„Es ist ein uraltes Bedürfnis, den Tod zu personifizieren“
Ein Interview mit Kunsthistorikerin Barbara Weyandt
Die Frage stellte Andreas Thelen-Eiselen
„Tod“ und „Tanz“ sind zwei Begriffe, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Der absolute Stillstand des Todes trifft auf die Lebendigkeit des Tanzes. Wie passt das zusammen?
Besser, als man denkt! Das Bild des Totentanzes stammt aus der Vorstellungswelt des späten Mittelalters. Dort schließen sich Tanz und Tod keineswegs aus. Zahlreiche Sagen und Legenden ranken sich um nächtliche spukhafte Tänze von Verstorbenen oder Todesgestalten, mal skelettiert, mal mumifiziert. Bevorzugt finden sie auf Friedhöfen, an Kreuzwegen, manchmal auf Dorftanzplätzen statt. Auch kennt der Volksglaube das Motiv der lebenden Wiedergänger. In diesen Bildern von handelnden Toten und „aktiven“ Skeletten brechen sich tief verwurzelte, abergläubische Jenseitsvorstellungen Bahn. Der Schritt zum Tanzen ist da nur klein, zumal der Tanz in der mittelalterlichen Erlebniswelt überaus präsent ist, ob als Reigen- oder Kettentanz, ob liturgisch oder profan.
Spätestens aber seit die Kirchväter ihn im wahrsten Sinne des Wortes „verteufelt“ haben, öffnet sich eine weitere Bedeutungsschicht. Der Spielmann Tod als Tanzführer und Lebensendiger zwingt die widerstrebenden Menschen unbarmherzig in den Reigen, der Tanz als ursprünglich elementare Lebensäußerung wird im Sinne der „Verkehrten Welt“ zu etwas Todbringendem und Verderblichen umgedeutet.
Dance of Death, laatste Dans, Danse Macabre oder Totentanz: Der seltsame Tanzpartner scheint Sprachgrenzen zu überschreiten. Wann und warum hat der tanzende Tod zum ersten Mal die Bühne betreten?
Das ist eine schwierige Frage. Mit letzter Gewissheit kann die Forschung weder die Frage nach dem geographischen noch dem zeitlichen Ursprung bis heute genau beantworten. Auch müsste man hier differenzieren nach literarischen und bildlichen Totentänzen. Die älteste Textquelle ist die spanische „Danza general de la muerte“, man datiert sie auf etwa 1400. Von dort führt die Überlieferungsspur zu den frühesten monumentalen Totentanzgemälden zunächst nach Frankreich. Einer der populärsten und frühesten Totentänze befand sich seit 1425 in den Arkaden des Pariser Friedhofs „Aux SS. Innocents“. Schon 1437-1441 zieht Basel mit dem berühmten, an die Außenwände des Basler Dominikanerklosters gemalten „Tod von Basel“ nach. Beides sind Totentanz-Gemälde von großer Ausstrahlung. Dann beginnt der ikonographische Siegeszug der Totentanzthematik quer durch Europa. Städte wie Berlin, Lübeck, Reval, Clusone, Metnitz, Hrastovlje, London bezeugen seine grenzüberschreitende Verbreitung und Bedeutsamkeit. Häufig, aber nicht immer, begleiten moralisierende Texte diese großen makabren Bildzyklen, mal als Monologe, mal in Dialogversen.
Gibt es auch kein „exaktes“ Entstehungsdatum der Totentänze, so setzt doch das Jahr 1348 eine wichtige Marke: Die Pest überzieht und entvölkert zwischen 1348 und 1353 Europa in Schüben, die Bevölkerung wird binnen Kürze um ein Drittel dezimiert. Die Erfahrungen dieses Massensterbens und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Krise schaffen den Nährboden für die mächtigen makabren Strömungen der Zeit und damit auch für den Totentanz. Die makabre Vision des tanzenden Todes könnte eine Antwort auf das „Große Sterben“ und ein Zeichen für Verfall und Verwesung gewesen sein.
Die Darstellungen der sensenschwingenden und musizierenden Totengerippe wirken auf den Betrachter makaber und befremdlich. Weshalb haben die Menschen sich auf diese ungewöhnliche Weise mit dem Tod beschäftigt?
Es ist offenbar ein uraltes menschliches Bedürfnis, den Tod zu personifizieren. Mit den erwähnten Requisiten verbinden sich verschiedene Todesvorstellungen, die man um viele andere ergänzen könnte: Der Tod als Totengräber mit der Spitzhacke und der Schaufel etwa. Die Bilderfindungen des Sensenmannes oder der musizierenden Todesgestalten, manchmal zusammengefasst zum Totenorchester, haben fast alle eine lange, den Totentänzen vorausgehende Tradition. Die musizierenden Toten mit ihren Lärminstrumenten paraphrasieren zum Beispiel die himmlische Musik der Engel. Interessanterweise spielt das auffällige Merkmal der Sense in den Totentänzen eher eine untergeordnete Rolle. Die Todesgestalten hantieren dagegen häufig mit Utensilien der gerade Verstorbenen oder dem Stundenglas.
Der Schnitter Tod mit Sichel oder Sense knüpft an biblische Bilder an, ebenfalls der berittene Tod als apokalyptischer Reiter. In manchen Bildern schwingen Kriegserfahrungen mit: Wenn der Tod mit Schwert, Lanze oder mit Pfeil und Bogen ausgerüstet ist und auf einem alles zermalmenden Wagen auftritt. Hier wirken antike Vorbilder nach. Immer sind es verschiedene Aspekte des Todes, die in griffige Bilder gefasst, von seiner zerstörerischen Macht künden, im Einzelnen von seiner Schnelligkeit, Brutalität, Grausamkeit oder schlicht von seiner Unausweichlichkeit. Sicherlich spielen aber auch die Faszination am Grauenhaften und eine gewisse „Angstlust“ eine Rolle bei der Ausbildung dieses Themas.
Hier kommt wieder die Pest ins Spiel: Die Totentänze waren didaktisch angelegt und standen inhaltlich in der Tradition der Bußpredigten. Wir müssen uns zum besseren Verständnis zunächst auch von unseren heutigen Sichtweisen auf Tod und Sterben frei machen. Der mittelalterliche Mensch hatte ein bestimmtes Ideal vom Sterben: Es war der vorbereitete Tod nach einem bußfertigen, gottgefälligen Leben, nicht der rasche schmerzfreie Tod, den der moderne zeitgenössische Mensch oftmals favorisiert. Das gipfelte in der Vorstellung der „Kunst des Sterbens“ (ars moriendi). In Zeiten der Seuche und des massenhaften, unvermittelten Sterbens war das nicht gewährleistet, das Seelenheil vieler Menschen war durch den schnellen Tod (mors improvisa) akut gefährdet, so dass ewige Höllenpein drohte. Und so griff der Klerus in den Pestzeiten und ihrer Endzeitstimmung zu immer drastischeren Bildern, um sich die Aufmerksamkeit zu sichern und die Gläubigen zur Umkehr zu bewegen, ehe sie von der Seuche dahingerafft wurden. Denn nicht alle wollten angesichts der Pest bußfertig leben, viele Quellen berichten von Exzessen und Ausschweifungen. Der tanzende Tod war in seiner paradoxen Zuspitzung auf dieses abstoßende und grausige Bild ein perfekter Aufmerksamkeitsattraktor.
Der Apostel Paulus fragt in seinem ersten Brief an die Korinther: „Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ In den zahlreichen Gemälden und Fresken siegt der personifizierte Tod über die Lebenden. Wie lässt sich das für Christen mit dem Glauben an die Auferstehung von den Toten vereinbaren?
Der Tod zwingt den Menschen zwar mitleidlos in den Reigen, doch er ist nicht die letzte Instanz, er ist lediglich ein Sendbote und ein Vollstrecker. Das christliche Heilsversprechen bleibt davon unberührt. Zwar tritt der tanzende Tod oftmals triumphierend auf, neckt und verhöhnt seine Opfer, doch er hat nicht das letzte Wort: Denn das Endgericht Gottes steht noch aus, vor dem der Einzelne sich zu verantworten hat.
Hier ist vielleicht noch anzumerken, dass der Totentanz eine weitere Botschaft für die Menschen bereithält: Vor dem Tod sind alle gleich. Der mittelalterliche Totentanz stellt nämlich alle Mitglieder der damaligen Gesellschaft in der sogenannten Ständereihe dar. Die hierarchische Reihenfolge dieser Ständeabfolge von den Vertretern der geistlichen wie der weltlichen Obrigkeit bis hin zu den einfachen Leuten dient den Totentänzen als formales Strukturelement und veranschaulicht zugleich die herrschenden Verhältnisse. Alle Standesrepräsentanten aber werden, ob Papst, Kaiser oder König, ob Handwerker oder Bauer, ohne Rücksicht auf ihre irdische Wichtigkeit und ihr gesellschaftliches Prestige vom Tod in den letzten Reigen gezwungen, es herrscht damit ein egalitäres Prinzip. Der Totentanz verfügt damit also auch über eine sozialkritische Aussage.
Dia de los muertos – Tag der Toten: Im Herbst feiern die Mexikaner, ein katholisch geprägtes Land, den Besuch der Toten aus dem Jenseits als farbenfrohes Volksfest. Die UNESCO hat den Totenkult sogar in die Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit aufgenommen. Gibt es auch in anderen Kulturen und Religionen einen Tanz der Toten?
Neben der Fiesta de Muertos kann man auch im Fernen Osten auf ähnliche Erscheinungen stoßen. Der Buddhismus, vor allem in seiner lamaistischen Ausprägung, kennt die Darstellung tanzender Skelette, der sogenannten „Citipati“. Bei ihnen handelt es sich um Geister, die auch als „Herren der Friedhöfe“ bezeichnet werden. Meistens treten sie paarweise auf. Auch szenische Darstellungen mit Skeletttänzern im Rahmen von Festen sind bekannt, etwa beim tibetischen Neujahrsfest.
Aber auch in Europa haben sich Relikte von Totentanz-Aufführungen erhalten, so etwa im Rahmen eines Passionsspiels in Verges an der Costa Brava oder in manchem Karnevalsbrauch.
Unsere heutige Gesellschaft ist von rationalem Denken geprägt. Hat der Totentanz im 21. Jh. noch eine Bedeutung für den modernen Menschen oder verkommt das tanzende Gerippe zu einem antiquierten Weltbild seiner Entstehungszeit?
Es geht beim Totentanz, neben vielem anderem, auch um die Versinnbildlichung eines Faktums, das für die meisten Menschen – ob rational geprägt oder eher nicht – schwer fassbar ist: die eigene Sterblichkeit und Endlichkeit. Das paradoxe Bild des „tanzenden Todes“ hält dem Betrachter den Spiegel vor und konfrontiert ihn mit der „Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird“ (Goethe). Vor diesem existentiellen Hintergrund wird der „Totentanz“ immer aktuell sein.
Kunsthistorisch gehört der Totentanz zu den großen ikonographischen Themen und er verfügt über ein gewaltiges Assoziationspotenzial. Seit über 600 Jahren beweist er seine anhaltende Aussagekraft. So griffen die Künstler des 20. Jahrhunderts auf die Bedeutung des Totentanzes zurück, um das grausame massenhafte Sterben auf den Schlachtfeldern des Ersten und des Zweiten Weltkrieges zu verbildlichen. Auch das 21. Jahrhundert mit seinen Herausforderungen von Gewalt und Terror wird an den Totentanz anknüpfen können, da bin ich mir sicher.
Sie haben sich bereits mehrfach mit dem tanzenden Knochenmann befasst. Was begeistert Sie persönlich am Totentanzthema und haben Sie einen Totentanz, der sie besonders fasziniert?
Einen Zugang zur makabren Thematik fand ich sicherlich durch die Musik. Franz Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ setzt sich emotional sehr berührend und ergreifend mit der Begegnung mit dem Tod auseinander.
An den Totentänzen aus der Sparte der bildenden Kunst faszinieren mich die Wandelbarkeit dieses alten Themas und gleichzeitig seine Beständigkeit durch die Jahrhunderte. Mir haben es vor allem die zeitgenössischen Umsetzungen angetan. Sehr beeindruckend finde ich den düsteren, 1986 von Jean Tinguely geschaffenen „Mengele-Totentanz“, der sich heute im Musée Tinguely in Basel befindet und auf seine ganz eigene Art auf den berühmten „Tod von Basel“ antwortet.
Ganz besonders aber mag und schätze ich die Arbeiten des in Straßburg ansässigen Künstlers Daniel Depoutot (1960), allem voran seine furiosen Totentanzzeichnungen. Aber auch seine kleinen, aus Zivilisationsmüll zusammengebauten Skelette, vital und fragil zugleich, sind großartig.
Zur Person
Barbara Weyandt ist Lehrbeauftragte für Moderne und Zeitgenössische Kunst an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. 2002 erschien von ihr das Buch „Maschinerie des Todes - Der Mengele Totentanz von Jean Tinguely: Eine moderne Danse macabre und ihr Beitrag zur Erinnerungskultur“.