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Erweiterung der sensitiven Wirklichkeit

Medienanthropologe Manfred Faßler im Gespräch über Digitalisierung, virtual und augmented reality

Die Frage stellte Christopher Campbell

Sie haben einmal von einer „Neuprogrammierung des Verhältnisses von Anwesenheit“ gesprochen.
Verfügt unser Denken über ein antiquiertes Verständnis von Anwesenheit?

Ja. Wir reden oft vom Selbst als Souveränitätsgarantie und diese Garantie ist gegeben,
wenn ich vor Ort bin, wenn ich am Ort bin, wenn ich festen Boden unter den Füßen habe
oder auf einem guten Sessel sitze. Anwesenheit ist physiologisch und territorial gefasst.
Dabei sind aber schon über Jahrtausende teleoperative Aktivitäten entwickelt worden.

Die Skulptur des Kaisers oder die Urkunde eines Gesandten sind teleoperative Strategien?

Die heutige Situation bestimmen die Ferntechnologien: All diese Fernen sind als echtzeitliche
Realitäten präsent und konstituieren unser Konzept von Hier-bin-Ich, Ich-bin-Dabei,
Ich share, like oder dislike. Anwesenheit ist durch teletechnische Maschinen so mächtig,
da sie durch diese, im interaktiven „Auftrag“, erzeugt wird. Kurz gefasst lässt sich sagen:
Wir verwenden Teletechnologien, um unsere Anwesenheit zu erzeugen, und nicht mehr Anwesenheit,
um Repräsentation zu erzeugen.

Neue Anwesenheit entsteht durch die ständige Anwesenheit meiner Freunde über Facebook,
durch Zusatzinformationen zu Produkten oder wenn ich mit der VR-Brille durchs Kaufhaus gehe
und Waren anschaue. Wir sind zusammen mit Gegenständen sowie einem Informationsfluss in
einer, wie Sie einmal sagten, sensitiven Wirklichkeit anwesend

Zunächst: Wir sollten keine Konfrontation von Physiologie und Technologie denken.
Vielmehr sollten wir begreifen; dass die Physiologie durch digitale Technologien im Sinne
einer informationellen und sinnlichen Wahrnehmung erweitert, also augmentiert, wird. Mir
werden ständig Informationen angeboten – sei es durch eine Daten-Brille, Computer oder
Sportarmband – und gleichzeitig ist mein Körper eine absichtslose Produktionsstätte für
Daten, die als MassiveData oder BigData einen expandierenden Markt der Beeinflussung,
Microtargeting, der NetBots bilden.

Das „Ich“ als absichtslose Produktionsstätte für Daten?

Ich bin nicht länger derjenige, der entscheidet, welche hormonellen Informationen an
eine Krankenkasse gesendet werden, sondern übergebe diese Entscheidung in Gänze an ein
Unternehmen, sobald ich ein Gesundheitsarmband anlege. Damit habe ich meine Loyalität
gegenüber diesem neuen Zusammenhang zwischen Physiologie und Technologie erklärt.
Die Hierarchie ist enorm: Wenige Informationen kommen zu mir, viele Daten werden von
meinem User-Profil abgesaugt. Digitale Technologien werden zu sozialen Technologien, weil wir durch ihre Nutzung einen
permanent anwesenden, unsichtbaren, aber kommunikationsmächtigen automatisierten
Zwilling hervorbringen. Es gibt fortan einen Schatten von mir in Form von operationalen
Strukturen, durch Sensoren, Lesealgorithmen und Sendestrukturen, usw. Was ich bin, hat weniger
mit meiner Souveränität als rationale Person zu tun, obwohl ich noch Anteile der Entscheidungen
mittrage. Vielmehr bin ich eine Online-Offline-Daten-Summe: bedingt durch meine
familiale und freundschaftliche Sozialisation, aber in zunehmendem Maße bedingt durch
Algorithmen, Geräte, Netzwerke, Communities, Projekte.
Deren Kommunikationsregeln werden in keiner Familie,
keiner Schule vermittelt oder vorbereitet. Also sind neue
Sozialformate zu debattieren wie zu entwerfen; eine Ablehnung
von Technologie wird wenig weiterhelfen.

Wenn ich und mein digitaler Schatten umhergehen als
Teil eines globalen Gerätenetzwerks, wie verschiebt
sich unser Begriff vom „Ich“?

In den letzten 35 Jahren haben wir übersehen,
dass fortwährende vollkommen neue Konstellationen
von Technologie und Physiologie entstehen. Wir reden
noch immer vom Sozialen, von sozialen Netzwerken.
Doch die Interkonnektivität aller Dinge wirft eine
grundsätzlichere Frage auf: In welchem Verhältnis verändert
sich unsere komplexe Körperlichkeit, die sich
nicht nur anpasst, sondern unter der Voraussetzung
der Digitalisierung neue Entwicklungen vollzieht. Dies
gilt natürlich auch für Gruppen von Körpern.

Sie sprechen anstatt von Persönlichkeit oder von Generation von „vorläufigen Projektumwelten“.

Das, was wir derzeit erzeugen, sind nicht nur kleine Nahwelten, sondern kurzfristige
Vorhaben, die um die Welt reichen. Und wir verfügen über keinen Begriff, der uns garantiert,
dass wir damit beschreiben, was in 10 Jahren, 100 Jahren, 1000 Jahren existieren
wird. Man muss lernen, immer nur in Entwürfen zu denken. Und diese Entwürfe sind in der
gesamten Konzipierung vorläufig, weil sie von den Entwürfen anderer abhängig sind, die
mit anderen Interessen auf die Welt zu gehen. Daher kann ich auch nicht mehr erwarten,
dass es so etwas wie Formkontinuität gibt, die, wie bei der Industriegesellschaft, 100 bis
150 Jahre lang dauert.

Soziologisch ist es nicht mehr plausibel zu sagen, dass eine Generation für eine Gesellschaft
steht, denn inzwischen findet der Generationswechsel im Sinne eines Austauschs von
Kompetenzen, Lernbiografien, Berufszusammenhängen innerhalb eines Lebens mehrmals
statt. Weltweit vernetzte soziotechnische Formationen beerben (nationale) Gesellschaften.
Die Folge ist: Ich kann nicht mehr von Gesellschaft als von einem sicheren Hafen meiner
Zuordnung ausgehen, sondern ich muss von Unsicherheiten, Konflikten, Unwägbarkeiten
ausgehen – und etwas hervorgebracht wird, das ich nicht beabsichtigen und planen konnte.

Lassen Sie uns über einen Begriff sprechen, den Sie an Stelle des Begriffs Gesellschaft einschmuggeln:
„Habitate“. Werden wir zunehmend alle sozialdarwinistische Fische im Aquarium
einer über die VR-Brille vermittelte Wirklichkeit?

Der Terminus „Habitate“ hat mit Sozialdarwinismus nichts zu tun. Angesprochen habe
ich damit, dass die kommunikativen, ökonomischen, beruflichen, informationellen Umwelten
nicht mehr auf nationale und gesellschaftliche Terrains begrenzt sind, sondern sich aus einem datentechnologischen Überall zusammensetzen. Und diese Zusammensetzung
entsteht durch Menschen, die wir reichlich lässig als „User“ ansprechen. „Habitat“ schreibt
den hochabstrakten Terminus „Gesellschaft“ auf konkreter Ebene lebensbegründender und
lebenserhaltender Zusammenhänge fort. Ich brauche eine Begrifflichkeit, die mir Lebensbezug
erhält und gleichzeitig auch sagt: „Du entscheidest nicht alles selbst, sondern Du
hast Lebensbedingungen, die durch Technologien, durch Ökologien bedingt sind und darauf
musst du dich einstellen, egal wie weit sie reichen.“ Es gibt keine endgültige Sicherheit,
weder für eine Generation noch für mehrere Generationen.

Stellen sich vor, Sie betreten eine Kathedrale. Sie stehen nicht in einem unbestimmten, sondern
in einem sakralen Raum, dem abgetrennten Raum des Tempels. Vergleichen Sie diesen Raum
mit jenem, zu dem die Wirklichkeit wird, sobald Sie eine VR-Brille tragen: Plötzlich wird jedes
Lebensmittel, jede Person, jeder Baum Teil einer möglicherweise ideologisch durchdrungenen
Wirklichkeit.

Das, was Sie geschildert haben, ist eine historische, soziale, geistige und evolutionäre
Vorgabe. Genau genommen geht es bei Ihrer Frage nicht um Sakralität versus Ideologie,
sondern um die Repräsentationsmodi, über die Glaube, Glaubwürdigkeit, Hingabe, Präsenz
etc. geregelt, d.h. in Standardabläufe übersetzt sind. Die Programmierung eines Baumes
wirft darin ähnlich sachliche Fragen auf, wie der Entwurf eines Kapitels: Wie kann und will
ich was mit welchem Bezug und in welcher Erfahrbarkeit gestalten? Ich möchte da nicht
zu früh mit einem Ideologieverdacht aufwarten. Die Fähigkeiten, dies zu gestalten, sind in
komplexen Wissensverbänden schon
entwickelt. Begleitend dazu gibt es
immer wieder den Moment, in dem
ich mich in einen Stein verliebe. Dies
ist ja nicht durch den Stein definiert
– also „Romancing the Stone“, da gab
es ja mal einen Film [1984 mit Michael
Douglas und Kathleen Turner, Anm.
d. Red.]. Vielmehr ergibt sich die Definition
durch meine Bedeutungsgabe
oder -zugabe, durch meine Geltungsansprüche,
dass z.B. gesagt wird, der
Stein steht für Dauerhaftigkeit. Der
Punkt ist aber nicht gerade so sehr,
dass es den Erfindungen des Menschen
möglich ist, oder dass Menschen so etwas erfunden haben, um eine künstliche Kontinuität
zu inszenieren oder glaubwürdig zu machen. Der Punkt besteht darin, was damit erreicht
werde soll: Ist es Ausdruck individueller Leidenschaft oder ein Herrschaftsanspruch,
der im Material, in Form, im Formenverbund besteht. Sie fragen mit dem Ideologieverdacht
nach einem hegemonialen Konflikt zwischen Glaube und Ideologie. Für mich ist dies hier
nicht zentral.

… einen Kampf der Interpretationen und Deutungshoheiten?

Die Frage ist: Gehe ich von den klassischen Kontinuitätsversprechen oder Diesseitsund
Jenseitsversprechen oder bin ich in einer Situation, in der transklassische, technologisch-
telepräsente oder andere Anwesenheitsversprechen produziert werden? Die entwicklungswissenschaftliche
Besonderheit der Datentechnologien besteht darin, dass das, was
als abwesend deklariert wird, keineswegs nicht erreichbar ist. Entweder ist es noch nicht
digital erfasst oder ich habe den falschen Suchbegriff ins System gegeben. Prinzipiell ist die klassische Repräsentation, die als irdisch unerreichbares Versprechen konzipiert war
und ist, durch die enormen Speicherkapazitäten umgangen. Es ist alles, wozu Kommunikationsbedarf
besteht, vorhanden. Das schließt sicherlich Kommunikationsbedarf aus, der
„außerhalb des Systems“ liegt. Aber das ist mitnichten neu, oder in besonderer Weise „ideologisch“.
Das heißt, im Gegensatz zu den Jahrtausenden bisheriger Entwicklung, haben wir
kein Speicherproblem mehr, keine nennenswerte technische Einschränkung: Wir können
alle Daten speichern.

Jaron Lanier kritisiert die neue Religion im Silicon Valley: Sie besagt, wenn Das ist gar nicht ein
Nischenphänomen, das von einer handvoll durchgeknallter Freaks verkörpert wird, sondern
wirklich im Mainstream sichtbar ist: Im Silicon Valley wird Computertechnologie wie eine Religion
behandelt. Ihr Kerngedanke: Ist die Technologie nur fortschrittlich genug, bringt sie uns
auch Unsterblichkeit. So investiert Google in Firmen, die an Lebensverlängerungsmaßnahmen
arbeiten. Werden wir eine Wirklichkeit vorfinden, die fundamental ideologisch durchdrungen
sein wird?

Ich bin mir nicht sicher, ob eine Diskussion unter „Ideologie-Bezug“ hilfreich sein wird,
da dies ja die Wahrheitssicherheit und objektive Wahrheitsregelung impliziert. Gleichwohl
ist es keine Frage, dass es einen sich ankündigenden oder schon laufenden hegemonialen
Konflikt zwischen Wissens-, Industrie- und Repräsentationskulturen ebenso gibt, wie massive
Konflikte zwischen sehr unterschiedlich aufgestellten Kapitalen. Also welche kulturellen
Definitionen oder kulturellen Leistungen werden angesetzt, um die neuen Abstraktionsleistungen,
die neuen Erfindungen von Diesseits/Jenseits zu regeln, zu kommentieren?

Ignatius von Loyola (1491-1556) schrieb in seinen „Geistlichen Übungen“: „Verhalte dich immer
so als ob du immer beobachtet wirst.“ Es ist vielleicht ein Traum, den man im Übrigen in
fast allen Religionen findet – einen gewissen Drang zur Regulierung. Ist dies also eine Chance?

Nochmal zurück: die klassisch soziologische Variante: In der Systemtheorie Luhmannscher
Prägung ist von Beobachtung erster Ordnung und zweiter Ordnung die Rede: Alle
dort existierende Begrifflichkeit und auch die Bewertung von Zuständen vermittels dieser
Begrifflichkeit sind darin begründet, dass wir nur beobachten können. Insofern ist Loyolas
Argumentation keine bedrohliche, sondern eine konstitutive – also ich kann immer nur denken
unter der Voraussetzung, dass ich beobachte und ich weiß, dass ich mich beobachte,
und indem ich das tue, behaupte ich, dass meine Beobachtung auch eine Art Reflexion ist.
Das ist eine spannende Diskussion, die sicherlich bis zu der Frage geführt werden kann:
Welche Art von Herrschaftstechnik ist das? Und gibt es die Möglichkeit, diese Beobachtungsmöglichkeit
herrschaftsfrei zu konzipieren?

Geht ein herrschaftsfreies Gesundheitsarmband?

Herrschaftsfrei: Ja. Machtfrei: Nein. Überwachung, Disziplinierung des Körpers, Zeitökonomie,
Quantifizierung sind alte Regeln, es sind klösterliche Regeln. Alles, was in den
medizinischen Bereichen existiert und als prophylaktische oder therapeutische Empfehlung
propagiert wird und in der interaktiven Duschwand auftaucht oder am Handgelenk,
das ist klösterlich. Ist Ordnung.

Es kommt darauf an, ob bestimmte Ideologien, Haltungen, Ethiken oder religiösen Lebensformen
es verstehen, sich zu infogenetisieren. Sonst wird der hegemoniale Konflikt durch Berechnung,
also Mathematik gelöst. Religionen müssten sich in diese neue sensitive Wirklichkeit
einbringen, sonst verenden sie als verinselte Habitate.

Wie schon angesprochen, sind die Kommunikationsfelder zwischen Online-Offline-Zuständen
neu zu gestalten. Und zugleich wird man über die sozialen Logiken der Programmierung und über die technischen Organisationsprinzipien
des Sozialen neu nachdenken müssen. Wie sich
darin Religion in institutionalisierter, parochialer, individualisierten
Weise positioniert, liegt nicht an mir zu
bestimmen. Den von Ihnen genannten Spannungsbogen
halte ich für nachvollziehbar. Denn Digitalisierung ist
zwar ein universaler Prozess; die erfassten Bereiche
werden auch genutzt.

Vom Handel und dem Dienstleistungssektor?

Handel und Dienstleistung, auch die Medizin, hat
sich hervorragend als digitalisierbar erwiesen. Zudem
kommen Produktionstechniken, Robotik, Smart Houses,
Smart Cities, eGovernment, etc. Alle Bereiche, die eine
formale Modellierung, also kleinteilige Standardisierung
ermöglichen, werden erfasst werden. Gleichwohl
gibt es Bereiche, die nicht digitalisierbar sind und von
denen die Entwicklung der Digitalisierung abhängt:
Kreativität, spontane Intelligenz, überraschende Kombinationsgabe,
und die Freuden und Krisen des Lebens. Sie
sind nicht digitalisierbar.

Oder sie müsste lernen, sich in dieser Weise zu formatieren.

Ich kann mir vorstellen, dass es eine bewusste Entwicklung
der Verweigerung gibt. Viele junge Menschen
sagen: „Facebook, ne, da bin ich draußen.“ Also es entsteht
ein Versuch, Rückzugsbereiche oder Eigenständigkeitsbereiche
zu entwickeln, die zwar immer noch im
Sinne der Selbstbeobachtung funktionieren, aber nicht
unter der Voraussetzung der Fremdbeobachtung. Und es
lohnt sich, dass solche Bereiche weiter gepflegt werden,
die eine ganz andere Emotionalität und Affektion transportieren
als die augmented reality.