu schulden kommen lassen; dass er in meiner Datenbank als punktueller Held aufgeführt war, konnte positiv für ihn verwendet werden. Von meinen evangelischen Kollegen und Freunden habe ich außerdem gelernt, das Augenmerk auch auf die Vorbildhaftigkeit im Scheitern zu richten; deshalb habe ich in meinem neuen Buch auch ein Kapitel aufgenommen, das den „gebrochenen Biografien“ gewidmet ist – Menschen, die zeigen, wie man auch jenseits der normalen Vorstellungen von Glück und Erfolg sein Leben bewältigen kann oder die im Positiven wie im Negativen verdeutlichen, wie man mit Schuld und Versagen umgehen kann – bis hin zu denen, die mutwillig und bewusst Unrecht tun und die angesichts der Unbarmherzigkeit unserer (Medien-)Gesellschaft letztlich nur noch auf einen gnädigen und fehlerfreundlichen Gott hoffen dürfen. In diesem Sinne können alle Personen aus dem himmlischen Gehege Aller-Heiligen (zu denen neben den Heiligen auch die Verstorbenen und wir selber gehören), mit denen man sich beschäftigt, ein Mosaikstein für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit werden. Das heißt: Man muss kein Heiliger sein, um die Welt ein wenig besser zu machen, aber man ist auf dem Weg zur eigenen Heiligung gut unterwegs, wenn man das tut, was der Augenblick von einem verlangt. Das zu entdecken, dazu stiften die Helden des Alltags an. „In der kommenden Welt wird man dich nicht fragen, warum du Mose geworden bist. Man wird dich fragen, ob du du selber geworden bist“, heißt es sinngemäß in einer Erzählung der Chassidim von Martin Buber.
Anlässlich des 10-jährigen Jubiläums von „Local heroes“ ist eigens eine Wanderausstellung mit dem Titel „Tolle Typen heute“ erstellt worden, die von Schulen ausgeliehen werden kann. Ergänzend bieten Sie ebenso ein didaktisches Begleitheft zur Ausstellung und zur Datenbank an. Zudem finden sich bereits zahlreiche Schulprojekte von der Grundschule bis zur berufsbildenden Schule auf Ihrer Homepage wieder, die in Anlehnung an das Local-hero-Projekt durchgeführt wurden. Planen Sie, das Projekt zukünftig auszuweiten oder zu ergänzen?
Ich freue mich auf alle Hinweise von Lehrerinnen und Lehrern auf eigene Projekte und nehme sie gerne in die Datenbank auf. Insofern wird die Datenbank in den nächsten Jahren noch anwachsen. Aktuell beschäftigt mich der Gedanke, wie man das Projekt noch deutlicher interreligiös ausweiten könnte, nachdem ich eine hervorragende Dissertation einer jungen muslimischen Kollegin bekommen habe, die meinen Ansatz eines Lernens an fremden Biografien am Propheten Muhammed exemplifiziert hat. Auch die Ausstellung „Helden auf Augenhöhe“ leihen wir gerne aus. Letztlich haben aber weder die Datenbank noch die Ausstellung einen Selbstzweck. Sie transportieren vielmehr zwei Grundideen. Die erste: Eine Auseinandersetzung mit fremden Biografien kann ertragreich für die Entwicklung eigener Vorstellungen von einem guten und verantwortlichen Leben sein. Deshalb ist das „Kleingedruckte“ in der Ausstellung und auf der Datenbank so wichtig – das sind die unten jeweils angefügten Arbeitsimpulse, die zu einem kreativen und kritischen Umgang mit den Alltagshelden einladen. Der zweite Fokus richtet sich dann direkt an die User: Sucht vor Ort nach Helden des Alltags und beschäftigt euch mit ihnen! Und entwickelt Ideen, wie ihr selber eure Welt ein bisschen besser machen könnt!
Zur Person
Hans Mendl im Gespräch:
ist seit 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Passau. Neben der konstruktivis-
tischen Religionsdidaktik, den methodisch-konzeptionellen Fragen eines performativen Religionsunterrichts, der (Religions-) Lehrerbildung und der Schulbuchforschung beschäftigt er sich ebenso mit den Möglichkeiten des Lernens an fremden Biografien, woraus im Rahmen eines Forschungsprojektes die Internet-Datenbank „local
heroes“ entstanden ist. www.uni-passau.de/local-heroes