Auferstehung erfahren
2017 erschienen die drei Christuserzählungen Patrick Roths erstmals kommentiert in einem Band. Damit kam zusammen, was zusammengehört: Eine sprach- und bildgewaltige Brücke in die ungeheuerlichste Geschichte der Menschheit.
Die Christus Trilogie von Patrick Roth entführt
den Leser sehr schnell in eine Welt gefühlter
Bedeutsamkeit, gleichsam angefüllt mit Bildern
biblischer Apokalyptik, von denen man zunächst
noch nichts versteht, aber von allem Anfang an weiß:
Hier befindet man sich jenseits der Belanglosigkeit
des Alltags. Zuerst entführt allein schon die Sprache,
dann die Bilder. Der Sprecher dieser Sprache, der im
Buch nur als Schreiber von Geschriebenem begegnet,
erweckt Assoziationen an alttestamentliche Propheten
wie Jesaja, Daniel und im neuen Testament an Johannes,
den Seher von Patmos. So muss es jenen zumute
gewesen sein, als das Wort Gottes sie traf, oder
wie C.G. Jung einmal sagte: Es gab eine Zeit, als die
Worte noch zu den Menschen kamen: Patrick Roth
versucht, diese möglichst authentisch an Hörer und
Leser weiterzugeben.
Roths Christus Trilogie ist ein einzigartiges Ringen
um Ausdruck, was eigentlich gar nicht gänzlich zum
Ausdruck kommen kann, zumindest nicht in unserer
alltäglichen Sprache, die sich zwischen Naseputzen
und Einkaufengehen ihre Ausdrücke geschaffen hat.
Wenn sie geschrieben ist, ist sie bei Roth noch einmal
ein Abfall gegenüber dem Hören. Es genügt, wenn man
ihn einmal gehört hat, dann generiert sich das Gelesene
noch einmal zur Sprache. Roths Sprache hat eine
gewisse Poesie, die sich im Sprachfluss dann ihre eigene
Grammatik schafft. Im Fluss der Wörter und Sätze
wird allmählich deutlich, dass hier Tiefen oder Höhen
ausgelotet und mit menschlichem Ausdruck gefüllt
werden, die in der Alltagssprache brachliegen, Wirklichkeitsfelder,
die sprachlich nicht bestellt werden.
In seiner Christus Trilogie hat er sich die ungeheuerlichste
Geschichte der Menschheit ausgesucht, um
das, was in ihm lebt und bebt zum Ausdruck zu bringen.
Die Geschichte des Mannes aus Nazareth, der
etwa ein oder drei Jahre öffentlich gewirkt hat und
dann augenscheinlich furchtbar gescheitert ist. Wenn
alles in diesem Leben „mit rechten Dingen zugegangen
wäre“, hätte sein Auftreten in der hintersten römischen
Provinz weiter kein Aufhebens gemacht. Zeitgenössische
Historiker wie Flavius Josephus haben
das, was über ihn „umging“, gar nicht für bare Münze
gehalten und die Geschehnisse kaum erwähnt. Patrick
Roth aber macht das eigentliche Skandalon dieser Biographie
zum Thema. Im Leben dieses Galiläers wurde
die oberflächliche Kausalmechanik von Ursache
und Wirkung mindestens zwei Mal außer Kraft gesetzt,
mit seiner Geburt und seinem Tod. Und wenn
man das kleine Büschel von Nachrichten aus diesem
unbedeutenden Landstrich am östlichen Mittelmeer
ernst nimmt, noch weitere Male. Leute, die das nicht
bloß als Geschichten, Erzählungen, Märchen oder
Mythen abtun, haben einen schweren Stand. Patrick
Roth hat einen angelsächsischen Kollegen, der diese
Geschichte vor Jahrzehnten schon einmal ernst nahm
und das Skandalon zu einem Buchtitel machte, nämlich
Bruce Marshall mit seinem Buch Das Wunder des
Malachias. Marshall machte vorsorglich zu Beginn
seines Buches schon darauf aufmerksam, dass selbst
Leute, die „Wunder“ eigentlich ernst nehmen sollten,
davon peinlich berührt werden: „Und überhaupt“,
sagte der Kaplan Neary, „sind Wunder heutzutage aus
der Mode gekommen. Wenn sich eins im Schlafzimmer unseres hochwürdigsten Herrn Bischof ereignen
würde, täten Seine Gnaden alles, um den ungehörigen
Vorfall zu vertuschen.“
Ähnliches berichtet Patrick Roth von seiner Erstveröffentlichung
von „Riverside“, des ersten Teils
der Trilogie bei Suhrkamp. Suhrkamp druckte dieses
Werk, weil die Wortakrobatik und das schillernde
Gedankenmosaik den Verleger offenbar postmodern
beeindruckte. Als der Verlag aber merkte, dass der Autor
an die dahinter verborgene biblisch-prophetische
Substanz glaubt und er nicht ein bloßes Wortgeklingel
abgeliefert hatte, war man an weiteren Veröffentlichungen
nicht mehr interessiert.
Patrick Roth geht es also in der Christus Trilogie
um das Zentrum, die Mitte der Biographie jenes Galiläers,
eines Menschen aus Fleisch und Blut, in dem
ein Durchbruch in eine andere Wirklichkeit erfahrbar
geworden ist. Im ersten Teil „Riverside“ begegnen uns
zwei Jünger des Apostels
Thomas, dem kritischsten
Kopf der Evangelien, in einer
fast kriminalistisch anmutenden
Recherche. Klar
ist zu diesem Zeitpunkt,
dass der auferstandene Christus die grausame Kausalität
des Todes zerbrochen hat, also das bedeutendste
Wunder des Christentums schon geglaubt wird. Dem
ehemaligen „ungläubigen“ Thomas bereitet aber, jetzt
gläubig, ein anderes Geschehen Kopfzerbrechen: Es
wird erzählt, dass es Jesus zu Lebzeiten nicht gelungen
sei, einen Aussätzigen zu heilen und er so in seiner
Allmacht wenigstens einmal gescheitert sei. Dieser
Aussätzige lebt noch. Zu ihm schickt Thomas seine
Jünger – nicht, um wie im Evangelium ein Wunder zu
bezweifeln, sondern umgekehrt um verstehen zu können,
weshalb der Wundertäter einmal gescheitert ist.
Auch im zweiten Teil der Trilogie wird Aufsehenerregendes
zum Thema. „Johnny Shines oder die Wiedererweckung
der Toten“ spielt in der Gegenwart und
in der Mojavewüste Kaliforniens. Johnny Shines ist
ein Sonderling. Als Kind eines Pfarrers hat er ein für
ihn traumatisches Erlebnis. Er fragt seinen Vater, ob
man Gott sehen könne. Der Vater verneint die Frage
und sagt, man könne ihn aber hören, wenn man zu
ihm bete. Trotz aller Anleitungen gelingt es Johnny nicht, ihn zu hören. In der Rahmengeschichte taucht
Johnny bei Beerdigungen auf und versucht im Moment
der Bestattung der Toten, diese zum Leben zu
erwecken. Das erweckt den Anschein, als wolle er
Transzendenz erzwingen, weil sie sich ihm in seiner
Kindheit nicht eröffnet und geschenkt hat. Im zweiten
Teil der Trilogie sind wir also in der Gegenwart
angekommen. Der überlieferte Glaube aus dem ersten
Jahrhundert soll in der ganzen Wirkmächtigkeit des
damaligen Ereignisses auch in unserem Jahrhundert
wirksam werden, eherne Kausalitäten durchbrechen.
Die sonderbare Erzählung mit einem Sonderling
als Protagonisten beschreibt das unentrinnbare Eingefügtsein
in eine durch und durch säkulare Welt.
Wer diese Einmauerung durchbrechen möchte, fällt
unangenehm auf, macht sich lächerlich, wird nicht
ernst genommen und ständig daran gehindert, den
Durchbruch in eine andere Wirklichkeit zu leben, die
für den Autor die Tiefenstruktur
alles uns sinnhaft
Zugänglichen ist. Johnny
Shines wird zum Idioten
in einer Wüstenlandschaft,
die für trostlose Säkularität
steht, geradeso wie Fürst Myschkin in Dostojewskis
Jesus-Roman Der Idiot als absolut lauterer Mensch
in der durch und durch intriganten St. Petersburger
Gesellschaft des 19. Jahrhunderts leben muss.
Zuerst entführt die Sprache,
dann die Bilder.
Im dritten Teil der Trilogie „Corpus Christi“ verlässt
der Autor wieder die Gegenwart und entwickelt die
grandioseste Idee der christlichen Literaturgeschichte:
Er platziert eine Zeugin der Auferstehung am Ort,
das heißt direkt im Grab, und zur entsprechenden
Zeit, in der Nacht des Geschehens. In den Evangelien
waren ja alle Zeugen zu spät gekommen: Am Morgen
danach und als der Stein bereits weg gewälzt war.
Patrick Roth ist an dieser Stelle glasklar. Seine Protagonistin
wird Zeugin des Ungeheuerlichen: Die
stärkste Macht der Welt, die jedes Menschenleben
und auch jede hymnisch gefeierte Liebe zerstört, oft
in grausamster Weise, ist am Ort des Todes schlechthin
besiegt worden: nämlich im Grab, also für den
Tod in einem Heimspiel. Das ist ein Osterwitz! Die
Ostkirche hat es erkannt, wenn sie an Ostern Witze
erzählt.
Bei Patrick Roth überschlagen sich an
diesem Ort Bilder und Sprache. Menschliche
Ausdrucksweisen werden überwältigt.
Kein Wort, kein Bild, kein Ausdruck, kein
Eindruck ist fähig zu beschreiben, was da
geschehen ist. Dem Autor ist es in genialer
Weise gelungen – sich sprachlich selbst
überwältigend – darzustellen, was Christen
glauben dürfen: Mit Gertrud von Le Fort
gesprochen: „Das Leid der Erde ist selig geworden,
weil es geliebt wurde“.
Alles in allem ein großartiges Werk über
das Zentrale des Christentums. Durch
Gottes Menschwerdung in einem Galiläer
ist tatsächlich „das Wort (leibhaftig) Fleisch
geworden und hat unter uns gewohnt …
Und wir haben seine Herrlichkeit (der Auferstehung)
gesehen.“ Fast zweitausend Jahre
nach dem Ende der Kanonbildung und der
Johannesapokalypse hat wieder ein Wortund
Schriftzeugnis von dem ungeheuerlichen
Geschehen berichtet, das letztlich
eine Umdatierung der Zeit bewirkt hat: Wenigstens
einmal ist ein Grab dann doch leer
geblieben, obwohl der Tod es schon gefüllt
hatte.