Der fremde Reiter
Die Kultivierung des Erinnerns spielt in Erzählgemeinschaften wie dem Christentum eine besondere Rolle. Patrick Roths Geschichtsphilosophie zeigt, wie aktive Aneignung und Transformation von Geschichte Neues bewirkt.
Um die Literatur des deutsch-amerikanischen
Autors Patrick Roth zu charakterisieren, eignen
sich drei Begriffe in besonderer Weise:
„Film“ – „Traum“ – „Theologie“. In einer oft sperrigen,
biblisch-archaisierenden Sprache entlehnt der
Schriftsteller dem Buch der Bücher Inhalte, die sich
tief in das kulturelle Gedächtnis des Abendlandes eingegraben
haben. Dabei verarbeitet er seine Themen in
einer Art, die sich – cum grano salis und ohne die Absicht,
ihn für pädagogische Zwecke zu instrumentalisieren
– als künstlerische Umsetzung des symboldidaktischen
Ansatzes eines Hubertus Halbfas oder als
tiefenpsychologische Verschlüsselung von Erfahrungen
in Traumbilder, wie sie für Eugen Drewermanns
Auslegungen eine Rolle spielen, bezeichnen ließe.
Nicht zufällig stellt Roth einer seiner Episoden ein
Zitat von C.G. Jung voran: „We must read the Bible or
we shall not understand psychology. Our psychology,
our whole lives, our language, and imagery are built
upon the Bible. Again and again one comes across it in
the unconscious of people who know practically nothing
of it; yet these metaphores are in their dreams
because they are in our blood.“
Was in der betreffenden kurzen Traumschrift eine
der beiden Hauptfiguren im Hinblick auf Filme formuliert,
dass „du in den besten immer Neues entdeckst“, so dass es gerechtfertigt ist, sie „zehnmal,
zwanzigmal“ anzuschauen, gilt genauso für Roths
eigene Werke: Das Buch „Corpus Christi“ zum Beispiel
bleibt mir trotz wiederholter Lektüre rätselhaft – ein
Rätsel und Geheimnis im besten Sinne.
Dagegen erscheint mir der Aufsatz „Der fremde
Reiter“ aus inhaltlichen, künstlerischen sowie pragmatischen
(der Umfang beträgt nur rund 20 Seiten)
Gründen hervorragend für den schulischen Unterricht
geeignet. Er birgt – im Vergleich zu den meisten
seiner sonstigen Werke – eine sehr viel leichter freizulegende
geschichtsphilosophische These. Diese These
erinnert stark an Ausführungen in Nietzsches „Vom
Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ und
lässt sich etwa so wiedergeben: Verantwortungsvolles
geschichtliches Erinnern vollzieht sich nicht dort, wo
historische Ereignisse originalgetreu rekonstruiert,
konserviert und nachgespielt werden, sondern gerade
und erst dadurch, dass die betreffenden Ereignisse
durch die erinnernden Subjekte unter normativem
Gesichtspunkt bewusst modifiziert und damit „neu
gespielt“ werden.
Geschichtsphilosophie in „Der fremde Reiter“
Diese These, die mehr als nur eine bloße Theorie, im
Politisch-Praktischen eher eine Haltung darstellt, soll
nun dadurch plausibel gemacht werden, dass die äußere
Handlung von „Der fremde Reiter“ nachskizziert
wird: In „Der fremde Reiter“ berichtet der Ich-Erzähler
von seiner mehr oder weniger freiwilligen Teilnahme
an einem sogenannten Reenactment, der historisch
authentischen Darstellung des US-amerikanischen
Bürgerkriegs durch eine „Vereinigung kalifornischer
Bürgerkriegs-Hobbyisten, die berühmte Gefechte zwischen
Nord- und Südstaatentruppen […] nachstellten“. Konkret handelt es sich dabei um die Schlacht
„Pickett‘s Charge“, einen „Angriff des Südstaatengenerals
George Pickett“, bei dem „Zigtausende, die ungeschützt,
auf den verschanzten Feind zu, ein freies
Feld überqueren mußten, ihr Leben gelassen haben“.
Am Vorabend des nachgestellten Spektakels kommt es
zu einer Unterhaltung zwischen Männern, die darauf
brennen, am Folgetag die historischen Gegebenheiten
in der Rolle von originalgetreu kostümierten Soldaten
nachzuspielen. Nachdem sich ihr Gespräch um historisch
bedeutende Personen des Bürgerkriegs und
Kriegsdevotionalien gedreht hat und es in der Runde
zu einem mystisch-sakralen Höhepunkt in Form der
Verteilung von kleinen Stücken Hartbrot aus „Gettysburg-
Weizen“ („Auf dem Schlachtfeld, wo unsere Leute
starben, ist das gewachsen.“) gekommen ist, erhält
das Zusammensein der Bürgerkriegs-Hobbyisten eine
Wendung durch einen neu hinzutretenden „Rekruten“,
der die verpasste Gelegenheit, in historischen Weinessig
getunktes Gettysburg-Brot essen zu dürfen, mit
den Worten quittiert: „…weiß nicht, ob das was für
mich gewesen wäre, euer … nekrophiles Zeug“. In die
Ablehnung, die ihm entgegenschlägt, hinein macht
der schüchterne junge Mann einen Vorschlag, der auf
der Tatsache beruht, dass sein Großvater „im Bürgerkrieg
unter Pickett bei Gettysburg gekämpft“ habe.
„Er hat das große Abschlachten, das wir morgen darstellen
sollen, überlebt“8. Im weiteren Verlauf der nun
beginnenden Debatte bezieht sich der „Rekrut“ jedoch
nicht auf das bedeutende Gefecht selbst, sondern auf
das erste Reenactment, das „fünfzig Jahre nach der
historischen Schlacht veranstaltet“ wurde und zu
dessen Besonderheit es gehörte, dass „ausschließlich
Veteranen, die die Schlacht und das Ende
des Bürgerkriegs überlebt hatten“9, daran
beteiligt waren. Höchst eindrucksvoll gelingt
es nun dem Erzähler durch den Mund
des „Rekruten“, die zweite Besonderheit als
bedeutenden Unterschied zwischen historischer
Schlacht und erstem Reenactment zu
beschreiben.
Nach anfänglichem und authentischem
„Rebellen-Schrei“ wurde nämlich, nunmehr
ein halbes Jahrhundert nach den grausamen
Ereignissen, „ein Seufzen“ vernehmbar,
erzeugt durch „den Schmerz, diesen Schrei
wieder hallen zu hören und in sich die alten
Bilder des großen Hinschlachtens […] aufleben
zu sehen“10. Im typisch Roth‘schen Stil
des Stockens und Tastens, der Unterbrechung
und Wieder-Aufnahme wird das Entscheidende
des ersten Reenactments geschildert:
„Und alle, die da hinter der Mauer in Deckung
lagen, sprangen auf noch im Seufzen. Und
kletterten über die Mauer hinweg – was gar
nicht ging, denn das war ja nicht der Plan,
das war ja nicht historisch, das war nie geschehen!
–, über die Mauer hinweg, so gut sie
konnten, und rannten los, mit dem Seufzen
im Leib, los auf die anderen, die ehemaligen
Feinde. Und die, diese anderen, erkannten sofort,
wer da rannte, und brachen auch los aus
ihren Reihen, und jeder, wie er konnte, fiel
dem Feind in die offenen Arme. Und so umarmten
sich alle, in großem Einsehen, unter
Tränen. Damals, beim ersten Reenactment
von ‚Pickett‘s Charge‘.“
Der Vorschlag des „Rekruten“, nicht die
historische Schlacht, sondern das erste
Reenactment zu wiederholen, findet nach
„nicht sehr lange[r] Diskussion“12 keine Zustimmung.
Der junge Mann beschränkt sich
am Folgetag jedoch nicht auf die Teilnahme
am Nachvollzug der geographisch korrekten
Truppenbewegungen und an der Vermittlung
des Anscheins, als werde gekämpft. Er
kämpft nun tatsächlich und fügt den Mitspielenden
erhebliche physische Wunden zu.
In literarisch überaus kunstvoller Weise setzt Patrick
Roth seine geschichtsphilosophische These um,
dass geschichtliches Vergegenwärtigen mehr ist als
nur Rekonstruktion von Begebenheiten, vielmehr
Lernprozesse beinhalten muss, die es erforderlich
machen, von der historischen Vorlage abzuweichen.
Als Begründung dieser Anschauung lässt er den Rekruten
sich folgendermaßen rechtfertigen:
„Und mir fiel bei diesen Erinnerungen ein, daß das
– dieses erste Reenactment, das auf die Einsicht hin
geschah –, daß doch das dargestellt werden müßte
morgen und das erinnert werden müßte. Und nicht
das andere gefeiert, bei dem sie noch keine Einsicht
hatten und zwei Drittel nicht mehr vom Schlachtfeld
kamen. Sondern eigentlich müßte doch die gewonnene
Einsicht wiederholt und gefeiert und an andere weitervermittelt
werden. Meint ihr nicht?“
Allerdings handelt es sich hier nicht um ein Apodiktum,
sondern um eine um Zustimmung werbende
Frage, die immer noch Opposition zulässt; ähnlich
wie in der Entgegnung auf einen in der Diskussion
von der Gegenseite erhobenen Einwand, nach dem
beim Nachstellen des Gefechts die Erinnerung an die
Toten im Vordergrund stehen sollte. Die Erinnerung
an die Toten ist selbstverständlich berechtigt und ehrenwert,
dennoch mag die Gegenfrage erlaubt sein –
in den Worten des „Rekruten“: „Und warum nicht die
Lebenden erinnern, die daraus gelernt haben?“
Religionspädagogische Folgerungen
Wie schon weiter oben dargestellt, lässt sich „Der
fremde Reiter“ als kunstvolle literarische Umsetzung
einer geschichtsphilosophischen Aussage ohne
jeden Bezug zu Religion und Theologie interpretieren,
so dass die Lektüre dieser Episode auch für den
Deutsch-, Geschichts- und Philosophie- bzw. Ethikunterricht
als lohnend angesehen werden kann. Dieser
Sachverhalt schließt jedoch eine gleichzeitige Bedeutsamkeit
für den Religionsunterricht nicht aus. Am
Ende meiner Überlegungen möchte ich hinsichtlich
dieser möglichen Relevanz einen Ausblick geben.
Geschichtliches Vergegenwärtigen ist mehr als nur
Rekonstruktion von Begebenheiten. Es muss Lernprozesse
beinhalten, die es erforderlich machen, von
der historischen Vorlage abzuweichen.
Wenn der Religionspädagoge Rudolf Englert in
seiner vor wenigen Jahren vorgelegten Religionsdidaktik
in Anknüpfung an Johann Baptist Metz betont,
dass das Christentum „in erster Linie nicht eine Argumentations-,
sondern eine Erzählgemeinschaft“ sei ,
dann impliziert der letztgenannte Begriff nicht (nur)
die Tradierung historischer bzw. vermeintlich historischer
Fakten, sondern vielmehr ein Beziehungsgeschehen,
in dem das Erzählen als Auslöser von Veränderungs-
und Lernprozessen individuelle und soziale
Identität zu stiften vermag. Exakt auf dieser Grundlage,
auf dem Bemühen, Erinnerungsvermögen zu kultivieren,
ruht das Unterrichtswerk für die gymnasiale
Sekundarstufe von Hubertus Halbfas.
Ziemlich zu Beginn des ersten von drei Bänden
bringt Halbfas „Väter- und Müttergeschichten“ in
eine Verbindung mit dem Terminus des „mitlaufenden
Anfangs“. Im Gegensatz zum „initium“, der „einen
Anfang in Raum und Zeit“ bezeichnet, handelt es sich
beim „principium“ um einen „Anfang, der nicht zurückbleibt,
weil er ‚mitläuft‘“. Die Geschichten von
Abraham, Sara, Isaak und Jakob sind Erzählungen eines
solchen „mitlaufenden Anfangs“, weil sie dazu geeignet
sind, „das eigene Leben tiefer zu verstehen“17.
Diesen Sinn können sie jedoch nur dann entfalten,
wenn die Inhalte der betreffenden Erzählungen nicht
als historische Fakten, die distanzlos über Jahrhunderte
und Jahrtausende hinweg zu konservieren und
weiterzugeben wären, interpretiert werden, sondern
als Gelegenheiten, Lernprozesse anzustoßen.
Dass Mel Gibson mit seinem Film „Die Passion
Christi“ im überwiegenden Teil der religionspädagogischen
Diskussionen nur Ablehnung erfahren hat,
wäre dann vielleicht damit zu erklären, dass der vermeintliche
Historismus und die Treue zum Original,
die er intendiert hat, eben keine oder nur unzureichend
Gelegenheiten bietet, Lernprozesse anzustoßen.
Umgekehrt gewendet wäre derjenige moderne Regisseur,
der bei der Aufführung von „Passionsspielen“
gut begründet von seiner Vorlage abweicht, mit der
Figur des „fremden Reiters“
in Patrick Roths Episode
vergleichbar, in dem er bei
Agierenden und Zuschauern
mit seiner verantwortungsvoll
modifizierten Variante
ein Erinnern ermöglicht,
das die Frage des Rekruten,
„warum nicht die Lebenden
erinnern, die daraus gelernt
haben?“, einer positiven Antwort zuführt. Die auch
im Zentrum des Religionsunterrichts stehende Erinnerungskultur,
von der so häufig die Rede ist, visiert
daher ein Zweifaches an: ein Gedenken an die Opfer
menschlicher Gewalt, darüber hinausgehend aber
auch die Bereitschaft, Phantasie für die Eröffnung
von konkreten Alternativen zur Gewalt-Geschichte
des Menschen zu entwickeln.