Eine Frage der Haltung
Was würde Jesus sagen? Die Nachfolge Jesu hat den evangelischen Theologen Martin Niemöller zu einem demütigen und widerständigen Christen gemacht, dessen Leben nicht ohne Irrtümer war.
Zwischen Widerstand und Demut
Für einen Beitrag im Eulenfisch zum Thema „Widerstand
und Demut“ angefragt, ist es Martin Niemöller,
an dessen Person und Werk ich dieses Spannungsverhältnis
als Grundhaltung protestantischer – oder
besser christlicher – Existenz im Kirchlichen und Politischen
skizzieren will. Zwischen Widerstand und
Demut ereignet sich sein Leben. Vom U-Boot-Kommandeur
zum Pazifisten, von Hitlers persönlichem
Gefangenen zum ersten Kirchenpräsidenten der Evangelischen
Kirche in Hessen und Nassau, zwischen
seinem Geburtsort in Lippstadt als Pfarrerskind in
Westfalen 1892 und seiner letzten Wirkungsstätte in
Wiesbaden, in der er als streitbarer Geist der Friedensbewegung
zwanzig Jahre nach Beendigung seines
kirchlichen Dienstes 1984 im Alter von 92 Jahren
stirbt.
Er ist ein kantiger Typ, einer, der Zeit seines Lebens
Kante zeigt, polarisierend und parteiisch, ohne
sich parteilich vereinnahmen zu lassen. Ein Vorbild?
In gewisser Weise ja, zumindest einer, der mich nicht
loslässt. In der Brentanostraße 3 in Wiesbaden hat er
lange Jahre gelebt. Zuletzt war er Ehrenbürger der
hessischen Landeshauptstadt. Eine Bronzetafel ziert
das Tor zum Haus: „Hier wohnte Pastor D. Martin Niemöller,
Führender Pfarrer der Bekennenden Kirche, im
KZ von 1938 bis 1945, Kirchenpräsident der Evangelischen
Kirche von Hessen und Nassau von 1947 bis
1964, Präsident des Weltkirchenrates von 1961 bis
1968, Ehrenbürger der Stadt Wiesbaden“. Heute ist
das Haus Dienstsitz des Beauftragten der Evangelischen
Kirchen in Hessen am Sitz der Landesregierung.
Täglich gehe ich an dieser Bronzetafel vorbei und
wohne seit Beginn meines Dienstes als Beauftragter
seit nun schon gut 25 Jahren in dem Haus, in dem
einst Martin Niemöller zuletzt wirkte. Seine ehemalige
Studierstube im kleinen, vorgelagerten Erkertürmchen
ist nach einem Neuzuschnitt der Wohnung Teil
des Wohnzimmers geworden. Die Nachbarschaft erinnert
sich noch Jahre später und berichtet – manchmal
augenzwinkernd, manchmal mit protestantischem
Ernst: „Bei Pastor Niemöller brannte immer bis spät
in die Nacht das Licht!“, eine Mahnung der wachsamen
Nachbarn, die mich schon vor Jahren – für alle Fälle – zu einer Beleuchtungsmaßnahme des
kleinen Erkers bewogen hat. Er brauchte
wenig Schlaf, war tüchtig bis in die Nacht,
war schier unermüdlich und bis ins hohe
Alter leidenschaftlicher Verkündiger des
Evangeliums, was für ihn immer eine politische
Dimension umfasste. Und: er war ein
starker Raucher, so dass die Brentanostraße
3 bis heute auch olfaktorisch im Dunste seines
Wirkens steht. Ein Haus vergisst nicht.
Das prägt, das muss prägen!
So ist mir Niemöllers Vermächtnis wichtig
– bis heute – in meinem Dienst an der
Schnittstelle zwischen Kirche, Politik und
Gesellschaft. Ich erinnere mich noch gut an
die Feierlichkeiten anlässlich seines 20. Todestages.
Die Evangelische Kirche von Hessen
und Nassau hatte ein Banner entwerfen
lassen, das über die gesamte Hausfront aufgespannt
war. „Zuschauen und Nichtstun,
das ist die eigentliche Sünde“. Niemöller verfolgte
einen anderen Weg: Hinschauen und
Täter der Wortes werden, in allen Rückfällen,
in aller Schwachheit, in aller Vorläufigkeit,
aber eben doch entschieden. Ich weiß noch,
wie ich das Banner nach den Gedenkwochen
nicht einfach wegwerfen konnte, nachdem
es viele gesehen und gelesen hatten. In unseren
Büroräumen im Evangelischen Büro
Hessen hat es einen bleibenden Platz gefunden.
Oft passiert es, dass der eine oder die
andere im Vorbeigehen die Worte liest und
manche Diskussion im kirchlich-politischen
Tages- und Sitzungsgeschäft damit eröffnet
wird.
Verantwortlich vor Gott und in Liebe zum
Wie also kommen wir heute von der Anschauung
ins Tun? Und wie gelingt es dabei,
in der Freiheit des Geistes zu handeln,
verantwortlich vor Gott und den Menschen?
Niemöller wusste, dass Kirche immer politisch
ist – so oder so. Verantwortlich vor
Gott und in Liebe zum Menschen kommt es für ihn darauf an, in der Spannung von Widerstand
und Demut Mensch zu werden und
Kirche in der Nachfolge Jesu Christi zu sein.
Für Niemöller ist es eine schlichte Frage, die
ihn seit Kindertagen begleitet: „Was würde
Jesus dazu sagen?“ Er liest diese Frage
als kleiner Junge. Er begleitet seinen Vater,
ebenfalls Pfarrer, bei einem Krankenbesuch
in die Wohnung einfacher und frommer Leute.
Die Frage ist in Glasperlen auf Samt gestickt
und entstammt der Praxis Pietatis der
pietistischen Tradition des Protestantismus.
Er entdeckt diesen Satz und merkt ihn sich.
An ihm misst er die Irrungen und Wirrungen
seines Lebens – und die Irrungen und Wirrungen
seiner Kirche, deutlich, markant, den
Menschen, DEM Menschen zugewandt.
»Es geht ihm nicht um links
oder rechts, es geht ihm um den
Menschen«
Eine gute Frage, zu gut, um sie allein
der Erinnerung von evangelischen Niemöller-
Nostalgikern zu überlassen. Sie gehört
wach gehalten, auch ökumenisch, bei denen,
die sie (noch) kennen, und erst recht
bei denen, die sie noch nicht kennen und
die darin schlicht und ergreifend – sei es im
Religionsunterricht oder in der kirchlichen
Jugendarbeit, in der Konfirmandenstunde
oder auf dem Seminar der Firmlinge – möglicherweise
erstmalig geradezu entwaffnend
klar in ihrem christlichen Sein aufgerüttelt
und in ein vor Gott verantwortliches Leben
gerufen werden. „Was würde Jesus dazu sagen?“
– Heute, jetzt: in dieser Zeit, an diesem
Ort, in deinem Leben und in dem, wie deine
Kirche danach lebt und handelt – oder auch
nicht?
Was würde Jesus sagen? – Zur Globalisierung,
zum Klimawandel, zu atomarer Aufrüstung, zum Auseinanderfallen unserer Gemeinschaften,
zum Rechtsruck und den Fake-News? Was
würde Jesus sagen zur Verrohung der Sprache, zum
schnellen Geld, zu Kinderarmut oder der so genannten
Flüchtlingskrise? Was würde Jesus sagen zur Künstlichen
Intelligenz, zum Fachkräftemangel oder zur
Seenotrettung? Was würde er sagen zu Europa, dem
Massentourismus und dem sekündlichen Verhungern
von Kindern? Was würde er sagen zum Sonntagsschutz,
zum Dialog der Religionen und der Zukunft
des Sozialstaates? Würde er überhaupt etwas sagen
oder die Seinen nicht eher in die Nachfolge locken?
Für Martin Niemöller jedenfalls war es die Nachfolge
Jesu, die ihn hat widerständig bleiben und demütig
hat werden lassen.
Ich möchte es am Leben und Wirken Martin Niemöllers
so sagen: In Widerstand und Demut geht es
ihm um Grundhaltungen evangelischer, nein, sagen
wir christlicher oder noch besser christusgemäßer
Existenz. Es geht um Wahrhaftigkeit und deutliche
Worte und es geht zugleich immer auch darum, kompromissfähig zu bleiben und in Demut gegenüber dem
anderen Menschen und der Endlichkeit und Begrenztheit
der eigenen Macht und des eigenen Tuns für und
mit den anderen das Beste zu wollen. Wir ringen heute
wieder neu um die Mitte unserer Gesellschaft. Wir
fragen, was zusammenhält, was zusammengehört. Wir
erleben, wie Menschen faktisch an den Rand gedrängt
werden. Und wir erleben auch, wie Menschen die Ränder
für sich beanspruchen, um von dort her „Politik“
zu machen, die dem Zusammenhalt der Gesellschaft
schadet. Die Fähigkeit zum echten Kompromiss in
einer von gegenseitiger Achtung und Klarheit in der
Sache geprägten Streitkultur scheint mir die größte
demokratische Aufgabe unserer Zeit zu sein: Kompromisse
auszuhandeln und sie dann verantwortlich und gemeinsam in gegenseitigem Respekt – auch vor und
mit dem möglicherweise politisch Andersdenkenden
– zu vertreten. Wir müssen wieder lernen, Kompromisse
wertzuschätzen. Das gilt – besonders – für
Medienvertreterinnen und-vertreter. Ein echter Kompromiss
ist ein Wesensmerkmal unserer Demokratie:
Weil man gestritten hat, weil die Argumente auf dem
Tisch waren, weil man miteinander um die beste Lösung
in allem Vorläufigen und letztlich Vorletzten gerungen
hat.
»Leistet immer und überall
Widerstand, wenn es um den
Menschen geht«
In die Verantwortung gerufen
Martin Niemöller erstaunt dabei in eigentümlicher
Freiheit des Geistes. Er ist ein Gewissensmensch, der
sich in Verantwortung gerufen weiß. Man mag sich
streiten, ob man ihn zu den Gesinnungs- oder Verantwortungsethikern
zählen mag. Das wäre ihm vermutlich
egal. Schon Karl Barth schmunzelt, wenn er
über Martin Niemöller erinnert: „Ein vor nicht allzu
langer Zeit zwischen Martin Niemöller und mir geführtes
Kurzgespräch verlief so: Ich: Martin, ich wundere
mich, dass du trotz der wenigen systematischen
Theologie, die du getrieben hast, doch fast immer das
Richtige triffst! Er: Karl, ich wundere mich, dass du
trotz der vielen systematischen Theologie, die du getrieben
hast, doch fast immer das Richtige triffst!“
Herrlich!
Parteilichkeit ist ihm wichtig, in eine Partei lässt
er sich nicht stecken. Sein Gewissen ist unabhängig
und seine politische Position eigenständig und eigensinnig.
Es geht ihm nicht um links oder rechts,
es geht ihm um den Menschen. Er stehe – wie er sagt
– „meilenweit links vom Kommunismus“, dort, „wo
mein Herr und Heiland Jesus steht“: „bei den Ausgestoßenen,
den Elenden, den Hungrigen und Verhungernden
unserer Welt“. Ein Standpunkt, von dem aus
er in Verhandlung geht. Wissend, „wer den Frieden
will, der muss die Verständigung mit seinen Gegnern
wollen.“ Heute würde ich sagen: kompromissfähig
sein, ohne dabei faule Kompromisse um des eigenen
Macherhalts einzugehen.
Schon in den 50er Jahren äußert sich Martin Niemöller
geradezu prophetisch zur Globalisierung:
„Unser Planet ist klein geworden. Wir leben noch in
Nationalstaaten, aber die Grenzen hören auf, Grenzen zu sein. Nachrichten wandern von Land
zu Land und radioaktive Niederschläge
auch. Das Schicksal auf dem Globus ist ein
einziges, gemeinsames Schicksal geworden.
Es geht nicht mehr, dass eine Gruppe von
Menschen sich das eigene Leben auf Kosten
anderer sichert.“ Für ihn geht es damals um
die soziale Frage, angesichts der Gretchenfrage
unserer Generation würde er mit Greta
vermutlich ähnlich reden. Glauben heißt
für ihn, in der Nachfolge Jesu zu stehen.
Und in der Nachfolge Jesu zu stehen, heißt
zunächst, widerständig zu sein. Er sagt das
so: „Jeder ist für das, was er tut, verantwortlich.
Leistet immer und überall Widerstand,
wenn es um den Menschen geht!“
„Das ist eine späte Erkenntnis“
Das ist die eine Seite. Und die Demut die andere.
Im Blick auf das eigene Leben macht
er aus den Verstrickungen als „Kind seiner Zeit“ keinen Hehl. Demütig gesteht er, selber
schuldig geworden zu sein, auch unter der
Häme seiner Widersacher. Es ist der gekreuzigte
Christus, der ihn demütig werden lässt.
Er gesteht eine „gefühlsmäßig traditionell
antisemitische Haltung“ seiner Zeit. Er bedauert
das später sehr. „… Damals war mit
in keiner Weise klar, was mir erst im Konzentrationslager
dann wirklich überzeugend
aufgegangen ist, sehr viel später, nämlich,
dass ich mich als Christ nicht nach meinen
Sympathien oder Antipathien zu verhalten
habe, sondern dass ich in jedem Menschen,
und wenn er mir noch so unsympathisch ist,
den Menschenbruder zu sehen habe, für den
Jesus Christus an seinem Kreuz gehangen hat genauso wie für mich, was jede Ablehnung
und jedes Antiverhalten gegen eine
Gruppe von Menschen irgendeiner Rasse,
irgendeiner Religion, irgendeiner Hautfarbe
einfach ausschließt.“ Sein Interviewpartner
fragt ihn 1963: „Das ist eine späte Erkenntnis?“.
Niemöller antwortet: „Das ist eine
späte Erkenntnis“.
»Es geht ihm nicht um links
oder rechts, es geht ihm um den
Menschen«
Diese Einsicht in Demut vor der eigenen
Geschichte, der eigenen Prägung und der eigenen,
auch persönlichen Verstrickung hat
Martin Niemöller großes Ansehen verliehen.
Er hat sich darüber gefreut. Ganz menschlich.
Und er hat seiner Kirche in der Nachfolge
Jesu Christi in schwerer Zeit damit Gutes
erwiesen. Es ist vorletztlich vor den letzten
Dingen eine Frage der Haltung, so wie
es schon im Propheten Micha heißt: „Es ist
dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der
HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort
halten und Liebe üben und demütig sein vor
deinem Gott“ (Micha 6,8a).